Rotraud A. Perner
22-02-2015
Ist Masturbation Sünde?
Und wenn Nein, was ist sie dann?
Überlegungen zur Willensfreiheit
Inhaltsverzeichnis
Abstract
1. Einleitung
1.1. Die angebliche Enttabuisierung der „Selbstbefleckung“
1.2. Der Körper als Leistungsorgan
1.3. Ziele der sexuellen Selbstbestimmung
2. Das Fruchtbarkeitsgebot und seine Verletzungen
2.1. Den Samen nicht zu Tode bringen
2.2. Die Angst vor magischer Manipulation
3. Lust und Unzucht
3.1. Die Suggestivkraft der Sprache
3.2. Zucht – Unzucht – Notzucht
3.3. Das Problem mit der Hitze
3.4. Wozu „dienen“ Geschlechtsorgane?
4. Historische Positionen
4.1. Theologische Positionen
4.2. Medizinische Positionen
4.3. Soziologische Positionen
4.4. Empirisch-sexualwissenschaftliche Positionen
4.5. Sexualpädagogische Positionen
4.6. Sexualtherapeutische Positionen
5. Askese und Containing
5.1.1. Paulus
5.1.2. Augustinus
5.1.3. Freud
5.2. Verfehlte Selbstliebe
6. Vom Ich zum Du
6.1.1. Distanz und Nähe
6.1.2. Energiemangel
6.2.1. Haben oder sein
6.2.2. Personale Begegnung
6.6.3. Hingabe
7. Triebdurchbrüche und Willensfreiheit
7.1.1. Sexuelle Erinnerungsspuren
7.1.2. Medienwirkungen
7.2.1. Ausrichtung auf ein Du
7.2.2. Salutogenese
7.2.3. Willentliches Handeln
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Abstract
Diese Arbeit thematisiert aus einem multidisziplinären Blickwinkel ethische Fragen rund um eine wirksamkeitskritische Bezugnahme zu Selbststimulation und Selbstbefriedigung vor dem Hintergrund von individueller Freiheit und Verantwortung. Dabei wird – mit ausgewählten Hinweisen auf richtungsweisende Fachliteratur der Vergangenheit – primär auf die enge Definition von Selbststimulation in der Form von Masturbation und ihrer negativen Bewertung als schlechte Gewohnheit, infantiles bzw. pathologisches Verhalten oder Sünde Bezug genommen.
In diesem Zusammenhang sollen zusätzlich Erwägungen Raum finden, ob es nicht auch theologisch fundierte sinnvolle Begründungen für einen Verzicht auf diese „Methode zur Enthemmung von Angstneurosen“ bestehen.
1. Einleitung
Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen;
allein sehet zu, daß ihr durch die Freiheit
dem Fleisch nicht Raum gebet,
sondern durch die Liebe diene einer dem anderen.
Gal 5, 13
Im aufgeklärten und säkularisierten 3. Jahrtausend gilt als vorherrschende Meinung, Selbstbefriedigung wäre, von Ängsten und Schuldgefühlen befreit, heute kein Thema mehr. So schreibt auch Isolde Karle, dass mit der Zielrichtung der Rückversicherung der eigenen Körperlichkeit in der Sexualität diese von Liebe abgekoppelt wurde, was zur Anerkennung „abweichender Sexualität“ geführt habe: Masturbation bzw. Autosexualität gälten längst nicht mehr als abnorm oder widernatürlich. Sie beruft sich dabei auf den Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt: „Das Zurücktreten der Sexualmoral wird denn auch von der empirischen Sexualforschung bestätigt.“, und sie setzt dazu: „So ist der Begriff des Perversen nahezu gänzlich aus der Sexualforschung verschwunden. Homosexualität und Masturbation bzw. Autosexualität gelten längst nicht mehr als abnorm oder als widernatürlich. Bei sexuellen Vorlieben, die von der Norm abweichen, spricht man heute von Paraphilien.“ (Karle: 99)
Was bei dieser Aussage nicht berücksichtigt wird, ist das Motiv der sogenannten political correctness im wissenschaftlichen Sprachgebrauch: Bezeichnungen wie Perversion, Impotenz oder Frigidität sind seit den 1980er Jahren obsolet geworden – das aber deshalb, weil sich die so etikettierten Menschen lautstark dagegen verwehrt haben.
- Die angebliche Enttabuisierung der „Selbstbefleckung“
Der Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt (* 1938) schrieb 1996 in seinem Buch „Das Verschwinden der Sexualmoral“: „Zum liberalen Diskurs der sechziger und siebziger, der den Wegfall vieler Sexualverbote besiegelte, ist in den achtziger Jahren ein ,Equal rights‘-Diskurs, ein Selbstbestimmungsdiskurs, hinzugetreten (dieses Verb ist wichtig, wie sich noch zeigen wird). Dieser Diskurs bringt einen neuen Sexualkodex hervor, einen Kodex, der nicht alte Verbote neu installieren will, sondern den sexuellen Umgang friedlicher, kommunikativer, berechenbarer, rationaler verhandelbar, herrschaftsfreier machen oder regeln will.“ Er verweist dabei auf die feministische Debatte über sexuelle Gewalt „in all ihren Gestalten, Verkleidungen und Verdünnungen, Vergewaltigung, Pornographie, sexuelle Belästigung, Sexismus im Alltag und in den Medien, Inzest, sexueller Mißbrauch usw. usf. – Gewalt, Zwang, Machtausübung durch Sexualität werden öffentlich gemacht wie nie zuvor.“ (Schmidt, Verschwinden: 8) Dabei beklagt er die mangelnde „Entdifferenzierung“ sexueller Äußerungen von Gewalt, die nur der Abschaffung unerwünschter sexueller Aufmerksamkeit diene und neue Rituale schaffe. (Schmidt, Verschwinden: 10) Dass dabei Stressreaktionen und auch Traumata ausgelöst werden können, bedenkt er nicht. Hingegen sieht er die „allgemeine gesellschaftliche Tendenz“ der „Abschaffung der Sexualmoral und ihre Ersetzung durch eine Interaktions- oder Verhandlungsmoral, die nicht sexuelle Handlungen oder Praktiken bewertet, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens“ als Beweis für liberale Züge – oder, kontrastiere ich, unreflektiert permissive. (Sigusch: 11 f.)
Nun könnte man davon ausgehen, dass autoerotische Aktionen keiner interpersonellen wie aber auch intrapersonalen Konsensualisierung bedürfen. Dass dies nicht stimmt, zeigen sowohl seelsorgerliche wie auch psychotherapeutische Erfahrungen, vor allem auch bei Anfragen in der Eheberatung: Meist stammen sie von Männern, die sich selbst nicht verstehen, sich als schandhaft oder zu willensschwach erleben, oder es kommen die jeweiligen (heterosexuellen) Partnerpersonen, die nicht verstehen, weshalb der oder die andere trotz Intimbeziehung Hand an sich legt. (In homosexuellen Beziehungen zeigt sich mutuelle Masturbation neben Fellatio als überwiegende Form von Sexualverhalten als „normal“.)
- Der Körper als Leistungsorgan
Es liegt an den Informations- und Erziehungsmethoden, ob Kindern und Jugendlichen Blick und Griff nach dem „da unten“ verboten wird. Zumeist basieren diese Erziehungsgrundsätze auf den tradierten Leitbegriffen der römisch-katholischen Sexualmoral, die jedes praktizierte Sexualverhalten, das nicht zur Fortpflanzung dient, traditionell als „Unzucht“ klassifizierte. Allerdings berichtet der Jurist und Psychologe Volker Elis Pilgrim (* 1942), der seine unorthodoxen Publikationen gerne „Forschungsnovellen“ nennt[1], dass keiner der von ihm Befragten wusste, dass „Onanie“ eine „Konstruktion der protestantischen Kirche“ war und „der alte Onan gar nicht ,onaniert‘ hatte.“ (Pilgrim: 79) Er meint, „der Protestantismus ist lustfeindlicher als der Katholizismus“ und bezieht sich dabei offenbar auf Max Weber, wenn er schreibt, dass die Ideenfabrik des Kapitalismus die protestantische Religion sei (Pilgrim: 70), für den Lust und Arbeit Unvereinbarkeiten bedeuteten: „Sogar der menschliche Körper selbst mußte ,von einem Lustorgan zu einem Leistungsorgan‘ umgedrillt werden.“ (Pilgrim: 76)
Den Begriff „Selbstbefleckung“ gab es schon vor dieser Konstruktion, schreibt er, der Begriff „Selbstmissbrauch“ entstand erst „unter kapitalistischem Zeigefinger“, weil diese „Lust“ bedeute, „den Menschen für Momente aus dem Gebrauch des Kapitalismus herauszustehlen und für wirtschaftsfremde Handlungen zurückzuhalten.“ (Pilgrim: 80) Allerdings bedeutet auch das „verordnete“ Ziel der Fortpflanzung, den Körper als Mittel zu Zweck und nicht als Ausdruck von Selbstzwecklichkeit zu verstehen.
Die Negativsicht wurzelt demgegenüber traditionell mehr an biographischen Erfahrungen von Verdammung, Isolation und Exklusion: Während autoerotische Handlungen bei Mädchen und Frauen vielfach ignoriert wurden, weil dabei kein „Samen vergeudet“ werde „statt ihn seiner natürlichen Zweckbestimmung zuzuführen“ (Denzler: 181), wurden vergleichbare Handlungen bei Knaben und Männern mit Angstmache, Verhinderungsstrategien und Bestrafungen geahndet – und gerade dadurch oft der gegenteilige Effekt hervorgerufen, denn Masturbation kann beruhigend und entspannend wirken und damit Trost spenden, besonders wenn kein einfühlsam antwortendes menschliches Du Zuwendung bietet.[2]
- Ziele der sexuellen Selbstbestimmung
Unter Berücksichtigung komplementärmedizinischer Beobachtungen – „Energie folgt der Aufmerksamkeit“ – kann man allerdings feststellen: Wenn sich so die Aufmerksamkeit „nach unten“ wendet, verfehlt sie den Blick „auf Augenhöhe“ auf ein reagierendes Du wie auch „nach oben“ und damit auf das große allumfassende Du. Das ist aber nur ein Effekt von mehreren, weshalb in dieser Arbeit einige Fragen nach ethischen Denk- und Verhaltensalternativen gestellt werden sollen.
Die Grundfrage lautet daher, welcher Umgang mit der eigenen Sexualkraft verantwortbar erscheint und wem gegenüber.
Die Wortwahl „verantwortbar“ zielt dabei auf einen dialogischen Prozess und nicht auf eine Tribunalsituation.
Der Jungianische Psychoanalytiker Erich Neumann (1905 – 1960) unterscheidet drei Entwicklungsstadien von Ethik aus tiefenpsychologischer Sicht: die Verneinung des Negativen (beispielsweise mittels Unterdrückung und Verdrängung) (Neumann: 30), die Erkenntnis der eigenen Schattenseiten (Neumann: 57; 73) und die Integration des „Schattens“ und damit Opferung des absoluten Vollkommenheitsideals (Neumann: 91): „Da die totale Ethik den Schatten in die Verantwortung mit einbezieht, hört die Projektion dieses Teiles, die Sündenbockpsychologie, und der ethisch getarnte Ausrottungskampf gegen das Böse im Nachbarn auf und weicht einer Haltung, in der die zweifelhafte Straf- und Reinigungseinstellung der alten Ethik nicht mehr bestimmend ist.“ (Neumann: 95) (Hervorhebung RAP)
Im Kampf um die sexuelle Selbstbestimmung sind es die Ideologien, die „Unzucht“ verpönen, welche ausgerottet werden sollen – oder anders formuliert: das Fleisch soll gegenüber der Liebe doch endlich auch einmal rehabilitiert werden.
