Rotraud A. Perner
07-01-2011
Wie kann man lernen, Gottes Wort zu hören?
Reflexionen über das Innere und Äußere Hören
Inhalt
1. Zur Einleitung
-
- Vom Rhema
- Bewusstwerdung nach C. G. Jung
- Wahrnehmung bei J.-E. Berendt
2. Wirkmacht der Worte
3. Wirkmacht ohne Worte
-
- Spiegelungsprozesse
- Hören lernen
- Der Dialog nach Buber und Bohm
4. Das Wort Gottes hören
5. Literatur
1. Zur Einleitung
Im Rahmen des von mir konzipierten Masterstudiums PROvokativpädagogik an der Donau Universität Krems zitierte einer meiner Studenten, AHS- Lehrkraft für kath. Religion mit 27jähriger Berufserfahrung, in einer Seminararbeit den Mythos von der Jakobsleiter:
„Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. Er kam an einem bestimmten Ort, wo er übernachtete, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum: Er sah eine Leiter, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe. Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. Furcht überkam ihn und er sagte: Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. Jakob stand früh am Morgen auf, nahm den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, stellte ihn als Steinmal auf und goss Öl darauf. Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El (Gotteshaus). Früher hieß die Stadt Lus.“ (Gen. 28, 10 – 19)
Als ich diese Arbeit zwecks Benotung las, wurde ich an dieser Stelle zutiefst ergriffen. Auch jetzt, wo ich wage, meine persönliche Erfahrung an den Beginn meiner Überlegungen zu stellen, erfasst mich wieder dieser Schauer – ein „heilige“ Schauer.
1.1. Vom Rhema
Aus meiner mehr als vierzigjährigen psychotherapeutischen Berufserfahrung sind mir solche Reaktionen wohl vertraut – allerdings von meiner Klientel. Wenn es gelingt, das „Rhema“ zu sprechen, findet Veränderung statt. Ich suche in meiner Bibliothek, in welchem Buch ich das erste Mal diesem Symbol begegnet bin.
„Das gesprochene Wort hat eine machtvolle Schöpfungskraft,“ schreibt der koreanische christliche Prediger Paul Yonggi Cho unter dem Titel „Rhema“, „und seine richtige Anwendung ist lebenswichtig für ein siegreiches Christenleben. Dieses gesprochene Wort jedoch muß(!) eine rechte Grundlage haben, um tatsächlich wirksam zu sein. Das Prinzip, um diese für das gesprochene Wort zu entdecken, ist einer der bedeutsamsten Teile der göttlichen Wahrheit.“ (Cho 1978: 77)
Und weiter schreibt Cho: „In der griechischen Sprache gibt es zwei verschiedene Ausdrücke für ,das Wort‘, nämlich LOGOS und RHEMA. Die Welt wurde durch das Wort Gottes, den LOGOS, geschaffen. LOGOS ist das ,allgemeine Wort Gottes‘, welches sich vom 1. Buch Mose bis zur Offenbarung erstreckt; denn diese Bücher sprechen alle direkt oder indirekt über das Wort, Jesus Christus. Wenn man den Logos in der Bibel liest, kann man alle Kenntnis über Gott erhalten und auch über seine Verheißungen. Aber nur durch das lesen kann man noch keinen Glauben empfangen. Man kann wohl Verständnis über Gott bekommen; aber der Glaube wird dadurch noch nicht hervorgerufen.
Wir lesen in Römer 10, 17: , So kommt der Glaube aus der Predigt; das Predigen aber durch das Wort Gottes,‘ – Diese Schriftstelle zeigt uns, daß(!) das Material, das gebraucht wird, um Glauben aufzubauen, mehr ist, als nur das verstandesmäßige Lesen von Gottes Wort. In dem zitierten Bibelvers ist ,das Wort‘ nicht Logos, sondern Rhema. Der Glaube wird ganz speziell durch das Hören des ,Rhema‘ erzeugt.
In seinem griechischen Lexikon hat Dr. Ironside LOGOS als das ,gesprochene‘ Wort Gottes definiert, und RHEMA als das ,sprechende‘ Wort Gottes bezeichnet. Viele Gelehrte erklären dies Handeln des Rhema folgendermaßen: , Es ist der Heilige Geist, der wenige Verse der Schrift gebraucht und sie persönlich für eine bestimmte Person lebendig macht.‘ Meine Definition von RHEMA lautet: ,Rhema‘ ist ein spezielles Wort – für eine spezielle Person – in einer speziellen Situation.“ (Cho 1978: 80, 81)
In „Erfahrungsbezug und Symbolverständnis“ weist Georg Baudler mit Bezug auf Paul Tillich mehrfach darauf hin, dass die Bedeutung von Symbolen in einer „Entlastungs- und Orientierungsfunktion für die christliche Gemeinde“ zu sehen wäre (Baudler 1980: 70) und zitiert ergänzend H. Cox, dass ein Symbol „ein höchst dichtes und kompaktes Bündel von Sinngebungen“ sei, das alles sein könne, was Bedeutung auf sich konzentriere und dazu beitrage, Roherfahrungen zu ordnen oder mit Sinn zu erfüllen, beispielsweise ein Wort, ein Gegenstand, eine Person, eine Geste. (Baudler 1980: 71)
Ich lese also die Bibelstelle nochmals ganz langsam und achte, welche Sätze es sind, die diese Ergriffenheit in mir ausgelöst haben.