In der bioenergetischen Psychotherapie lautet demgemäß in Umkehr der Freud’schen Aussage, „Wo Es war, soll Ich werden“, ein Leitspruch „Wo Über-Ich war, soll wieder Es werden.“
2. Das Fruchtbarkeitsgebot und seine Verletzungen
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen:
Seid fruchtbar und mehret euch
und füllet die Erde und macht sie euch untertan …
Genesis 1, 28
2.1. Den Samen nicht dem Tod zuführen
Das Alte Testament kennt zwar Tabuvorstellungen, um die „befleckende Macht des Unheiligen, die stärker ist als die reinigende Macht des Heiligen“ zu kennzeichnen: die geheimnisvollen Vorgänge um Geburt, Geschlechtsleben, Krankheit und Tod, in denen dämonische Gefährdung gefürchtet wurde – besonders jedoch alles Tote. (Bauer, Religion: 68 f.) Tatsächlich dauerte es ja bis ins 19. Jahrhundert zu Ignaz Semmelweis (1818 – 1865), bis die Gefahren, die von Leichengift ausgehen, zur Kenntnis genommen wurden.
Unabhängig vom Fruchtbarkeitsgebot in Gen 1, 28 kann den Interpretationen der Sünde der sogenannten Vergeudung des männlichen Samens auch solch eine zugefügt werden, dass dieser in der Masturbation (oder anderen Formen von „Unzucht“) nicht dem Leben sondern dem Tod zugeführt wird – und Totes macht unrein.
Der emeritierte Kirchengeschichtsprofessor Georg Denzler (* 1930) weist allerdings darauf hin, dass die levitischen Reinheitsgesetze des Alten aber auch des Neuen Testaments weithin mit den Sexualdoktrinen der stoischen Philosophen übereinstimmen. (Denzler: 28 f.)
Auch wenn Unreinheit und Tabuvorstellungen eben auch durch das Geschlechtsleben erzeugt werden, sowie dem „was damit zusammenhängt (Num. 19, 11; Lev 12 usw.)“ (Bauer, Religion: 69), kennt das Alte Testament keinerlei Missachtung oder Verpönung geschlechtlicher Beziehungen, betont der langjährige Vorstand des Instituts für Ökumenische Theologie und Patrologie in Graz, Johannes B. Bauer (1927 – 2008), denn Kinderreichtum galt als höchster Segen, Kinderlosigkeit als größte Schmach und göttliche Strafe (Bauer, Religion: 71).
Dies wird umso verständlicher, wenn man daran denkt, dass in den Familien des Alten Testaments der Schwerpunkt für die Verbundenheit aller weder beim Stamm noch beim Vaterhaus und daher nicht in erster Linie auf „Bindungen des Blutes“ lag sondern auf der Vererbung und „Bewahrung des Segens“, der auf dem Stamm und in Folge über ihm auf dem Vaterhaus und von da aus auch auf dem Einzelnen ruhte – und daher umgekehrt gegen jegliche Gefährdung dieses Segens Vorkehrungen zu treffen waren (Schweitzer: 92 f.).
- Die Angst vor magischen Manipulationen
Überall in der Religionsgeschichte, schreibt J. B. Bauer, galt Zeugung als magischer Akt, bei dem dämonische Gewalten im Spiel wären (Bauer, Religion: 70). Der Innsbrucker Moraltheologe Hans Rotter (1932 – 2014) ergänzt diese altertümlichen Phantasien über den Beginn menschlichen Lebens mit dem Hinweis auf die „Homunculus-Theorie“, nach der im männlichen Sperma „schon die vollständige genetische Ausstattung eines ,Samens‘ und damit ein vollständiges, wenn auch beginnendes menschliches Leben (ein Homunculus, d. h. ein kleiner Mensch) enthalten sei. Daraus folgt: „Masturbation ist massenhafte Tötung menschlichen Lebens und somit selbstverständlich schwere Sünde.“ (Rotter: 153)
Unabhängig von dieser Sichtweise deckt die der Lehrbefugnis verlustig gegangene Essener Theologieprofessorin Ute Ranke-Heinemann (* 1927) in Bezug auf das 1987 von der Glaubenskongregation erlassene Verbot der künstlichen Besamung innerhalb der Ehe auf: „Die angeblich natürliche Form des ehelichen Aktes ist das erste Gebot geworden und auch dann geblieben, wenn sein ursprünglich von der Kirche vorgeschriebenes Ziel, nämlich die Zeugung, gar nicht erreicht werden kann und Gewinnung des Samens durch Masturbation genausogut oder unkomplizierter wäre. Aber Masturbation fällt immer noch und auch dann noch unter die widernatürlichen, weil zeugungsverhindernden schwersten Sünden, wenn sie eine Zeugung gerade ermöglichen soll.“ (Ranke-Heinemann: 206 f.)
Dem Menschen fehle die instinktive Steuerung seines Geschlechtslebens, schreibt auch der Marburger Theologe und Sozialethiker Siegfried Keil (* 1934), und bezieht sich dabei auf Zeitgebundenheit bei Säugetieren und deren Brunst- und Paarungszeiten. (Keil: 17) Was er dabei außer Acht läßt, ist die Zeitdimension des „langen Atems“, die dem Menschen eine bewusste Entscheidung über seine sexuelle Aktivität ermöglicht: der Mensch kann Stammhirnimpulse kortikal überprüfen – sofern er dieses Verhalten „erlernt“, d. h. neuronal verankert hat.
Diese Überprüfung würde auch „magischen“[3] Verlockungen entgegen wirken – seien diese Verführungskünste einer potenziellen Partnerperson oder unbedachte Autosuggestionen.
Keil postuliert: „Es ist vielmehr Aufgabe der Kultur, diese Instinktunsicherheit durch Normen zu kanalisieren und den Menschen von ihr zu entlasten.“ (Keil: 18) Dies entspräche der ersten Ethik-Stufe nach Neumann: durch Satzungen und Sitten wird Selbsterkenntnis und mögliche Eigenverantwortlichkeit ausgeblendet.
3. Lust und Unzucht
Lust erlebt der Mensch nicht karitativ.
Alle geschlechtliche Begierde hat
das Ziel der Selbstbefriedigung.
Volker Elis Pilgrim[4]
- Suggestivkraft von Sprache
Die Unspezialisiertheit der menschlichen Organausstattung bedeute, dass die Geschlechtlichkeit des Menschen „nicht eindeutig dem Ziel der Fortpflanzung und Arterhaltung zu dienen hat, sondern auch der menschlichen Lustbefriedigung und Daseinsüberhöhung“, schreibt Siegfried Keil, und ergänzt, dass beide Ziele nebeneinander und voneinander getrennt möglich sind. Das erhöhe aber die „stete Gefahr der Allgeschlechtlichkeit“. (Keil: 18)
Lust habe in unserem Sprachgebrauch oft noch einen negativen Beigeschmack, weiß auch Hans Rotter, denn man denke dabei an Egoismus und Unbeherrschtheit und an Erfahrungen der Lust, die mit Schuldbewusstsein verbunden waren. (Rotter: 158)
Diese Negativbewertungen kann man auch in der Wortwahl erkennen: wenn beispielsweise Siegfried Keil 1966 – zu einer Zeit, in der hormonelle Antikonzeptiva bereits verschrieben wurden – schreibt, „Außerdem ist neben die Sexualpraxis des vollen Geschlechtsverkehrs (Koitus) eine Fülle von Ersatzbefriedigungen zwischengeschlechtlicher (Petting), gleichgeschlechtlicher (Homosexualität) oder selbstbezogener (Masturbation) Sexualität getreten, die in diesem Ausmaß neu sind“ (Keil: 126) (Hervorhebungen RAP), so weiß er offensichtlich nicht, welche Praktiken immer schon zur Empfängnisverhütung üblich waren, auch dass der Begriff Petting Handlungen betrifft und nicht die ausführenden Personen, verwechselt sexuelle Handlungen mit sexueller Orientierung und ignoriert das Phänomen der Gruppenmasturbation (nicht nur bei Jugendlichen, wie beispielsweise bei Bukake) oder, was der Hannoveraner Sozialpädagogikprofessor Helmut Kentler (1928 – 2008) anspricht: „Auch unter glücklich verheirateten Eheleuten kommt Selbstbefriedigung vor – als Ausgleich, wenn der eine Partner einmal weniger sexuell bedürftig ist als der andere, bei zeitweiliger Trennung der Partner durch Reisen oder Krankheit“ (Kentler, Eltern: 151) (Hervorhebung RAP), aber auch die Masturbation im Ehebett – mit oder ohne Zustimmung des Anderen, oder, wie Freud schon wusste: „Eine Frau, mit welcher ihr Mann Koitus reservatus ohne Rücksicht auf ihre Befriedigung übt, sieht sich genötigt, die peinliche Erregung nach solch einem Akt durch Masturbation zu beenden.“[5]
Als christliche Wurzeln für die grundsätzliche Negativbewertung praktizierter Sexualität könne dabei die Fixierung aufs Jenseits angesehen werden, denn in der versinkenden römischen Kultur richtete sich das Leben der Menschen nur auf das Diesseitige und den nackten Sinnengenuss, schreibt der Theologe Johannes Thiele (* 1954); durch die Vermittlung eines neuen geistigen Ideals wäre es jedoch gelungen, die Menschen von ihrer Triebhaftigkeit abzubringen (Thiele: 86). Die Befreiung zur Menschlichkeit, mit der das Christentum Sklaven die Rechte und menschliche Würde eines Mitglieds der römischen Gesellschaft zusprach, befürwortete die Botschaft des Evangeliums als glaubwürdig und verlieh ihr Kraft – auch in der Verbindung mit dem ethischen Anspruch moralischer Reinheit (Thiele: 87).
Es liegt an der Aussagekraft von Worten, ob sie geeignet sind, alternative Verhaltensweisen nahezubringen und damit Umdenken zu bewirken.
- Zucht – Notzucht – Unzucht
Wenn Sexualforscher/innen – darunter auch ich – sich Ende des 20. Jahrhunderts (erfolgreich) dafür eingesetzt haben, den alten Begriff Notzucht aus dem österreichischen Strafgesetz zu eliminieren und durch das Wort Vergewaltigung zu ersetzen, ging es vor allem darum, diesen Sachverhalt aus dem Blickwinkel der Zucht und damit des Fortpflanzungsgedankens zu entfernen[6].
Der Begriff von Zucht umfasst nicht nur das Säen und Pflegen von Samen bis zur Erreichung des gewünschten Zieles, sondern auch die dazu dienlichen Methoden, vor allem die der „Disziplin“. So findet sich das Wort „Aufzucht“ auch immer wieder in sexualethischen Abhandlungen (vgl. Schellong: 49).
Notzucht hingegen bedeutet wörtlich gewaltsame Schwängerung. Um welche Gewalt es sich dabei handelt, wurde lange Zeit nicht hinterfragt. So kritisierte der Münchner Soziologieprofessor und Jurist Kurt Weis (* 1940) bereits 1986 das tendenziell negative Bild der vergewaltigten Frau an Hand von Zitaten, „die wissenschaftlich tradierter männlicher Menschenkenntnis entsprechen“ und das „Ergebnis einer psychologischen Untersuchung von Notzuchtstätern“ seien. (Weis: 234) Als weiteren Beweis der Abwiegelung von Gewalt gegen Frauen bringt er zwei Textpassagen aus einem kriminalsoziologischen Lehrbuch aus 1933. Dort wird festgestellt, „die Notzucht ,…hinterläßt in ihrer gesunden Lebensäußerung bei dem widerwärtigen Schmutz der Unzuchts- und allgemein der Ausbeuter- und Spannergruppen wenigstens einen Lichtblick in eine gesunde Zukunft“ und: „Der durch solch ein Delikt entstehende Schaden ist oft gering; vielfach wird aus der befürchteten Sozialschädlichkeit deren Gegenteil: Die geschlechtliche Vereinigung junger kraftstrotzender Menschen im heißen Verlangen des Augenblicks nach unmittelbar vorausgegangenen Kampf erzeugt erfahrungsgemäß vielfach gesunde, kräftige Kinder, durch die unser Volkstum wertvoll bereichert wird.‘“ (Weis: 235) (Hervorhebungen RAP)
- Das Problem mit der „Hitze“
Das „heiße Verlangen“ erinnert an das „Brennen“ – die „Brunst“ in 1 Kor 7, 9 – das als nicht steuerbar erklärt wird.[7] So formuliert auch Isolde Karle: „Sexuelles Empfinden ist viel zu komplex, um es willentlich über Entscheidung steuern oder herbeiführen zu können.“ (Karle: 132). Diese Behauptung widerspricht allerdings denjenigen psychotherapeutischen Erfahrungen, die auf neurobiologisch fundierten Suggestivtechniken beruhen (mehr dazu in Kapitel 7).