Ich erkenne, dass es folgende Sätze sind:
- „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks.“
- „… ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen“
- „… der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.“
Nach mehrmaliger Überprüfung entschließe ich mich, genau die Worte (fett gesetzt) zu markieren, die bei mir die zitierte Körperreaktion auslösen.
1.2. Formen des Bewusstseins nach C. G. Jung
In seiner „Psychologischen Typologie“ unterscheidet C. G. Jung zwischen extravertierten und introvertierten Menschen. Er schreibt dazu:
„Für den Extravertierten ist das Objekt a priori interessant und anziehend wie für den Introvertierten das Subjekt beziehungsweise die seelische Gegebenheit. Man kann dafür den Ausdruck ,numinaler Akzent‘ verwenden, womit formuliert werden soll, dass für den Extravertierten die positive Bedeutungs- und Wertqualität in erster Linie auf das Objekt fällt, weshalb dieses dann von vornherein in allen seelischen Vorgängen die vorherrschende, bedingende und richtunggebende Rolle spielt, wie umgekehrt für den Introvertierten das Subjekt.
Der numinale Akzent entscheidet aber nicht nur zwischen Subjekt und Objekt, sondern wählt auch jene Bewußtseinsfunktion(!) aus, deren man sich vorzugsweise bedient. Ich unterscheide vier Funktionen, nämlich Empfindung, Denken, Gefühle und Intuition. Der Empfindungsvorgang stellt im wesentlichen fest, daß(!) etwas ist, das Denken, was es bedeutet, das Gefühl, was es wert ist, und die Intuition ist Vermuten und Ahnen über das Woher und das Wohin.“ (Jung 1936: 23)
Jolande Jacobi, als Psychoanalytikerin Schülerin von C. G. Jung und eine seiner engsten Mitarbeiterinnen, präzisiert „die Psychologie und die Struktur des Bewusstseins“ (Jacobi 1971: 20): „Unter einer psychischen Funktion versteht Jung eine gewisse ,unter verschiedenen Umständen sich gleichbleibende psychische Tätigkeit, die von den jeweiligen Inhalten völlig unabhängig ist.‘ Nicht das ist also dabei entscheidend, was man z. B. denkt, sondern daß(!) man mit der Funktion des Denkens und nicht z. B. mit der des Intuierens an die Aufnahme und Verarbeitung der vom Außen oder vom Innen sich uns stellenden Inhalte herangeht. Es handelt sich hier zunächst um einen Erfassungs- und Verarbeitungsmodus psychischer Gegebenheiten, ohne Rücksicht auf ihren jeweiligen Inhalt. Denken ist daher jene Funktion, welche vermittels einer Denkarbeit, also der Erkenntnis – d. h. begrifflicher Zusammenhänge und logischer Folgerungen – zum Verstehen der Gegebenheiten der Welt und zur Anpassung an sie zu gelangen sucht.“
Jacobi erklärt danach die Funktion des Fühlens (angenehm – unangenehm, annehmen – abwehren) und die Bezeichnung von Denken und Fühlen als rational weil beide mit Wertungen arbeiten. (Jacobi 1971: 21)
Empfindung und Intuition hingegen bezeichnet Jung als irrationale Funktionen, weil sie unter Umgehung der Ratio mit bloßen Wahrnehmungen ohne Bewertung oder Sinnverleihung arbeiten. Empfindung wäre „Realität par excellence“. Die Intuition aber „nimmt ebenfalls ,wahr‘, doch weniger durch den bewussten Sinnesapparat als durch die Fähigkeit einer unbewußten(!) ,inneren Wahrnehmung‘ der Möglichkeiten, die in den Dingen liegen.“ (Jacobi 1971: 22). Meine Reaktion war offenbar eine intuitive.
1.3. Wahrnehmung bei J.-E. Berendt
„Die Entfaltung der Augenkultur – die stetig wachsende Dominanz (ein Wort, das Herrschaft bedeutet) des Sehens und des Sichtbaren – hat unser Leben entspiritualisiert“, klagt der Wissenschaftsautor Joachim-Ernst Berendt. „Sie läuft parallel mit der Entwicklung zum Rationalismus und Materialismus. Immer seltener war bewußt(!) und wurde gesagt, daß(!) unsere ,inneren Augen‘ genauso wichtig sind wie die ,äußeren‘ und daß(1) es nicht nur auf den Blick in den äußeren Raum, sondern auch auf den ,Blick nach innen‘ ankommt.“ (Berendt 1985: 48)
Viele spirituelle Traditionen – das Judentum, der Isam, Zen, viele Schamanen – verbieten es ausdrücklich, sich von Gott und vom Göttlichen ein Bild zu machen, betont Berendt, denn „Bilder und das Auge lenken zu sehr nach außen. Aber: Höre auf die göttliche Stimme. Du kannst sie in deinem Inneren hören.“ Und er bittet: „Höre nach innen! Aber nicht: Schaue nach außen. Allenfalls: Schließe die Augen und blicke nach innen.“ (Berendt 1985: 51) Dazu zitiert Berendt auch Martin Luther, der, „die Bibel beim Wort nehmend“ die Hörbotschaften des Alten und Neuen Testaments voll aufgegriffen hat: „ ,So weiß ich auch gewiß(!), daß(!) Gott will haben, man solle seine Werke hören und lesen‘ Und in einer Predigt von 1545 : ,…“ob man wohl Sein Reich nicht sihet, wie man das weltlich sihet, so höret mans dennoch … Und ist Christi Reich ein Hör-Reich, nicht ein Seh-Reich. Denn die Augen leiten und füren(!) uns nicht darin, da wir Christum finden und kennen lernen, sondern die Ohren müssen das thun … Das Reich Christi stehet allein im Gehöre …‘ “ (Berendt 1985: 51, 52)
Sehen erfordert Distanz. Was zu nah ist, sieht man ebenso wenig wie das Allzuferne. Mittels Distanz kann man Betroffenheit und Mitfühlen vermeiden; außerdem verlockt sie zum Bewerten und Beurteilen. Verurteilen. (Perner 2007 a: 147 ff) So kritisiert auch Martin Buber eine Bildungsstrategie, nach der man „die Dinge wie auf einer Leinwand geschehen sieht; es stimmt nicht mehr, wenn man sich in die dritte Dimension begibt und erfährt, was ,dahinter steckt‘.“ (Buber 1953: 52) Dieser angesprochenen dritten Dimension möchte ich die „vierte“ gemäß Paul Yonggi Cho beifügen: Glaube – nach meiner Definition: das intuitive Wissen – entsteht durch das Rhema.
Der Laryngologe und Logopädieforscher Alfred A. Tomatis erklärt Verständigungsschwierigkeiten u. a. damit, dass manche Sprachen beschränkte „Paletten“ hoher oder tiefer Töne aufweisen (Tomatis 1957/ 90: 43). Er bleibt damit im Bereich der rationalen Funktionalität (nach C. G. Jung) des äußeren Hörens. Was fehlt, ist die Erklärung, wieso ein „spezielles Wort – für eine spezielle Person – in einer speziellen Situation“ besondere Wirksamkeit besitzt. Oder gar nur ein gedachtes. Vor allem aber: wieso manche Worte, Sätze Gotteserfahrungen bewirken.
2. Wirkmacht der Worte
Sprache entsteht durch die Modulation der Atemluft durch den Sprechapparat (Kehlkopf und Stimmbänder). Im Bereich verbaler Kommunikation kann sich das Hören auf unartikulierte Laute, Ausrufe, Worte oder Sätze beziehen – oder auch nur auf die Atmung.
Mit Hilfe forcierter Atmung kann man Menschen antreiben, befehligen, hetzen, anstacheln oder aber einschüchtern, verwirren, blockieren, zum Verstummen bringen. Atmung „verkörpert“ Stimmungen aber auch Absichten, die Stimme ist gleichsam das Instrument der augenblicklichen „Seelenmusik“. (Perner 2007 a: 90) Joachim-Ernst Berendt paraphrasiert ausführlich über die Entwicklung vom Hören über das Horchen zum Gehorchen. (Berendt 1985/89: 134 ff), womöglich „auf’s Wort“; Gehorsam gilt noch immer als Tugend, kritisches („antiautoritäres“) Hinterfragen von Anordnungen oft gar als Majestätsbeleidigung.
Als Maria Theresia 1774 die allgemeine Unterrichtspflicht einführte, griff sie mangels säkularer Lehrkräfte auf ausgemusterte Militärangehörige zurück. (Perner 2010: 10) Dementsprechend orientierte sich deren Unterricht am Exerzieren. Dieses Modell straffer Folgsamkeit herrschte noch über den Zusammenbruch des Dritten Reichs hinaus, auch wenn bei manchen, die vorher stolz waren, immer ihre Pflicht und nur ihre Pflicht getan zu haben, Ernüchterung folgte und auch Suche nach weniger Befehlstönen im Unterricht; dennoch wird von Lehrkräften entgegen reformpädagogischer Empfehlungen noch immer gefordert und erwartet, das militärische Disziplinmodell durchzusetzen, besonders in Konfliktfällen.