Sprache besitzt Suggestivkraft. Es liegt also an der ihr verliehenen Autorität, ob man den Worten einer bestimmten Person Glauben schenkt oder nicht – oder ob man im Sinne des „sapere aude“ wagt, Alternativen anzudenken.
So schreibt etwa Immanuel Kant (1724 – 1804) im Zweiten Teil, Ethische Elementarlehre, Zweiter Artikel, § 7 der „Metaphysik der Sitten“: „So wie die Liebe zum Leben von der Natur zur Erhaltung der Person, so ist die Liebe zum Geschlecht von ihr zur Erhaltung der Art bestimmt; d. i. eine jede von beiden ist Naturzweck, unter welchem man diejenige Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung versteht, in welcher jene, auch ohne ihr dazu einen Verstand beizulegen, diese doch nach der Analogie mit einem solchen, also gleichsam absichtlich Menschen hervorbringend gedacht wird. Es frägt sich nun, ob der Gebrauch des letzteren Vermögens, in Ansehung der Person selbst, die es ausübt, unter einem einschränkenden Pflichtgesetz stehe, oder ob diese, auch ohne jenen Zweck zu beabsichtigen, den Gebrauch ihrer Geschlechtseigenschaften der bloßen thierischen Lust zu widmen befugt sei, ohne damit einer Pflicht gegen sich selbst zuwider zu handeln.“ Kant überlegt, ob „in Ansehung dieses Genusses eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst obwalte, deren Übertretung eine Schändung (nicht bloß Abwürdigung) der Menschheit in seiner eigenen Person sei. Der Trieb zu jenem wird Fleischeslust (auch Wohllust schlechthin) genannt. Das Laster, welches dadurch erzeugt wird, heißt Unkeuschheit, die Tugend aber, in Ansehung dieser sinnlichen Antriebe, wird Keuschheit genannt, die nur nun hier als Pflicht des Menschen gegen sich selbst vorgestellt werden soll. Unnatürlich heißt eine Wohllust, wenn der Mensch dazu, nicht durch den wirklichen Gegenstand, sondern durch die Einbildung von demselben, also zweckwidrig, ihn sich selbst schaffend, gereizt wird. Denn sie bewirkt alsdann eine Begierde wider den Zweck der Natur, und zwar einen noch wichtigeren, als selbst der der Liebe zum Leben ist, weil dieser nur auf Erhaltung des Individuums, jener aber auf die ganze Species abzielt.“ (Kant: 510 f.)
So findet sich auch bei dem römisch-katholischen Ordensgeistlichen und Professor für Moraltheologie Karl-Heinz Peschke (* 1932) die kühne Formulierung: „Der Drang zur geschlechtlichen Vereinigung und die Geschlechtsorgane selbst existierten nicht ohne die Notwendigkeit der Fortpflanzung.“ (Peschke: 21)
- Wozu „dienen“ Geschlechtsorgane?
In diesem Sinne ist wohl auch Sigmund Freud zu verstehen, wenn er nur die „Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris auf den Scheideneingang“ als „gelungen“ bezeichnet. (Freud, Abhandlungen: 125) Die heutige Sexualwissenschaft weiß allerdings auch erst seit wenigen Jahren, dass der Klitorisschaft sich bis weit in den Unterbauch der Frau fortsetzt und es daher ziemlich egal ist, auf welche Weise seine Stimulation[8] den Spannungsaufbau anregt, der die orgastische Entladung ermöglicht.
Weniger diesem „naturalistischen Fehlschluss“ verbunden erklärt Helmut Kentler, Selbstbefriedigung rege dazu an, den Bau und die Empfindungen des eigenen Körpers zu untersuchen und formuliert: „Sie dient also der Selbsterkenntnis.“, denn: „Bisher haben die Kinder kaum zwischen Ausscheidungs- und Lustfunktionen ihrer Sexualorgane unterschieden.“ Und, „Durch die Selbstbefriedigung werden unsere Kinder also eigentlich erst zu Sexualwesen.“, und er bezieht sich auf die psychoanalytische Phasenlehre der psychosexuellen Entwicklung: „Eine gesteigerte, direkt auf die Sexualorgane bezogene Aktivität ist darum nötig, weil die bisherigen Entwicklungsabschnitte endgültig überwunden werden müssen: Die Empfindsamkeit des Mundes und des Afters, schließlich die Empfindungsfähigkeit des gesamten Körpers soll eingeordnet werden in die sexuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Geschlechtsorgane.“ (Kentler, Eltern: 120 f.) Bei Sigmund Freud findet man dazu passend +die Anmerkung: „Echte masturbatorische Reizung der Afterzone mit Hilfe des Fingers[9] durch zentral bedingtes oder peripherisches Jucken hervorgerufen, ist bei älteren Kindern[10] keineswegs selten.“ (Freud, Abhandlungen: 93)
Im Endeffekt liegt es am „operationalen“ Wissen und Können, also an den individuell erlernten Methoden von Selbststeuerung und ihrer Bewertung, ob jemand in einer einzigen Körper- wie Geisteshaltung verharrt – oder ob er bzw. sie sich weiter zu entwickeln wagt.
Wenn man Leben im Sinne einer spontanen dialektischen Zyklik betrachtet, braucht es Sättigungsgrade und Unlustgefühle, um zur nächsten Reifungsstufe voran zu schreiten.
Wenn man die Möglichkeiten des Sexuallebens aus einem ethischen Blickwinkel betrachtet – und dabei verstehe ich Ethik nicht wie der römisch-katholische Paderborner Professor für Moraltheologie Bernhard Fraling (1929 – 2013) als Nachdenken, „wie und unter welchen Voraussetzungen menschliches Leben glücken kann“ (Fraling: 40) sondern als Übernahme von Verantwortung für mögliche Schädigung, was ich wiederum als Tugend der Achtsamkeit oder praktizierten Nächstenliebe verstehe – und dazu auch die Beinhaltung des Begriffes „Friede“ im Wort Befriedigung reflektiert, ergibt sich die Notwendigkeit, das eigene Verhalten mehrsperspektivisch im psychoanalytischen Sinn „topisch“ (d. h. nach Tiefenschichten) zu hinterfragen – ganz im Sinn des Bamberger Soziologieprofessors Gerhard Schulze (* 1944), wenn er in seinem Buch über die Sünde schreibt: „Es wird Zeit für eine neue Selbstbesinnung modernen Denkens.“ (Schulze: 13)
4. Historische Positionen
Manche Menschen
– zu ihnen gehört auch Dr. Schreber –
halten ihre sittlichen Ideale für Naturgesetze.
Morton Schatzman[11]
4.1. Theologische Positionen
In der Antike habe Selbstbefriedigung zuweilen ihren Platz in der Kosmogonie[12] oder im Ritual gehabt, schreibt der belgische Historiker Jos van Ussel (1918 – 1976), aber im Alten und im Neuen Testament fände sich keine einzige Stelle, in der eine Andeutung über Masturbation enthalten sei. Nur in Leviticus 15, 16 – 17 wird Samenerguss ohne Kopulation thematisiert, wofür die gleichen Reinigungsriten vorgesehen sind wie für andere Exkrete des Körpers. Van Ussel schließt daraus, dass Masturbation eher milde beurteilt oder auch gar nicht wahrgenommen wurde, vielleicht sogar kaum existierte. (Ussel: 133)
Erst die nachbiblische jüdische Gesetzessammlung des Talmud enthält indirekt Äußerungen zur Selbstbefriedigung, berichtet Volker Elis Pilgrim, auch sollten Genitalien nicht betrachtet werden; Pilgrim klassifiziert dies als „Überlebensregeln für die Gruppe“. In der katholischen Kirche wäre Selbstbefriedigung nie im Zentrum der Triebverfolgungen gestanden, findet der Autor, wie aus den Buß- und Bußübungsbüchern deutlich würde im Gegensatz zu streng bestrafter Homosexualität (sieben Jahre Kerker), Hurerei (drei Jahre) oder Tierkontakten (ein Jahr), „Auto-Sex aber nur gescholten und – wie sich aus den Strafen ergibt – wohlwollend behandelt (,willentliche Pollutionen: Psalmensingen und einen Tag Fasten; erotische Phantasien: zwei bis drei Tage Buße tun‘)“. Zu allen Formen der Sexualität „Nein“, daher auch zur Selbstbefriedigung, zu sagen, fände sich die ersten Male in den Erklärungen der Päpste Leo IX. 1054, Alexander VII. 1665 und Innozenz XI. 1679. Erst bei den nachreformatorischen Puritanern und dem Prediger Richard Capel sowie bei Calvin begänne die Konstruktion der „Unzucht des Menschen mit sich selbst“. (Pilgrim: 32 ff.)