„Natürlich besteht die Gefahr, daß(!) wir nie etwas anderes finden als das, auf was wir vorbereitet sind.“, schreibt Theodor Reik hinsichtlich der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Psychoanalytikers, welche stundenlange Anspannung und die Gefahren der vorsätzlichen Aufmerksamkeit und des sich von eigenen Erwartungen und Neigungen Leitenlassens vermeidet. (Reik 1948/ 83: 182) Diese Sonderform defokussierter Aufmerksamkeit bedeutet Entspannung und damit Offenheit gegenüber neuen, vielleicht sogar gewohnte Begrenzungen überschreitenden intuitiven Erfahrungen, wie wohl jede tiefenpsychologisch therapierende Fachperson weiß. Der deutsch-amerikanische Erziehungsfachmann Frederick Mayer prägte für diesen Zustand den Begriff der „schöpferischen Expansion“ (Mayer 1998: 51 ff), Mihaly Csikszentmihalyi spricht vom gleichen Phänomen als Flow und betont, dass eine Änderung der „Regeln“ soziale Situationen – und damit auch ihre Erfahrungen und Folgen – ändert. (Csikszentmihalyi 1990/ 2008: 221 ff).
Genau diese Offenheit für neue Erfahrungen wird aber durch den Anspruch auf Folgsamkeit und damit Befehlsworte verhindert – und soll es womöglich auch. Sicherheitshalber. Der Sicherheit der hierarchisch Übergeordneten nämlich. Kindern gegenüber sind dies Eltern, Lehrkräfte und andere Erziehungsberechtigte.
Im klassisch – traditionellen Unterricht etwa, der noch immer ausgeübt und verteidigt wird, wie ich von meiner Studentenschaft an der Donau Universität, alles Lehrkräfte mit jahrelanger Unterrichtserfahrung, weiß, soll sich die Schülerschaft nur auf das konzentrieren, was die Lehrperson vorgibt. Tun sie es nicht, gelten sie oft bereits vorschnell als schwer erziehbar.
„Was sind Kinder?“, fragt Maria Montessori im Vorwort zu „Kinder sind anders“ und bedauert: „Eine dauernde Störung für den von immer schwereren Sorgen und Beschäftigungen in Anspruch genommenen Erwachsenen. … Es gibt kaum einen Zufluchtsort, wo das Kind das Gefühl haben kann, daß(!) sein Seelenzustand Verständnis findet, wo es die ihm angemessene Betätigungen ausüben darf. Es muss brav sein, sich ruhig verhalten …“(Montessori 1950/ 90: 7) Auch Schule bietet selten diesen Ort.
Theodor Reik bezieht sich hinsichtlich dieses „Versagens“ auf den Freud-Schüler Sándor Ferenczi, wenn er schreibt: „Wenn ich etwas aufmerksam betrachten will, blockiere ich alle Sinne außer dem Sehsinn. Erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber optischen Reizen folgt von selbst.“ Und Reik kritisiert: „Wir könnten … nicht mehr von mangelnder Konzentrationsfähigkeit von Kindern sprechen, sondern von ihrer Unfähigkeit, gewisse Reize unbeachtet zu lassen. … Die Einengung des Bewusstseins könnte daher nicht etwa ein Ergebnis der Aufmerksamkeit sein, wie die Psychologie bisher annahm, sondern ihr Grund.“ (Reik 1948/ 83: 190, 191)
Sollen Kinder also nicht nur Wissensspeicher und quasi Klone ihrer Lehrkräfte werden, sondern mittels eigenständiger Erfahrungen an der Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit – und damit auch ihrer spirituellen Möglichkeiten – arbeiten dürfen, brauchen sie Raum und Zeit zur Entspannung und Sicherheit um offen sein und bleiben zu können. Der Religionsphilosoph Martin Buber nennt es den „Urhebertrieb“, weil Kinder „machen“ wollen. Er schreibt: „Das ist nicht bloße Schaulust an dem Entstehen einer Form aus einer eben noch formlos anmutenden Materie; wonach das Kind verlangt, ist der eigene Anteil an diesem Werden der Dinge; es will das Subjekt des Produktionsvorgangs sein.“ Kurz darauf präzisiert er: „Eine hohe Äußerung dieses Triebs ist die Art, wie Kinder von geistiger Leidenschaft die Sprache hervorbringen, in Wahrheit nicht als etwas Übernommenes, sondern mit den stürzenden Gewalten des Erstmaligen …“ (Buber1953/ 2005: 16). Auch Alfred Tomatis weiß um diese Schaffenslust, wenn er berichtet: „Das Kind hat seine ersten Worte erworben und sich allmählich sein ganzes Vokabular zusammengebaut, indem es mit Phonemen wie mit Noten spielte.“ (Tomatis 1957/ 90: 55)
Die Förderung der Erfahrungsfähigkeit stellt Georg Baudler zu Beginn (Baudler 1980: 75) seiner sechs Thesen zu religionspädagogischen Konsequenzen im Verfolgen des Zieles, Symbole und Mythen verstehbar du nutzbar anzubieten.
Didaktisch zählt er u. a. die Förderung der Symbolisierungsfähigkeit mittels bildnerischer und musikalischer Gestaltungsaufgaben auf, Spiele und Deuteworte; dabei betont Baudler, dass es nicht bloß um das Verständnis der universalen christlichen Symbole geht, sondern um die
„Einsicht in die Fundamente der Symbole in leiblich-seelischen Grundbefindlichkeiten des Menschen.“ Für die Nutzbarkeit von Symbolen – und ich erinnere: auch Worte sind Symbolisierungen – als Hilfe zu einem ganzheitlichen Verständnis der Wirklichkeit braucht es einen ganzheitlich-didaktischen Zugang. (Baudler 1980: 77)
Nach C. G. Jung wäre solch ein ganzheitlich-didaktischer Zugang einer, der gleichermaßen Denken und Fühlen, körperlich Empfinden und Intuieren umfasst. Damit aber Fühlen und Intuieren lebbar werden, darf es keinen Zeitdruck und räumlichen Dichtestress geben – sonst findet Verengung, auch Verengung der Wahrnehmung, statt. Denken kann man schnell, besonders wenn man trainiert ist – fühlen aber nicht, weil die Herzöffnung Zeit braucht. (Perner 2007 b: 78). Üblicherweise gewährt man sich diese Zeit – und damit Freiheit von Zeitdruck – nur für das innige Gebet.
Schon Friedrich Schleiermacher betonte, „… nie werden wir versuchen, unsere Religion aufzudringen, …“(Schleiermacher 1799/ 2000: 35). Das ist auch gar nicht nötig – wir lernen allein am Modell; es genügt, wenn Religion von irgendjemand authentisch gelebt wird und die angstfreie Offenheit gewährt ist, aus eigener Tiefe zu reagieren – die eigene Reaktion bewusst wahrzunehmen.
3. Wirkmacht ohne Worte
„Bei anderen wahrgenommene Handlungen rufen unweigerlich die Spiegelneurone des Beobachters auf den Plan“, erklärt der Freiburger Psychoneuroimmunologieprofessor Joachim Bauer. „Sie aktivieren in seinem Gehirn ein eigenes motorisches Schema, und zwar genau dasselbe, welches zuständig wäre, wenn er die beobachtete Handlung selbst ausgeführt hätte.“ Auch Sprechen ist solch eine Handlung! „Der Vorgang der Spiegelung passiert simlutan, unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken. Von der wahrgenommenen Handlung wird eine interne neuronale Kopie hergestellt, so, als vollzöge der Beobachter die Handlung selbst. Ob er sie wirklich vollzieht, bleibt ihm freigestellt.“ ( Bauer 2005: 28 ff)
3.1. Spiegelungsprozesse
Seit der Entdeckung der Spiegelnervenzellen in den 1990er Jahren des 20.Jahrhunderts (Bauer 2004: 12) erklärt sich die „Kommunikation von Unbewusst zu Unbewusst“, wie auch das „Hören mit dem dritten Ohr“ (so der Titel des Grundsatzbuches von Theodor Reik) auch naturwissenschaftlich: „Das Empfinden, Aufzeichnen und Entziffern dieser ,Nebensachen‘, die zwischen den Worten und im Schweigen sich ausdrücken, ist nicht lehrbar. Es ist jedoch bis zu einem gewissen Grad nachweisba.r“
Denn: „Es kann gezeigt werden, daß(!) der Analytiker wie sein Patient Dinge weiß, ohne zu wissen, daß(!) sie sie wissen. … Der Psychoanalytiker, der alles sofort betrachten, erforschen und es der logischen Prüfung unterwerfen will, hat oft den psychologischen Moment verfehlt, das flüchtige, nicht zu fassende Material aufzunehmen.“ (Reik 1948/ 83: 167) Und: „Eine der Eigenarten dieses dritten Ohrs ist, daß(!) es auf zwei Kanälen hört: es kann erfassen, was andere Leute nicht sagen, sondern nur fühlen und denken; es kann aber auch nach innen gerichtet werden. Es kann Stimmen aus dem Innern hören, die sonst nicht hörbar sind, weil sie vom Lärm unserer bewußten(!) Gedankenprozesse übertönt werden.“(Reik 1948/ 83: 169)
Papanca – Affengeist – heißt dieses Gedankengeplapper bei den Buddhisten, weiß der renommierte Kardiologe und Professor an der Harvard Medical School Herbert Benson. Er schreibt, dessen übermäßige Gehirnaktivität löse Muskelanspannung und diese wiederum im Gehirn Stresssignale aus, wodurch ein Teufelskreis ständiger sinnloser körperlicher Mobilisierung ohne Aussicht auf Erleichterung entstehe. (Benson 1996/ 97: 168) Demgegenüber haben seine klinischen Forschungen ergeben, dass 25 Prozent der Kranken, die regelmäßig die von ihm propagierte „Entspannungsreaktion“ – ein Wort, einen Laut, ein Gebet, einen Satz oder eine Körperbewegung über eine gewisse Zeit zu wiederholen und dabei dem Alltagsdenken keine Beachtung zu schenken (Benson 1996/97: 175) – praktizierten, weniger medizinische Symptome aufwiesen und sich auch „spiritueller“ fühlten (Benson 1996/97: 202).