Martin Luther hingegen formuliert: „Wo unwillig Keuschheit ist, da lässt die Natur ihr Werk nicht. Dass ich grob heraus sage um der elenden Not willen: fließt es nicht in das Fleisch, so fliesst es in’s Hemd.“[13]
Van Ussel schreibt, die heutige (1970) Terminologie stamme fast restlos aus dem 18. Jahrhundert und spiegle die damaligen biologischen Ansichten wieder. (Ussel: 133) So erklärte Christian Gotthilf Salzmann (1744 – 1811), der von der (evang.) Theologie zur Pädagogik gewechselt war und dann im Philantropinum zu Dessau als Liturg wirkte, 1785 Masturbation als Sünde (Ussel: 135; 181). Zwar findet man in den Beicht- und Pönitenzbüchern, in Katechismen und moraltheologischen Werken ausführliche Sündenlisten und die Aufzählung der sexuellen Sünden seien besonders lang, schreibt van Ussel, die Masturbation werde aber gar nicht oder kaum erwähnt. Auch Thomas von Aquin spräche mit keinem Wort davon, „Trotzdem dürfe nach seiner Ansicht der Samenerguß nur stattfinden ,zum Zwecke der Fortpflanzung, denn dazu dient der Koitus‘. ,Jeder andere freiwillige Samenerguß ist nicht erlaubt.‘“ Van Ussel betont an dieser Stelle auch, dass aus der Literatur zur Bekämpfung der Masturbation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert deutlich zu ersehen sei, dass die Autoren der Bevölkerung erst klarmachen mussten, was als Selbstbefriedigung anzusehen sei, und er erinnert daher: „Es ist nicht völlig klar, ob wir nach dem heutigen Moralsystem auf Sündhaftigkeit der Masturbation schließen dürfen, nur weil viele Kirchenväter den Geschlechtsakt ohne Fortpflanzungsabsicht der Prostitution gleichgestellt haben oder weil ihnen die Antikonzeption als Ehebruch oder Mord galt.“ (Ussel: 134)
- Medizinische Positionen
In seiner Abhandlung über die „seltsamen Erfahrungen“ des Gerichtspräsidenten Daniel Paul Schreber (1842 – 1911), derentwegen er für verrückt gehalten wurde, in Verbindung mit den Erziehungspraktiken seines Vaters, des zu seiner Zeit in Fragen der „Aufzucht“ von Kindern führenden Arztes und Pädagogen Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808 – 1861), zeigte der Psychiater Morton Schatzman auf, dass sich der Vater dabei „auf dieselben Grundprinzipien der ,Abrichtung‘ von Kindern, wie sie unter religiösen und weltlichen totalitären Regimen gelten“ stützte. (Schatzman: 6 f.) So empfahl Vater Schreber: „Unterdrücke im Kinde alles, halte von ihm fern alles, was es sich nicht aneignen soll; leite es aber beharrlich hin auf alles, was es sich angewöhnen soll. [ – ] Dir Gewohnheit ist nur die notwendige Vorbedingung, um die entsprechende Richtung der Selbstbestimmbarkeit des freien Willens … zu ermöglichen und zu erleichtern. Denn läßt man entgegengesetzten Falles die falsch gerichtete Gewohnheit festwurzeln, so wird das Kind leicht der Gefahr ausgesetzt, trotz der späteren Erkenntnis des Besseren, dann doch nicht mehr die Kraft zu haben, die falsch gerichtete Gewohnheit niederzukämpfen (S. 60)“ (Schatzman: 25, Hervorhebungen und fehlender Schlusspunkt im Original). Schatzman resümiert Vater Schrebers „merkwürdige Psycho-Logik“: „Um dem Kind zur Selbstbestimmung zu verhelfen, müssen die Eltern zuerst seinen ,Eigenwillen‘ brechen. Er glaubt nicht daran, daß das Kind von sich aus lernen könnte, wann und wie es – ohne gezwungen zu werden – sein Verhalten reguliert.“ (Schatzman: 26)
Damit „alle unedlen und unmoralischen als auch niederdrückenden Leidenschaften … immer sofort durch Ablenkung oder direktes Niederkämpfen im Keime erstickt werden“, empfiehlt Vater Schreber als Heilmittel und Kur 16 Übungen ermüdender Muskeltätigkeiten und kalte (10 – 13 ° R) Sitzbäder und Wasserklistiere bzw. Kaltwaschungen, auch als „Verhütung der vorzeitigen Mannbarkeitsentwicklung – jener Folge eines schlaffen, weichlichen und üppigen Lebens.“ Schatzman kommentiert dazu: „Wie bizzar [!] doch das Verhalten des Vaters ist! Ich frage mich, von welchen Vorstellungen er seine Phantasie reinigen wollte und wo oder wie er lernte, daß Klistiere diese Reinigung bewirken konnten. Mit solchen Methoden verschreibt sich Dr. Schreber der Magie, um seine Ängste vor Pollutionen[14] zu besänftigen.“, und er weist darauf hin, dass manche Menschen Zeremonien vollführen, um innere Ängste abzuwehren. „Ihre Rituale sind geeignet, bei anderen, besonders wenn sie diese als Kinder erleben und mit ihnen aufwachsen, Ängste auszulösen.“ (Schatzman: 74 ff.)
Schatzman berichtet aber auch ergänzend: „Die Liste der Ärzte, nach deren Meinung Masturbation seelische, geistige und körperliche Schäden verursache, nimmt sich wie ein Who is Who der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts aus.“ Unter anderem wurden als „Folgen“ diagnostiziert: Besessenheit, Zwangshandlungen, Ejaculatio praecox, zu starke oder zu schwache Durchblutung des Gehirns, Rückenmarksschwindsucht, Verlust der Sehkraft, Epilepsie, Asthma, Tuberkulose, Krebs, Wachstumshemmung, Marasmus und Tod. Darüber hinaus glaubte man aber auch, dass durch Masturbation die Lebenskraft künftiger Kinder gefährdet würde. [15]
Einige der an dieser Stelle zusammengefassten „angeblichen Folgen der ,Selbstbefleckung‘“ scheinen aber durchaus der schwarzpädagogischen Angstmache zuzuzählen zu sein wie beispielsweise Verlust der Selbstachtung oder Gedächtnisschwund (von mir als Verleugnung oder Verdrängung verstanden[16]) oder auch Abneigung gegen Coitus; diese Einschätzung basiert auf gegenwärtigen Erfahrungen aus Psychotherapien. Was allerdings schockiert, sind die damals üblichen „Heil“-Methoden, wie beispielsweise Kastration, Beschneidung (auch Klitoridektomie bei Mädchen), abschließbare Keuschheitsgürtel, Elektrisieren des Rückgrats und der Genitalien, Fesselung oder Einbindung der Hände in Säcke, aber auch Einziehen von Metallspangen oder Drähten durch die Vorhaut oder Labia majora oder Durchtrennung der Dorsalnerven des Penis. (Schatzman: 101 ff.) So konstatierte der englischen Biologe und Schriftsteller Alex Comfort, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „einen bemerkenswerten Aufschwung dessen gab, was man nur als Comic-Heft-Sadismus bezeichnen kann: „Wenn es um 1880 jemandem aus unbewußten Gründen gefiel, sexuell aktive Kinder oder Geisteskranke – die am leichtesten verfügbaren Gruppen von wehrlosen Gefangenen – zu fesseln, in Ketten zu schlagen, zu infibulieren, sie mit grotesken Apparaten zu schmücken, sie in Kunststoff, Leder oder Gummi zu bandagieren, sie zu ängstigen oder sogar zu kastrieren, ihnen die Genitalien zu verätzen und abzutöten, konnte [!] humane und anerkannte medizinische Rechtfertigungsgründe finden, um dies guten Gewissens zu tun.“ (Schatzman: 103)
1917 schrieb der sozialistisch gesinnte Schweizer Psychiater und Neuroanatom August Forel (1848 – 1931) in seinem in der NS-Zeit verbotenen Grundsatzwerk „Die sexuelle Frage“ – wie es der damaligen Sicht entsprach – als Nachtrag zu seinem Bericht über nächtliche „Pollutionen“: „Aber auch im Wachzustand kann die durch die unbefriedigte Libido sexualis hervorgerufene Aufregung so groß werden, dass der Knabe zu mechanischer Reibungen seines Gliedes Zuflucht nimmt, die ihm Wollustempfindungen verursachen. Hat er dieses entdeckt, so wiederholt er es und bewirkt dann ebenfalls Samenentleerungen. Auf diese Weise entsteht die üble Gewohnheit der Onanie (Masturbation oder Selbstbefleckung), die zugleich gemütlich deprimierend und körperlich erschöpfend wirkt, weil der Reiz durch die Wiederholung immer unwiderstehlicher und seine Befriedigung durch keine äußeren oder gesellschaftlichen Schwanken und durch keinen anderen Willen als den eigenen gehemmt wird.“ (Forel: 84, Hervorhebung RAP)
Forel unterscheidet unter dem Titel „Sexuelle Pathologie“ zwischen erblichen oder angeborenen sexuellen „Abnormitäten“ und denen, „die – angeblich durch lasterhaften Wandel – erworben werden.“ (Forel: 244), wobei er die Aufmerksamkeit auch auf Suggestibilität und das „Milieu“ hinlenkt. Deswegen dürfe man Lasterhaftigkeit nicht als „Ausfluss seines bösen und schlechten freien Willens, sondern als die unglückliche und verderbliche Folge der Aufzüchtung schlechter Anlagen durch schlechte Sitten der umgebenden Welt“ auffassen, und er ätzt: „Die ,sittliche Entrüstung‘ über den Lasterhaften erinnert mich daher immer an den Zorn des Kindes, welches den Ofen schlägt, an dem es sich verbrannt hat.“ (Forel: 245 f. )
- Soziologische Positionen
„Die Sexualwissenschaftler des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich ausgiebig und voller Sorge mit der sparsamen Bewirtschaftung der Samenflüssigkeit des Mannes.“, weiß Gunter Schmidt, und warnten vor Verschwendung und Vergeudung durch Onanie und zu häufigen oder „unziemlichen“ Geschlechtsverkehr. In Zeiten knapper Güter und starker Konsumrestriktionen wird die Samenflüssigkeit zur Metapher für Geld. (Schmidt, Der große: 9, Hervorhebung RAP) und verweist damit darauf, wie sich Leitbilder aus der Wirtschaftspolitik auch in der Sexualökonomie widerspiegeln. In einer hochindustrialisierten Überflussgesellschaft, die auf maximalen Konsum angewiesen ist, fehlten hingegen solche Sparüberlegungen: die scheinbar nicht enden wollende Orgasmusfähigkeit der Frau stünde dann als Metapher Konsummöglichkeit ohne Ende. (Schmidt, Der große: 10)
Die Geschichte der Masturbationsbekämpfung lasse sich wie folgt umreißen, schreibt Jos van Ussel: um 1710 setzte sie in England ein, 25 Jahre später erschienen die ersten deutschen Publikationen, im französischen Sprachgebiet begannen die Kampagnen um 1760; sie griff dann später auf Deutschland über und wurde im 19. Jahrhundert von Deutschland wieder auf Frankreich übertragen; sie begann in ärztlichen Kreisen, dann folgten die Erzieher und zuletzt die Moraltheologen. 1748 erschien ein katholisches Werk, und erst 1784 regte Fr. Hufnagel[17] an, Selbstbefriedigung im Katechismusunterricht anzusprechen. (Van Ussel: 140) Es stellt sich die Frage, wie weit diese plötzliche Thematisierung mit der beginnenden Industrialisierung zusammenhängt, die andere – diszipliniertere – Arbeitnehmer benötigte als eine bäuerliche Arbeitswelt.
Die besondere Ächtung und Pönalisierung der Selbstbefriedigung in der NS-Zeit wird abgesehen von persönlichen Animositäten und Strategien einer wachstumsorientierten Bevölkerungspolitik mit besonderem Bedarf an Soldaten und Verwaltungsbeamten für die annektierten Länder und gebärfreudigen Frauen – egal ob verheiratet oder nicht – zugeschrieben. Aber schon bei Sigmund Freud findet sich (1898) die Aussage in Zusammenhang einer nötigen Neurasthenie-Prophylaxe durch Verhütung von Masturbation bei beiden Geschlechtern, dass man geradezu ein „Volksinteresse“ daran erkenne, „daß die Männer mit voller Potenz in den Sexualverkehr eintreten.“ (Freud, Ätiologie: 29)
Bei V. E. Pilgrim findet sich dazu passend folgende Zitierung des Psychoanalytikers Tausk aus „Die Onanie – 14 Beiträge zu einer Diskussion der ,Wiener Psychoanalytischen Vereinigung‘. Wiesbaden 1912“: „Für die menschliche Gesellschaft gibt die Onanie drei bedeutende Destruktionsfaktoren ab. Durch die Fixierung des Autoerotismus und durch die Schädigung der Selbstachtung mindert sie die Werbekraft des Mannes. Durch die Perpetuierung des psychischen Infantilismus untergräbt sie die souveräne Stellung des Mannes im öffentlichen Leben und in der Familie. Durch die von ihr bewirkte Schädigung der Potenz, die als psychologische Folge zu früh und zu oft geübter Masturbation eintritt … verarmt sie das Liebesleben und schafft den Frauen elementare Enttäuschungen. Man kann mit viel Wahrscheinlichkeit die Onanie der Männer für einen bedeutenden Faktor in der Entstehung der Frauenemanzipation erklären.“ (Pilgrim: 96 f., Hervorhebung RAP)
Pilgrim kommentiert dies als Destruktion der bürgerlichen Gesellschaft durch den Zerfall der männlichen Rolle. „Die psychoanalytischen Ideologen hatten bei ihren Schriften den Mann im Auge: Liebe = Kampf, Überwindung, Eroberung, Untertanmachen von Objekten, das heißt von Frauen und Kindern, spiegelbildlich für sein kapitalistisches Vorgehen als Untertanmachen von Arbeitern und Produktionsmitteln. Der Mann durfte das aggressive Moment seines patriarchalischen Charakters nicht verlieren.“ (Pilgrim: 97)
Gegenwärtig scheint allerdings die Großzahl aller Menschen vor allem als Konsumenten (und Produzenten von künftigen Sozialversicherungsbeitragszahlern) fokussiert zu werden – was Versuche, sie zu hypersexualisieren und dazu noch immer neue Hilfsmittel anzubieten, erklären könnte.
- Empirisch-sexualwissenschaftliche Positionen
Als Alfred C. Kinsey die Ergebnisse der umfangreichen, zwischen 1938 und 1953 mit vielen tausend Männer und Frauen über ihr Sexualverhalten gehaltenen, Interviews veröffentlichte, wurde erstmals offensichtlich, wie verbreitet Selbstbefriedigung war und brachte einen „Ruck kollektiver Entlastung“.[18] Damit wurde es zwar erleichtert, Verbote aufzuheben – gleichzeitig begannen neue Gebote zu entstehen, nämlich festzusetzen, was normal ist und darauf basierend sexuelle Gesundheit zu definieren. (Schmidt, Der große: 14)
Clellan S. Ford und Frank A. Beach brachten in ihrer übernationalen Studie über das Sexualverhalten bei Mensch und Tier 1951 zur Kenntnis, dass einige Frauen und Männer erklärten, „sie seien in der Lage, durch sexuelles Phantasieren eine vollständige Klimax bei sich herbeizuführen“ (Ford/ Beach: 175), was mit meiner sexualtherapeutischen Erfahrung übereinstimmt, dass es von der „Kunst“ abhängt, Gedächtnisspuren so intensiv zu beleben, dass man in ekstatische Zustände gelangt (was auch spirituelle Hochgefühle erklären mag). Dies mag erklären, weshalb in den traditionellen Beichtgesprächen noch immer auch nach sündigen Gedanken gefragt wird. [19]
Bei Studien, in denen unter anderem die elektrische Leitfähigkeit der Haut gemessen bzw. Puls- und Hormonspiegelmessungen eingesetzt wurden, zeigte sich allerdings, dass visuelle erotische Reize (z. B. Pornofilme) keinerlei Wirkungen auf den Hormonspiegel hatten, sondern Männer „selbst Hand an sich legen, um das eigentliche ,geile‘ Gefühl zu erzeugen, da das Hinsehen allein nicht den gewünschten Effekt erzielen kann.“ Frauen hingegen zeigten allein beim Lesen erotischer Literatur diese starken Empfindungen, was auf die Identifikation mit den Romanfiguren zurückgeführt wird. (Bolz: 148 ff.)
Das kann als Erklärung gelten, weshalb sich kirchliche „Aufklärungsschriften“ traditionell einer hyperromantischen Sprache befleißigen.
Alternativ zu den Positions-Veränderungen auf Grund dieser empirischen Daten in der sozialwissenschaftlichen Sexualforschung brachte die viel rezipierte[20] Wiener Frauenärztin und (Eigendefinition) Sexualpädagogin Adelina Husslein 1989 ein Aufklärungsbuch auf den Markt, womit „neben den vielen einseitig biologisch orientierten oder sehr freizügig argumentierenden Schriften“ ein Handbuch zur Verfügung stehe, „das junge Männer und Frauen solide informiert und aufgeschlossen berät“, denn „durch eine breit angelegte empirische Studie hat die Autorin die Situation erhoben und analysiert [ – ].“, und, „Da auch die ethisch-moralischen Perspektiven mit einbezogen sind, findet der junge Mensch eine echte Orientierungshilfe, um die vielen Teilinformationen, über die er verfügt, zu ordnen und zu runden.“ (Klappentext U 4, Hervorhebungen RAP)
Sucht man in diesem Buch allerdings echte Daten zur Masturbation, wird man nicht fündig. Husslein stellt fest: „Die Jugendlichen sprechen heute frei und offen über den vorehelichen Verkehr, hinsichtlich der Masturbation aber sind sie gehemmt und verschlossen.“, und bekennt: „Ich habe daher bewußt in meinem Fragebogen diese Frage ausgeklammert, weil ich davon überzeugt bin, daß die Angaben nicht den Tatsachen entsprochen hätten.“ (Husslein: 59); zum „runden“ findet man hingegen folgende „Orientierungshilfe“: zuerst unterscheidet Husslein zwischen einer „Phase der pubertären Autoerotik“, in der sie Masturbation als normales „erotisches“ Verhalten bezeichnet, und einer „heterosexuellen Phase“ (was anregen könnte, nach weiteren Phasen zu suchen …), und behauptet, dass in letzterer Masturbation aufhöre oder zumindest abnähme. Dann korrigiert sie: „Wenn ich sage, daß Onanie in der autoerotischen Phase ein ,normales‘ Verhalten darstellt, bedeutet das nicht, daß Onanie an sich etwas Normales ist. Geht die Onanie über die Zeit, in der die Reifung in die Heterosexualität bereits vollzogen sein sollte, hinaus, kann sie sicherlich nicht mehr als normal gelten.“ Einige Sätze weiter präzisiert sie, dass sie dieses Verhalten als Symptom einer verzögerten Reifung diagnostiziert, und: „Diese Reifungsverzögerung betrifft sowohl das sexuelle Gebiet wie auch das Gebiet seiner Persönlichkeit.“, um zuletzt zu resümieren: „Onanie ist außerhalb der autoerotischen Phase immer etwas Abnormales, sie zeigt irgendeinen Störfaktor im Entwicklungsprozeß auf.“ (Husslein: 61)
- Sexualpädagogische Positionen
Die oberste Forderung einer christlichen Sexualpädagogik besteht, darin, dass sie zu Partnerschaft und Liebe hinbegleitet, schreibt der Innsbrucker Moraltheologe Hans Rotter (Rotter: 161). Autoerotischem Verhalten wird unterstellt, das nicht zu tun.
Wie bereits erwähnt, zeigt Jos van Ussel im Rahmen seines historischen Überblicks, dass die heutige Terminologie zur Bezeichnung der Masturbation fast restlos aus dem 18. Jahrhundert stammt. (Ussel: 133) Er fragt, ob man einen Unterschied nach angewandten Techniken oder nach Alter machte, und: War es eine Sünde, und wenn ja, wie groß war sie?
Bei der weiteren Geschichtserforschung gibt der Historiker vor allem der Position des unsteten Autodidakten und Doppelkonvertiten Jean Jacques Rousseaus (1712 – 1778) breiten Raum, welcher der Meinung war, dass die Natur zeige, dass die Kinderzeit durch sexuelle Apathie und Unempfindlichkeit charakterisiert sei, man daher Aufklärung aufschieben sollte, eventuell Schweigen auferlegen solle, wenn man aber gefragt würde, solle man nicht lügen sondern die Dinge „ohne Lächeln“ beim Namen nennen und „Abscheu erzeugen“. (Ussel: 173) Immer wieder habe sich Rousseau auf „die Natur“ als Strafinstanz gegen Zügellosigkeit und für eine einzige Verbindung „mit einem einzige Weibchen“[21] bezogen. (Ussel: 174)
Rousseaus Einfluss war bedeutend, erinnert van Ussel, so beispielsweise auf Kant, Schiller, Herder, Pestalozzi und andere. Bald nach dem Erscheinen seines Erziehungsromans „Émile“ (1762) wurde er jedoch von den kirchlichen – sowohl katholischen wie auch protestantischen – Instanzen wegen seiner „unsittlicher Darstellungsweise, seiner sittenlosen Ausdrücke“ angegriffen und verboten, kam auf den Index, löste aber auch etliche Gegenschriften aus. (Ussel: 175).
In Deutschland stand die separatistisch-pietistische Gemeinde von Nikolaus von Zinzendorf (1700 – 1760) unter Rousseaus Einfluss sowie die Kampagnen gegen Selbstbefriedigung (Ussel: 176). Dies wird mit dem sozialen Aufstieg Jugendlicher aus dem Bürgertum erklärt (Ussel: 177). Ehemalige protestantische Religionslehrer wie der mehrfache Schulbuchautor Johann Bernhard Basedow (1724 – 1790) und Christoph Gotthilf Salzmann (1744 – 1811) verurteilten „die übertriebene Art, vor der Selbstbefriedigung zu warnen“ (Ussel: 178), Salzmann protestierte sogar gegen die Keuschheitskommissionen; ihr Kollege, der ebenfalls protestantische Theologe Johann Heinrich Campe (1746 – 1818) setzte hingegen Preise für die besten Methoden, Kinder und Jugendliche vor dem „verwüstenden Laster der Unzucht“, insbesondere der Masturbation zu schützen (Ussel: 183). Eine einschneidende Änderung in der Bewertung von allem, was der Empfängnisverhütung dient, sieht van Ussel in der Einführung des Code Napoléon 1804, mit dem vom Erstgeborenen-Erbprinzip abgegangen worden war und deshalb Kinderscharen plötzlich zwecks Vermeidung von Erbzersplitterung unerwünscht wurden. (Ussel: 193)
Mit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. verloren die „bürgerlichen“ Normen an Einfluss, statt dessen entstanden mehrbändige sexologische Werke, vor allem auch hinsichtlich der sogenannten abnormalen Aspekte des Sexuellen; obwohl der Psychiater und Rechtsmediziner Richard v. Kraft-Ebing (1840 – 1902) die Entartungstheorien als unwissenschaftlich verwarf, war er dennoch ein „Anhänger der Doppelmoral und kannte eine lange Reihe von Perversitäten, die er eher ,schlecht‘ als ,krankhaft‘ fand.“ (Ussel: 199)
Auch bei dem Philosophen und Moralpädagogen Friedrich Wilhelm Foerster (1869 – 1966), dessen Schriften 1933 wegen „Gesinnungslumperei und politischem Verrat“ von den Nationalsozialisten dem Feuer übergeben wurden[22], finden sich im Rahmen seiner „Pädagogik der Selbstbeherrschung“ (Foerster, Jugendlehre: 23), Aussagen, die die „Wohltaten der Keuschheit“ vermitteln sollen (Foerster, Jugendlehre: 332) wie die „Unentbehrlichkeit des asketischen Ideals“: „Alle diejenigen Lösungen der sexuellen Frage, die den Eros von den geistig-sittlichen Bedürfnissen emanzipieren wollen, statt das Streben nach der vollen geistigen Beherrschung der sexuellen Kräfte in den Mittelpunkt zu stellen, untergraben nicht nur unsere ganze soziale Kultur und den persönlichen Charakter, sondern auch die physische Gesundheit der sexuellen Sphäre selber.“ (Foerster: Sexualethik: 143).
Der Gießener Philosophie- und Pädagogikprofessor August Messer (1867 – 1937)[23] widmete sich in seinem Buch „Sexualethik“ (1931) vor allem ausführlich einer Kritik Freuds und dessen Sicht auf kindliche Sexualität; so vermutet er hinsichtlich der „Ipsation“, würden „Körper abtasten und mit ihren Gliedern spielen“ bei Säuglingen schon so starke Lustempfindungen verursachen wie bei Erwachsenen, würden sie „sicherlich häufiger wiederholt werden“. (Messer: 130) Dass Kleinkinder etwa achtzehn Monate brauchen, bis sie zielgerichtet greifen können, scheint er nicht im Bewusstsein gehabt zu haben.