Es ist die zeitunabhängige Achtsamkeit auf ein Symbol, die entspannt und öffnet und Heilung ermöglicht. Im Godly Play, wie es Jerome W. Berryman beschreibt (Berryman 2002/06 a: 22 ff), wird Raum und Zeit gegeben, ähnliche Erfahrungen wie in der Entspannungsreaktion zu machen, aber es sind auch erwachsene Begleiter dabei, die durch ihr eigenes Verhalten diesen Lebensstil „anspiegeln“. Dies erscheint mir deshalb wesentlich, weil in der gegenwärtigen Berufs- wie Privatsphäre zunehmender Beschleunigung bei gleichzeitig stetig wachsender Dominanz audiovisueller Medien – und damit Einübung emotionaler Distanzierung durch Schauen – viele Kinder und Jugendlichen Verlangsamung und Einfühlung für Schwäche halten und damit die dadurch aufkeimenden Gefühle abwehren. So schilderten Lehrkräfte, die 2007 an meinen Forschungsseminaren zu berufsbedingten Stressbelastungen (publiziert in „Mut zum Unterricht“) teilnahmen, dass die meisten Kinder überhaupt nicht mehr zuhören geschweige denn feinere Töne wie etwa Vogellaute wahrnehmen könnten (Perner 2007 c: 70).
3.2. Hören lernen
Zeit und Raum geben, damit eigenständig Erfahrung gemacht werden kann: das findet sich als Konzept im so genannten Godly Play. Da in der Arbeit mit Gleichnissen etwa die Bilder – ich interpretiere dieses Wort nicht visuell sondern als Schilderungen, daher auditiv – aus der biblischen Sprach- und Vorstellungswelt stammen, sollte sich der Erzähler diesen vielschichtigen Hintergrund klar machen, schreibt Berryman, nicht um die Kinder unmittelbar damit zu konfrontieren, sondern um im anschließenden Gespräch die Möglichkeit zu haben, differenziert auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können.
„Die Sprachbilder verknüpfen verschiedene Sachverhalte miteinander und ermöglichen damit einen neuen Blick auf die Welt und darüber hinaus einen Blick, der ohne die Bilder so nicht möglich wäre.“, erläutert Berryman, und verabschiedet sich kurz darauf von der allgegenwärtigen Dominanz der Sehworte, wenn er präzisierend schreibt: „Gemeint ist dieses genaue, verstehende und entdeckende Hören, das in den alltäglichen Vorgängen noch eine andere Dimension wahrnimmt. Deshalb wird in den Gleichnissen, auch wenn sie erhellenden Charakter haben, nicht im eigentlichen Sinn eine Lehre dargeboten, die man intellektuell nachvollziehen könnte. Die Gleichnisse sind nicht in erster Linie Lehre, sondern Dichtung.“ (Berryman 2002/06 b: 90)
Im Sinne der Spiegelungsprozesse reicht es aber nicht, wenn sich nur die Schülerschaft dem Prozess des „verstehenden und entdeckenden“ – ich möchte sagen: „inneren“ – Hörens aussetzen soll. Auch die begleitenden Erwachsenen – bedürfen der Wirkmacht, ohne Worte diese Empfangsbereitschaft zu vermitteln, so wie Maria Montessori warnt, „Der Lehrer wäre im Irrtum, der meinte, er könne sich auf seine Aufgabe ausschließlich durch Studium und Anhäufung von Wissen vorbereiten; in allererster Linie ist für ihn eine klare innere Haltung erforderlich.“(Montessori 1950/ 90: 153)
Innere Haltung verweist immer auch auf Balance. Joachim-Ernst Berendt bezeichnet das Ohr als Schaltstelle für unseren Gleichgewichtssinn: „Man begreift auch, was die Sprache – und was Martin Luther in seiner Bibelübersetzung – ,harthörig‘ nennt. So bezeichnet man ja einen Menschen, der nicht mehr recht hinhören kann, der anderen Menschen – und wohl auch seiner eigenen Stimme – nicht mehr recht zuhört und ihnen gegenüber ,hart‘ wird. Härte ist also für das Ohr eine Untugend. Mit Erstaunen registriert man, daß(!) es für das Auge offensichtlich umgekehrt ist. … Das sind also die kennzeichnenden ,Tugenden‘: die ,Härte‘ des Auges und die ,Weichheit‘ – die ,Zärtlichkeit‘ des Ohrs.“ (Berendt 1985/ 89: 331) Wie aber kann Lehrkräften diese Zärtlichkeit vermittelt werden, wenn sie doch während ihrer Ausbildung sehlastig in Bücher und auf Tafeln, Flipcharts, ja sogar bei Vorlesungen auf Bildschirme blicken?