In seinem Buch „Antisexuelle Propaganda“ aus 1969 über die Sexualpolitik sowohl römisch-katholischer wie auch protestantischer „Aufklärungsschriften“ kritisierte der Psychologe Hannes Schwenger (* 1941) die darin praktizierte Verdrängung der sexuellen Lust (Schwenger: 58) und „Übertreibung, Überhöhung und Verkitschung“ (Schwenger: 95) wie auch die Aufforderung an die Eltern, dem Kind von Anfang an „eine feine Zurückhaltung“ zu lehren: „Wenn man in Rechnung stellt, wie sehr die Genitalsphäre auch aus der Reinlichkeitserziehung mit Spielverboten und Betrachtungsscheu verbunden ist, dann wird hier deutlich, wie schwer dem Kind die Identifikation mit der eigenen Sexualität und den genitalen Lustgefühlen gemacht wird.“ (Schwenger: 63)
Der Rollenwandel, in dem sich die kirchliche Sexualmoral befinde, sei solchen „Traktatautoren“ durchaus bewusst, bemerkt Schwenger, denn in ihrer „weitgehend defensiven Argumentation“ spiegle sich die Erkenntnis, dass kirchliche Sexualmoral nicht mehr die „adäquate Sexualideologie unserer Gesellschaft“ sei, sondern nur mehr „Relikt einer sterbenden Gesellschaftsstruktur“ (Schwenger: 101). Trotzdem der langjährig an der Universität Hannover lehrende und wegen seiner verharmlosenden Position zur Pädosexualität heute umstrittene Sozialpädagogikprofessor Helmut Kentler in den 1970er bis 1990er Jahren intensiv für eine „sexualfreundliche Erziehung“ in Familie, Schule und Jugendarbeit publizierte, hatten die darauf basierenden Lehrbücher eher konträre Wirkung.
So wurden sowohl die internen praktischen Übungs-Materialien für Lehrkräfte zu deren Anregung und Unterstützung für den schulischen Sexualkundeunterricht[24] heftig kritisiert als auch entsprechende Bücher wie die fünf altersspezifisch variierenden Bände „Mann + Frau. Eine Sexualkunde“ (Tessloff Verlag, Hamburg 1975) oder der Bildband „Zeig mal mehr!“ von Will Mc Bride, Text von Frank Herrath (Beltz, Weinheim 1988) gezielt und tendenziös verteufelt, obwohl dabei primäres Ziel war, Verständnis für Körper und Gefühl zu vermitteln. Dem Buch für Jugendliche gedachten Buch „Let’s talk about Sex“ von Elizabeth Fenwick und Richard Walker (Mosaik Verlag, München 1995) schlug hingegen zwar schon noch, aber nicht mehr so große Aggression entgegen, obwohl darin Masturbation ausführlich und in entängstigender Weise thematisiert wurde.
Bücher für Lehrkräfte und andere Erziehende[25] bemühen sich seit den 1990er Jahren um einen leidenschaftlosen Stil der Informationsvermittlung, allerdings mit einem deutlich erkennbaren Schwerpunkt von AIDS-Prophylaxe. Das Thema Masturbation wird knapp, dafür aber eher scherzhaft angesprochen. (Anders in Büchern, die sich direkt an Jugendliche wenden.[26]) Auf Konfrontation mit hypersexualisierten oder sadistischen Menschen wird nicht vorbereitet. Suchtgefährdungen werden ignoriert.
Demgegenüber deklariert der als erster empirisch zu Sexsucht forschende Wissenschaftler Patrick Carnes (* 1944): „Die Selbstbefriedigung ist ein notwendiger Bestandteil des Ausdrucks einer sexuellen Persönlichkeit. Seine sexuellen Bedürfnisse und Phantasien zu erkunden, sich selbst und seinen Körper kennenzulernen, das sind die wichtigsten Beiträge zur Selbstbefriedigung, wenn es darum geht, seine sexuelle Identität zu finden.“, aber: „Für den Süchtigen dagegen kann die Selbstbefriedigung zu einem erniedrigenden Ergebnis werden. Wenn man sich über Jahre hinweg vier- oder fünfmal am Tag selbst befriedigen muß, dann wird das zwangsläufig zum zentralen Lebensinhalt.“ Schon beim geringsten Anlass, beim Entstehen eines Gefühls der Frustration oder Einsamkeit, suche der Süchtige einen Rückzugsort – und wenn er danach zurückkehre, sei er sich ganz sicher, „daß es auf der ganzen Welt keinen anderen Menschen gibt, der so abhängig von dieser Sucht ist wie er.“ (Carnes: 58) Er sähe sein Verhalten als Charakterschwäche, Verlust von Männlichkeit oder gar Scheitern. (Carnes: 59) Zum Teil beziehe er diese Überzeugung aus Fragen – z. B. ob er nichts zu beichten hätte – und Urteilen von Eltern, anderen Familienmitgliedern oder der Kirche, die er für wahr halte.
Der an der u. a. auf Suchterkrankungen spezialisierte Celenus Klinik Bad Herrenalb wirkende Psychiater Kornelius Roth (* 1952) bezeichnet Sexsucht als häufigste Störung der Impulskontrolle (Roth: 7) und sieht sie in Zusammenhang mit Mediensucht: „Fest steht, dass Kinder und Jugendliche in immer jüngeren Altersstufen Erstkontakt mit Pornographie haben. Viele erleben dies vor der Geschlechtsreife, also in der Zeit der sexuellen Latenzperiode, in der intensive sexuelle Reize die Verarbeitungsfähigkeit der Kinder überfordern. Früh einsetzende Kompensations- und Konditionierungsprozesse, z. B. in Form von Selbstbefriedigung, können zum Baustein einer späteren Sexsucht werden.“ (Roth: 10)
Was Roth vor allem aber auch thematisiert, ist das betreffend anderer Suchtformen bereits vertraute, hier aber bislang ignorierte Phänomen der Co-Abhängigkeit von Partnerpersonen[27] (Roth: 166). Es ist vor allem durch fehlendes Gespür für die eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Grenzen und starke Verlassenheitsängste gekennzeichnet. (Roth: 169) Deswegen werden widersprechende Sichtweisen meist verschwiegen, was einerseits die kommunikative Vereinsamung der Süchtigen verstärkt, andererseits die Chance eines Weges zu einem fürsorglichen, zumindest aber wertschätzenden Du verbaut.
Leider gilt das auch für viele professionelle „Beziehungsarbeiter/innen“ mit Helfersyndrom.
Es stellt sich daher auch zunehmend die Frage, ob der Schwerpunkt sexualpädagogischer Bemühungen besser weniger auf der Vermittlung eines „statischen“ Idealbildes von empathischer Zweisamkeit als auf einer altersgerechten Anleitung zur physischen und psychischen Impulskontrolle und Kritik medialer wie auch realer Vorbilder und zur Bewältigung der intrapersonalen wie auch interpersonellen Alltagsdynamiken liegen sollte.
- Sexualtherapeutische Positionen
Von seiner Entwicklung her entwickle der Mann in unserer Gesellschaft einen „eingeengten“ Bezug zu seiner Körperlichkeit und damit auch zu seiner Gefühlswelt, stellt die Schweizer Psychotherapeutin Catherine Herriger 1990 fest. „Der dumme und äußerst hartnäckige Mythos, daß ein Junge von Geburt auf, einfach so ,stolz‘ sei auf seinen Penis, verdeckt die verheerende Tatsache, daß ihm in unserer Gesellschaft die ,Handhabung‘ seines Sexualorgans sowieso nur zum Urinieren beigebracht wird.“ (Herriger: 36)
Ähnlich beschreibt der amerikanische Psychologe Bernard Zilbergeld an Hand schwülstiger Trivialliteratur den Mythos vom Penis als „magischem Instrument mit unendlichen Kräften“, wohingegen: „Die Männer der Realität mit einem echten Penis messen sich an diesem Modell und stellen fest, wie jämmerlich unvollkommen sie sind.“ (Zilbergeld: 19)
Dagegen spricht die französische Philosophieprofessorin Elisabeth Badinter von der „Überbewertung des Penis“ (Badinter: 166): „Der Mann wird sich also seiner Identität und seiner Männlichkeit am ehesten über sein Geschlecht und die sexuelle Aktivität bewußt. Was auch bedeutet, daß er nach der Ejakulation, wenn die erotischen Empfindungen seines Penis abklingen, eine Art Abwesenheit verspürt, das Ende seines phallischen Lebens.“ Und sie konstatiert: „Zahlreiche Männer, besessen von ihrer Männlichkeit, betrachten ihr Geschlecht im Grunde genommen nicht als ein Organ der Lust, sondern als ein Werkzeug, als ein Instrument des Vollzugs, als ein von ihnen separates Ding.“ (Badinter: 169, Hervorhebung RAP)
Diese „Art von Abwesenheit“, die betroffene Männer im psychotherapeutischen bzw. seelsorgerlichen Setting oft auch als „Leere“, manchmal verbunden mit Ekel-, Scham- und Schuldgefühlen, benennen, interpretiere ich als Erkenntnis des Mangels an Austausch mit einem „antwortendem Du“ (im Sinne von Buber und Rogers): es hat kein Energieaustausch stattgefunden.[28] Es könnte sich aber auch um eine leichte Dissoziation („Wegtreten“, Entgrenzung) handeln, die eben nicht eintritt, wenn man liebend (aber auch kontrollierend) auf sein Gegenüber fokussiert ist.
Viele suchen in sexuellen Aktivitäten – und auch im Drogenkonsum – genau diese – und nur diese – Erfahrung von Hinaustreten aus Raum und Zeit. Sie wird auch dort gesucht, wenn Langeweile oder Mangel an Erfolgserlebnissen den eigenen Energiespiegel in depressive Tiefen absinken lässt. Dann suchen viele autoerotische Sensationen oder (kostenlosen) sexuellen Kontakt zu leicht manipulierbaren Menschen (Kindern oder geistig beeinträchtigten Personen). Mit diesen ist aber wiederum kein konsensualer Energieaustausch möglich, daher ändert sich nichts an der Ausgangslage des unbewussten Mangels. Dann wird meist Abhilfe über den Weg von Quantitätserhöhung gesucht, nicht aber durch Kritik an der Qualität der eigenen Erwartungen und Coping-Strategien.
In seinem Schlusswort der Onanie-Diskussion resümiert Sigmund Freud, aus klinischer Beobachtung die „Rubrik ,Schädliche Wirkungen der Onanie‘ nicht zu streichen“. Er nennt in Hinblick auf Neurosen drei Wege, auf denen sich Onanie-Schaden durchzusetzen „scheint“: als organische Schädigung nach unbekanntem Mechanismus, wobei er Maßlosigkeit und inadäquate Befriedigung in Betracht zieht, weiters den Weg der „psychischen Vorbildlichkeit“, wodurch keine Veränderung der Außenwelt angestrebt werden muss, und letztlich die Fixierung infantiler Sexualziele und des Verbleibens im psychischen Infantilismus. (Freud in Lütkehaus: 244)
Freud zitiert an dieser Stelle auch seine eigene Einteilung der „Onanie nach den Lebensaltern geschieden“ Säuglingsonanie, Kinderonanie und Pubertätsonanie (Freud in Lütkehaus: 241), und sieht späteres „Festhalten derselben in reiferen Jahren“ als infantile Sexualbetätigung. Damit widerspricht er seinem Schüler Stekel, welcher die Schädlichkeit der Onanie als unsinniges Vorurteil bezeichnete. (Freud in Lütkehaus: 243)
In der klassischen sogenannten Sexualtherapie – Volkmar Sigusch verwirft diesen Ausdruck und spricht lediglich von „Therapie sexueller Störungen“ (Sigusch: 6) –, eines Teilbereichs der Verhaltenstherapie, werden einerseits gezielte Masturbationsaufträge zur Entängstigung aufgetragen wie sie schon Wilhelm Stekel als ärztlichen Erfolg berichtete (Stekel in Lütkehaus: 256), andererseits mutuelle Masturbationshandlungen zur Haut-Sensibiliserung, aber auch zur Hebung mangelnder Appetenz[29] angeregt (vgl. Singer-Kaplan[30]). Das zeitigt zwar oft vorübergehende entlastende Wirkungen was Scham- und Schuldgefühle betrifft, pflegt aber meiner Erfahrung nach nicht in die Tiefenschicht der „Beliefs“ einzusickern. Zumindest die Menschen, die bei mir psychotherapeutische oder beratende Begleitung gesucht haben, waren sich sicher, ihr Potenzial zu verfehlen.