3.3. Der Dialog nach Buber und Bohm
Martin Buber unterscheidet Beobachten und Betrachten deutlich von „Innewerden“: „Es gibt drei Arten zu unterscheiden, auf die wir einen Menschen, der vor unseren Augen lebt (…), wahrzunehmen vermögen. … Der Beobachter ist ganz darauf gespannt, den Beobachteten sich einzuprägen, ihn zu ,notieren‘. Er sucht ihn ab und zeichnet ihn auf. Und zwar ist er beflissen, so viele ,Züge‘ als möglich aufzuzeichnen. Er lauert den Zügen auf, da?(!) ihm keiner entgehen. Der Gegenstand besteht aus Zügen, und von jedem weiß man, was dahinter steckt. … Ein Gesicht ist nichts als Physiognomie, Bewegung nichts als Ausdrucksgebärde.
Der Betrachter ist überhaupt nicht gespannt. Er nimmt eine Haltung ein, die ihm den Gegenstand frei zu sehen gibt, und erwartet unbefangen, was sich ihm darbieten wird. …
Anders geht es zu, wenn mir, in einer empfänglichen Stunde meines persönlichen Leben, ein Mensch begegnet, an dem mir etwas, was ich gar nicht gegenständlich zu erfassen vermag, ,etwas sagt‘. Das heißt keineswegs: mir sagt, wie dieser Mensch sei, was in ihm vorgehe und dergleichen. Sondern: mir etwas sagt, mir etwas zuspricht, mir etwas in mein eigenes Leben hineinspricht. … Diese Wahrnehmungsweise sei Innewerden genannt.“ (Buber 1984: 150 ff) Diese Gesprächshaltung versteht unter dem „dialogischen Prinzip“ etwas ganz anderes als die „als Dialog getarnten Monologe – von Gesprächen also, in denen mehr aneinander vorbeigeredet wird, als dass sich die Gesprächspartner/innen aufeinander einlassen und einander wirklich zuhören.“, erklärt der Psychologe und Dialogprozess-Begleiter Michael Benesch in Hinblick auf die Ausbildung von Lehrkräften, denn „Wer kennt sie nicht, die endlosen und unfruchtbaren Diskussionen, bei denen oder die Gesprächspartner/innen den Zweck von Statistinnen und Statisten erfüllen, da die wenigsten Menschen bei ausführlichen Selbstgesprächen ein Gefühl der Zufriedenheit und Befriedigung empfinden können. Bei der Art und Weise, wie wir zumeist Gespräche miteinander führen, werden Argumente hin- und hergeschoben wie Ping-Pong-Bälle, und während jemand redet, überlegt man sich schon eine Entgegnung (um dem/r Anderen zu zeigen, dass er/ sie Unrecht und man selbst Recht hat) oder Bekräftigung (oft aus der Motivation heraus zu zeigen, dass man selbst diesen Gedanken ja auch schon längst entwickelt hat …). Wirklich zugehört wird kaum, es kommt zu keiner wahrhaftigen Begegnung.“ (Benesch 2009: 119) Eine Durchführungsmethode für die Praxis für den – von Buber eher theoretisch vorbereiteten – Dialog stammt von dem Physiker David Bohm und bedient sich der Kreisform, oft unter Verwendung eines Redesymbols, etwa in Form eines Talking-Sticks, um hierarchische Gepflogenheiten auszuschalten und Aufmerksamkeit auf Zeit für Zuhören und Zeit für Redendürfen voneinander deutlich abzugrenzen. „Dies stellt gerade für Lehrkräfte oftmals ein nicht einfach zu handhabendes Novum dar“, weiß Benesch, „da Unterrichtssituationen zumeist auf hierarchischen Vorannahmen beruhen: Eine/r spricht, führt aus, fragt ab, bewertet die Leistungen – die anderen hören zu und geben Antworten.“ (Benesch 2009: 119)
Ähnlich rät die Religionspädagogin Eva-Maria Bauer, wenn sie zur „Ganzheit des Lernens“ den Weg über die Leiblichkeit vorschlägt, neben Achtung und Beachtung auf den Leib vor allem den Wettbewerb um die beste Leistung auszuschalten. Sie spricht davon: „den Kopf mit dem Körper lernen lassen“ (Bauer 1997: 63). Sie fragt dazu konkret: „Was können die Kinder dabei am eigenen Körper lernen? Wie lässt sich die abstrakte Unterrichtsmaterie leibhaft verflüssigen? Welche Vorgänge können Kinder selber wahrnehmen und eigenhändig oder eigenfüßig erfahren?“ (Bauer 1997: 64)
Bauer plädiert für eine „Didaktik der Stille“ (Bauer 1997: 225 ff), denn: „Was wächst, macht keinen Lärm“ (Zitat Karlfried Graf Dürckheim / Bauer 1997: 222). Der Sitzkreis ist ihr Hilfe, den Blick aller gleichermaßen auf die Mitte zu richten und Verbindung zur Erde aufzunehmen. „Eine ,Didaktik der Stille‘ meint: Nicht so sehr über Dinge zu sprechen, sondern sie selbst zu den Kindern sprechen zu lassen.“ (Bauer 1997: 230)
4. Das Wort Gottes hören
Eine Atmosphäre des Ergriffenseins zu schaffen, wie Eva-Maria Bauer anregt, setzt aber voraus, Vertrauen in die spirituellen Antennen der Kinder zu besitzen (Bauer 1997: 230).
Antennen fangen akustische Schwingungen auf um sie hörbar zu machen. „Nirgendwo steht geschrieben, daß(!) Klänge hörbar sein müssen.“, mahnt Joachim-Ernst Berendt. „Im Gegenteil – die Sprache verwendet das Wort seit je auch für Unhörbares. Die klassische Definition des Musikinstruments (daß(!) es nämlich dazu da ist, Klänge hörbar zu machen) impliziert, daß(!) die Klänge vorher schon da sind; sie müssen eben nur hörbar gemacht werden. Jeder Musiker, der eine Partitur liest, hört – während er liest – die durch Noten bezeichnete Musik. Viele Komponisten hören, während sie komponieren, i n s i c h die Musik erklingen, noch bevor sie zum ersten Mal gespielt wird.“ (Berendt 1985: 223)
Wenn Joachim-Ernst Berendt Lorenz Onken zitiert, einen Naturforscher und Naturphilosophen des 19. Jahrhunderts, der formulierte: „Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ (Berendt 1985/ 89: 32), so präzisiere ich: die Welt, das ist auch das achtsam zugewandte, das beantwortende Du.
Zuwendung und Beantwortung verstehe ich in diesem Kontext aber nicht nur sprachlich oder körpersprachlich sondern im Sinne gedachter Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Im Dialog nach Buber und Bohm kann eingeübt werden, anderen mit dieser vollen Offenheit und Achtsamkeit zuzuhören und die eigenen Gefühle, Gedanken, Intuitionen und Reaktionsimpulse bei sich zu behalten ohne sich zurückzuhalten, zu verspannen oder gar „zu“ zu machen. Zu schweigen gibt dem anderen Raum, sich mitzuteilen. „Nichts im Universum gleicht so sehr Gott wie das Schweigen“, zitiert Berendt Meister Eckhart (1985: 145). In einem Leserbrief in den Salzburger Nachrichten schrieb vor etlichen Jahren eine, vermutlich alte, Frau, man müsse immer Raum lassen, damit Gott wirken kann.
Wenn Paul Yonggi Cho darauf hinwies, dass das Rhema ein spezielles Wort für eine spezielle Person in einer speziellen Situation wäre, dann könnte man klassisch psychoanalytisch mit dem „dritten Ohr“ auf folgende Begriffe deutend reagieren: Vater – vollbringen, was versprochen wurde – unwissentliche Anwesenheit. Assoziationen mit schmerzlichen Gefühlen zu einem realen Vater, dessen Anwesenheit und Versprechenstreue nicht wahrgenommen wurde, könnten sich dabei aufdrängen und wären zu hinterfragen.
Interpretiert man den Begriff Vater hingegen nicht als Projektionsfläche eigener frühkindlicher Geborgenheitsbedürfnisse, sondern versteht Vaterschaft als Zeugung und damit als Urgrund der eigenen Existenz , öffnet die Betroffenheit ein Tor und zeigt dahinter einen Weg zu der großen Quelle allen Seins.
Im „Kleinen Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry spricht der Fuchs die vielzitierten Worte, „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ (Saint- Exupéry 1945/ 83: 72). Joachim-Ernst Berendt betont ähnlich: „Im Moment der Einswerdung verliert das Auge seine Funktion. Ja mehr noch: Das Auge muß(!) aufhören zu schauen, damit Einswerdung möglich wird. … Das Auge braucht Distanz, um wahrnehmen zu können. Unsere anderen Sinne hingegen entfalten sich umso intensiver, je größer die Nähe ist.“ (Berendt 1985/ 89: 345)
Außer den fünf Sinnen, die in der Schule zitiert werden – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – werden heute vielfach noch andere Wahrnehmungsmöglichkeiten als Sinne bezeichnet. In der computergestützte Gehirnforschung mit ihrer Entdeckung der Spiegelneurone wurde etwa bisher darauf verzichtet, dieser den meisten Menschen unbewusste Wahrnehmung eine Kurzbezeichnung zu geben. Möglicherweise fehlt nur ein Name, um auch das Aufnehmen und Reagieren auf die Stimme Gottes als einen Sinn (in der Doppeldeutigkeit des Wortes), zu symbolisieren.
„Beten heißt nicht sich selbst reden hörn,
Beten heißt still werden
Und still sein
Und warten, bis der Betende Gott hört.“
(Sören Kierkegaard, zitiert nach Berendt 1985: 52)
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