5. Askese und Containing
Die Aufgabe der Bewältigung einer so mächtigen Regung
wie des Sexualtriebes anders als auf dem Wege der Befriedigung,
ist eine, die alle Kräfte eines Menschen in Anspruch nehmen kann.
Sigmund Freud[31]
5.1. Können und Wollen
Askese – Triebverzicht – wurde traditionell als Beweis von Willensstärke bewundert (außer von neidvollen Spöttern, die wie das Füchslein in der Parabel von den zu hohen Trauben schlecht machen müssen, was ihnen nicht verfügbar ist). Demgegenüber bezeichnet Gerhard Schulze Masturbation als Symbol für den Übergang vom Leben für Gott zum eigenen Leben (Schulze: 38), wie schon der heute viel kritisierte Helmut Kentler in Fingerlutschen und Spielen mit dem Genitale „Ansätze zu ersten selbständigen und intelligenten Leistungen“ erblickte. (Kentler, Sexualerziehung: 132, Hervorhebung RAP).
Entwicklungspsychologen sehen die Fähigkeit zu selbständigem und bewussten Erkennen und Entscheiden ethischer Fragen in etwa im 14. Lebensjahr; dem entsprechen auch die traditionellen Altersgrenzen für Strafmündigkeit und Sexualmündigkeit.[32]
5.1.1. Paulus
Paulus von Tarsus (ca. 5 – ca. 64) rät Enthaltsamkeit – und hält seine Aussage „so allgemein wie möglich“, betont Kurt Niederwimmer in seiner Abhandlung über Askese und Mysterium –, zwar nicht als Gesetz und auch ohne sie eschatologisch oder christologisch zu begründen, sondern als Maxime. (Niederwimmer: 84)
Niederwimmer beschreibt dazu die bereits erwähnte „Angst vor der rituellen Verunreinigung, die jeder sexuelle Akt mit sich bringt“ als Angst vor der „dämonischen Infektion“ durch den Sexualakt aber auch durch das „dämonische Mana der Frau“. Er hält fest: „In der Ritualangst zeigt sich nicht eine wirkliche, innere Freiheit gegenüber den Triebansprüchen, sondern eine Überkompensation des Mangels an Freiheit, eine Reaktionsbildung auf die starken unbewußten Fixierungen. In gewisse Weise zeigt sich daher im asketischen Verhalten nicht nur die Abwehr, sondern eben auch die unbewußte Fixierung auf den Gegenstand des Triebverzichts, und je stärker die unbewußte Fixierung und das Verbot sind, umso stärker muß auch die asketische Reaktion sein. Und schließlich ist das asketische Verhalten nicht nur Triebverzicht, sondern auch (verdeckte) Treibbefriedigung: die Askese trägt zugleich den Charakter der Selbstbestrafung, und die Selbstbestrafung löst unbewußte sado-masochistischen Triebbefriedigung aus.“ (Niederwimmer: 85) Ich ergänze: und auch eine narzisstische, wenn man an das elitäre Bewusstsein der deklarierten Verzichtenkönner[33] denkt. Es sei noch einmal an Johannes Thiele erinnert, der aufzeigt, dass die Vermittlung eines neuen geistigen Ideals hilft, von der Triebhaftigkeit abzubringen (Thiele: 86).
5.1.2. Augustinus
Mit Augustinus von Hippo (354 – 430) rücke die Frage des „Fleisches“ in den Vordergrund, schreibt Jean-Claude Guillebaud, und bezeichnet ihn als einen unnachsichtigen Verfechter einer streng asketischen Sexualmoral. (Guillebaud: 208) Aus Augustins Sicht ist die sexuelle Begierde deshalb so eine explosive wie beunruhigende Kraft, weil sie sich definitionsgemäß dem Willen entzieht: „Die physiologische Selbständigkeit der Sexualität, die unseren Willen verhöhnte, deutete auf eine grundsätzliche Verstimmung hin, eine discordia malum, ein ,nicht auszuräumendes Prinzip der Zwietracht, das dem Menschen seit dem Sündenfall innewohnt‘ und aus ihm letztlich ,einen verkleinerten Schatten des Todes‘ mache.“[34] (Guillebaud: 211), und: „Die Konsequenz des ersten Fehlers, des Sündenfalls, der nicht sexueller Natur ist, sei diese dramatische Loslösung: der Wille könne den Körper nicht mehr vollständig beherrschen, der Mensch sei schwach, die Begehrlichkeit, die ein negatives Vorzeichen trage, sei fortan eine fremde Kraft, die ihn bedränge. Dem Fleisch widerstehen hieße also, den menschlichen Willen mit der Gnade Gottes wieder in seine ursprüngliche Erhabenheit einzusetzen, denn was den Geist beschäme, sei dieser Körper, diese mindere Natur, die ihm untergeordnet sei und ihm dennoch Widerstand leiste.“ (Guillebaud: 211 f, Hervorhebung RAP)
5.1.3. Freud
Askese kann aber auch als geübte Fähigkeit verstanden werden, Antriebe und Hemmungen in Balance zu halten und die sich daraus ergebenden Spannungen zu ertragen. Der Psychiater Sigmund Freud (1856 – 1939) vermutete, der sogenannte Neurastheniker sei vielleicht überhaupt unfähig, somatische Spannung zu ertragen, da er gewohnt sei, sich durch Masturbation sofort von jeglicher Spannung zu befreien.[35] Er muss alles sofort tun oder haben.
„Je mehr es gibt, desto mehr entgeht einem.“, weiß Gerhard Schulze. „Was Wunder, dass die Zufriedenheit der Menschen mitnichten steigt, wenn sich ihr Wohlstand immer weiter erhöht.“ (Schulze: 17). Wohlstand soll hier nicht finanziell gedeutet werden sondern im Sinne von sexueller Sättigung. Dieses Sat- sein ist aber keineswegs mit Erfülltheit gleich zu setzen. Erfülltheit entspricht dem oralen Gestilltsein des Säuglings. Es ist mit einem körperlichen Nahegefühl verbunden, denn das Neugeborene fühlt sich noch mit der Mutter, deren Leib es entwachsen ist und deren Körpergeräusche ihm vertraut sind, „eins“.
Diese, wie ich sie nenne, „orale Sehnsucht“ entspricht wohl dem, was Sigmund Freud als „ozeanisches Gefühl“[36] zitiert, und das er bei sich selbst, wie er schreibt, nicht entdecken konnte. (Freud, Unbehagen: 197 f.). Er erinnert: „Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseren eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgesetzt.“, doch das sei zumindest nach innen ein Trug, weil sich das Ich in ein unbewusst seelisches Wesen fortsetze, dem es gleichsam als Fassade diene, nur nach außen scheine das Ich klar abgegrenzt. (Freud, Unbehagen: 198) „Aber auf der Höhe der Verliebtheit droht [37] die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen.“ (Freud, Unbehagen: 199, Hervorhebung RAP).
Dieses Entgrenzungs- bzw. Verschmelzungserleben beseitigt das Spannungsgeschehen, das erlebt wird solange die Sexualpartner noch nicht physisch – oder mental (dazu s. 7. 1.) – vereint sind.
Freud schreibt, dass der Spannungscharakter der sexuellen Erregtheit „Unlustcharakter an sich tragen muß“, denn „Für mich ist entscheidend, daß ein solches Gefühl den Drang nach Veränderung der psychischen Situation mit sich bringt, treibend wirkt, was dem Wesen der empfundenen Lust völlig fremd ist.“ Allerdings sei überall bei der durch Sexualvorgänge erzeugten Spannung auch Lust dabei, und diese wecke das Bedürfnis nach „Mehr von Lust“. (Freud, Unbehagen: 114 f.) Zuvor schon hatte Freud erklärt: „Der Zustand des Bedürfnisses nach Wiederholung der Befriedigung verrät sich durch zweierlei: durch ein eigentümliches Spannungsgefühl, welches an sich mehr den Charakter der Unlust hat, und durch eine zentral bedingte, in die peripherisch erogene Zone projizierte Juck- oder Reizempfindung.“ (Freud, Unbehagen: 91)
Was Freud – wie – so viele andere auch heute noch – nicht wusste, ist die Tatsache, dass man Spannungsgefühle willentlich in andere Befindlichkeiten transformieren kann. (mehr dazu s. 7. 1.)
5.2. Verfehlte Selbstliebe
Im 1. Johannesbrief heißt es: „Wer nicht liebhat, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4, 8). Auf Freud hin angewendet, könnte das heißen: er sieht in dem Entgrenzungserleben von Liebenden (auch Gott Liebenden) eine Bedrohung für das in sich abgekapselte Ich. Man könnte aber auch sagen: keine Bedrohung, sondern eine Kompetenzerweiterung: man ist fähig, etwas Anderes liebend an- und aufzunehmen. Der – zielgerichtet erfolgreich, d. h. mit Orgasmus[38] – Masturbierende kann wohl einen kurzen Moment der Ekstase – der Grenzerweiterung bzw. Dissoziation über den Normalzustand des Sich-zusammen-Nehmens hinaus – erleben und gleichzeitig dennoch die Gefahr der physischen Nähe und energetischen Verschmelzung mit einem anderen Menschen vermeiden – und damit auch die Regression in die vermuteten Einheitsgefühle am Beginn des Lebens (wann auch immer dies angesetzt wird).
Nähegefühle aktivieren zumeist – wenn man nicht bewusst darauf verzichtet – alte Neurosignaturen aus frühester Kindheit; das ist erfahrungsgemäß eine der häufigsten Gefahren bei Lebenspartnerschaften: dass sie wie Elternkind-Beziehungen gestaltet werden und damit die gelegentlich konfliktträchtige Dramatik der Erwachsenensexualität vermieden wird.
Deswegen mahnt wohl der libanesisch-amerikanische Dichter, Maler und Philosoph Khalil Gibran (1883 – 1931) die ehelich Verbundenen, sie mögen Raum zwischen einander lassen: „Und steht zusammen, doch nicht zu nah: Denn die Säulen des Tempels stehen für sich. Und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht im Schatten der anderen.“ (Gibran: 15 f.)
Sich in die Arme und damit engste Nähe der Bezugsperson (oder einer professionellen Elternersatzfigur) zu flüchten, ist das Vorrecht der Kinder – und Erwachsener, wenn sie in Hochstress-Krisensituationen regredieren. In Erfahrungen von Alltagsfrustration sollte sprachlicher Ausdruck – nicht nur gegenüber menschlichen oder tierischen Bezugswesen, sondern auch im Inneren Dialog und im Gebet an Gott gerichtet – als Heilmittel der Wahl erkannt sein.
Verschiebung (im psychoanalytischen Sinn) statt auf ein Du hin auf einen Körperteil (Autofetischismus) verfehlt die lang andauernde (und nicht nur impulshafte) Herzöffnung und damit Weiterentwicklung zu der Resilienz, die im Gottvertrauen und damit auch Selbstvertrauen wurzelt.
6.Vom Ich zum Du
Niemand ist zu Beginn einer Paarbeziehung beziehungsfähig –
das werden wir erst in der Beziehung selbst.
David Schnarch[39]
6.1.1. Distanz und Nähe
Sich bei Stress oder nach Kränkungen zurück zu ziehen, um Kräfte zu sammeln, hat immer wieder Phasencharakter im Wechselspiel von Spannung und Entspannung, wie es zum Leben dazu gehört.[40] Handlungsmotivation und Handlungsimpuls sind zwei verschiedene intrinsische Psychoaktivitäten; man kann sie bewusst trennen und die so entstehende Zeitlücke zur Überprüfung – „Besinnung“ – nutzen. Solange man unsicher ist, bedeutet Abstand zu wahren und damit sich selbst zu bewahren bis man sich „Vertrauen trauen“ kann, einen wichtigen Entwicklungsschritt im zweiten bzw. dritten Lebensjahr und damit zur Ablösung von der Bezugsperson der frühesten Kindheit. Auf Dauer in der Distanz zu verharren, verhindert den Weg zu einem neuen Du und damit zu anderen Energiequellen als allein der aus der Mutter-Kind-Symbiose.
Im wissenschaftlichen Konzept der Psychotherapieschule der Transaktionsanalyse wird diese Form von Energie „stroke“[41] genannt.[42]
6.1.2. Energiemangel
Energiemangel zeigt sich nicht nur in Erschöpfungszuständen sondern auch in der Unfähigkeit, Kreativität zu entwickeln und zu pflegen, und in Langeweile. Das betrifft nicht nur kleine Kinder sondern ebenso Erwachsene – und auch die Gesellschaft insgesamt. Die Langeweile in der Moderne habe mit Gewöhnung aber auch mit Vergessen zu tun (Schulze: 18), denn die ursprüngliche Erfahrung der Differenz zwischen Entbehrung und Erfüllung sei dem kollektiven Gedächtnis der reichen Gesellschaften längst abhanden gekommen, meint der Bamberger Soziologieprofessor, ja man blicke ohne Enthusiasmus, oft genug sogar mit Widerwillen auf die Errungenschaften der Moderne. (Schulze: 17). Zu diesen Errungenschaften kann man auch die Enttabuisierung des Sexuellen[43] zählen, Masturbation inbegriffen.
Langeweile ist eines der Motive für sexuelle Betätigung, das zeigen nicht nur persönliche Alltagserfahrungen sondern es auch die zahlreichen Übergriffe auf Kinder, die stattfinden, wenn auf Obsorge unvorbereitete Männer auf Kinder aufpassen sollen. Insofern stimmt Gerhard Schulzes Aussage, moderne Menschen verstünden Sexualität entweder als Triebabfuhr oder, anspruchsvoller, als Begegnung, wohl nicht. (Schulze: 37)
Viele verstehen überhaupt nicht, was in ihnen selbst physisch und psychisch vorgeht, und sie verstehen auch nicht, dass und wie man diese inneren Vorgänge steuern kann, da sie als übermächtig erlebt – und verteidigt – werden, vor allem von Strafverteidigern bei Sexualdelikten. Unbewusst holt man sich die fehlende Energie von einem ahnungslosen anderen Menschen (Perner, Tabu: 261 ff.) oder versucht sich durch Pornographie und gleichzeitiger Handanlegung auf ein höheres Energieniveau zu bringen (Bolz: 151).
Gegen Übermacht bieten sich folgende Verhaltensweisen an: Unterwerfung[44], Rebellion, Unterdrückung der rebellischen Impulse – oder Selbstbesinnung, Entwicklung alternativer Verhaltensweisen[45] – und allenfalls Trauer wegen des Unmöglichen.
Zu den häufigsten Formen von Vermeidungsverhalten gehört die Abwehr von Enttäuschungs- und Trauergefühlen. Wenn man auf etwas verzichtet, kann sich ein Leeregefühl breit machen, wie beim Fasten: eine Entzugserscheinung.
Viele Menschen greifen dann sofort wieder zur jeweiligen „Droge“ (üppige Mahlzeiten mitgemeint), und diese kann auch ein Mensch sein[46] (oder der personal gedachte Gott als Projektionsfläche[47] – nicht zu verwechseln mit dem lebendigen Gott, der aus dem Herzen zu einem spricht) oder eben ein autoerotisches Verhalten. All dies kann süchtig machen – und Sucht ist die Beziehung zu etwas, das mit steigender Frequenz immer häufiger benutzt wird, um die Gefühlslage zu ändern.
Gegen Suchtverhalten hilft Fasten. Der deutsche Lyriker Gustav Falke (1853 – 1916) dichtete: „Herr, laß mich hungern dann und wann, satt sein macht stumpf und träge …“[48]
In einer permissiven Gesellschaft, in der Konsum als Weg zum Glück vorgegaukelt und der Wert eines Menschen von seiner ersichtlichen Konsumkraft abhängig gemacht wird, ist Fasten obsolet geworden. Gunter Schmidt kritisierte schon Ende der 1980er Jahre: „Wir treten zur Sexualität in ein Verhältnis ein wie zu einer Erlebnisware, als wie zu Unterhaltung, Zerstreuung, Reisen, Psychoangebote, Sekten.“ (Schmidt, Der große: 53)
6.2.1. Haben oder Sein
Ein Verhältnis – und ebenso „Sex“ – hat man, lieben tut man (auch ohne Naheverhältnis). Martin Buber fragt: „Wie verhält es sich mit dem Ich-Du-Verhältnis zwischen Menschen?“, und er antwortet: „- alles sagt dir, daß die volle Mutualität nicht dem Miteinanderleben der Menschen inhäriert. Sie ist eine Gnade, für die man stets bereit sein muß und die man nie als gesichert erwirbt.“ (Buber: 130), denn: „Der Mensch empfängt, und er empfängt nicht einen ,Inhalt‘, sondern eine Gegenwart, eine Gegenwart als Kraft.“ (Buber: 111)
Dazu möchte ich ergänzen: In der Masturbation empfängt der energiebedürftige Mensch keine Kraft, sondern er gibt seine ab, ins Leere, ohne ein empfangendes Du.
Frei nach Erich Fromms Konzept der Haben- oder Seins-Menschen verraten die Verteidigungsworte von Vergewaltigern vor Gericht ihr Selbstverständnis, wenn sie sich darauf berufen, sie hätten einen „Triebstau“ „gehabt“: sie folgen einer medial multiplizierten Nomenklatur, die nur besagt, dass sie sich in einem bestimmten Augenblick unter Druck – angespannt – gefühlt haben, jedoch keinerlei Aussagen über die Genese und Abhängigkeit dieser Empfindung – und damit ihrer Veränderbarkeit – trifft.
„Aber Liebe ohne Dialogik, also ohne wirkliches Zum-Anderen-ausgehen, Zum-Anderen-gelangen und Beim-Anderen-verweilen, die bei sich bleibende Liebe ist es, die Luzifer heißt.“, schreibt Martin Buber (Buber: 169), doch dürfe dies nicht mit dem von „einigen Moralisten erdachten Gegensatz von ,Egoismus‘ und ,Altruismus‘ verwechselt werden.“, denn es gäbe Menschen, die in sozialen Tätigkeiten aufgingen und nie mit einem anderen Menschen „von Wesen zu Wesen“ geredet hätten oder solche, die Beziehungen nur als Feindschaft kennten (Buber: 168). In diesen beiden Haltungen wird allerdings Energie abgegeben und doch auch wieder empfangen – als Dankbarkeit oder eben als Verwirrung, Kampf oder Hass.
6.2.2. Personale Begegnung
Wenn etliches pastoraltheoretische Schrifttum seit den 1960er Jahren sich weg vom Fortpflanzungsgebot Gen 1,28 und der patriarchal als absolut interpretierten Unterordnung der Frau in Gen 3,16 wie auch in den Pastoralbriefen hin zu dem personalen Aspekt in der geschlechtlichen Begegnung deklariert, so kann man darin die Wirksamkeit des versuchten Aggiornamento des Zweiten Vatikanums sehen aber auch eine Entsprechung zu der zunehmenden „Psychotherapeutisierung“ der Gesellschaft.
Vor allem in der personzentrierten Gesprächspsychotherapie und der auf ihr fußenden Encounter-Bewegung, die sich auf Carl R. Rogers und vor allem auch seine Gespräche mit Martin Buber bezieht[49], wurde und wird die Frage reflektiert, „ob es einen echte Dialog eines Menschen mit sich selbst geben könne (Rogers) oder ob die Aspekte der Überraschung im Dialog – exemplifiziert am Schachspiel – und der Andersartigkeit des anderen nicht den Gebrauch eines anderen Terminus für dieses Geschehen verlangten (Buber).“ (Rogers/ Schmid: 141) Der Theologe und Rogers-Schüler Peter F. Schmid erinnert an anderer Stelle, dass das Anderssein eines anderen oft Gefühle von Fremdheit und Bedrohung auslöse anstatt der Erkenntnis der Chance, an sich selbst neue Seiten wahrzunehmen. (Schmid: 28)
Ich sehe diese Dynamik auch in der, vermeintlich als Dialog bezeichneten, hierarchisch strukturierten Kommunikation von Institutionen sowohl untereinander als auch gegenüber ihren Mitgliedern oder ihrer „Klientenschaft“. Dazu zählen auch Frauen, vor allem wenn deren Potenzial nicht wahrgenommen, respektiert und gefördert wird.
Dialog im Sinne von Buber oder Rogers verzichtet auf Siegesbestrebungen und damit auch auf beispielsweise Beschämungen (wie etwa die Verdammung von Menschen, die sich nicht dem Fortpflanzungsgebot unterwerfen wollen) – sie dienen nicht der Herstellung von Wahrheit im Bewahren von Menschenwürde.
Den anderen als Person wahrzunehmen, beinhaltet die Langsamkeit der Achtsamkeit und verzichtet auf Attacken-Geschwindigkeit, wie sie zur Unterwerfung angewendet wird – auch zur Selbstunterwerfung unter vermeintliche Triebbedürfnisse.
So schreibt beispielsweise Bernhard Fraling 1997 „Es ist die personale Beziehung zum anderen“, die den Menschen in seiner Ganzheit „schwingen“ lässt (Fraling: 45). Eberhard Schockenhoff weist darauf hin, dass in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (1965) die Abkehr von der alten „Ehezwecklehre“ hin zum Bekenntnis zu einem „personalen Eheverständnis“ vollzogen sei und betont die „personale Erlebnisqualität der Partnerschaft als Dienst an der individuellen Selbstverwirklichung“ (Schockenhoff: 435). Der gewohnte Begriff des „Bundes“ umschreibe zunächst die personale Dimension der Eheschließung gegenüber dem nur konsensualen Vertragsgedanken (Schockenhoff: 436); wer den anderen aber nur „gebrauche“ anstatt sich an ihm zu „erfreuen“, „versündige“ sich zwar nicht direkt am personalen Wert eines anderen Menschen, sondern verletze die „personale Würde“ (Schockenhoff: 439).
Personale Begegnung bedeutet, sich zeigen, wie man ist. „Bei einem wahrhaftigen Menschen stimmen inneres Erleben und äußeres Verhalten überein. Das macht ihn glaubwürdig und schafft Vertrauen. Fassadenhaftigkeit, Pseudoprofessionalität, Abwehr eigener Gefühle dagegen erschweren die Beziehung.“, mahnt Peter F. Schmid (Schmid: 122). Schmid zitiert Ruth Cohns „selektive Echtheit“: „Was immer ich sage, soll echt sein; aber nicht alles, was echt ist, muß ausgesprochen werden.“ (Schmid: 125) Das betrifft vor allem auch den Intimbereich der Sexualität.
6.3. Hingabe
Was bei all den Reflexionen rund um die als Alternative zum triebhaften Paarungsgeschehen dargestellte „personale Beziehung“ nicht thematisiert wird, ist, dass zu ihr auch das Wissen und Können gehört, wie man Regression auf kindgleiche Unbeherrschtheit verhindert – wozu anzumerken ist, dass genau diese im experimentellen Lebensstil der „Sexuellen Befreiung“ der 1968er Jahre propagiert wurde.[50]
Eine Möglichkeit besteht in Keuschheit: abgeleitet vom lateinischen Wort conscius, bewusst, kann Keuschheit als Zustand der seelischen Balance zwischen Impulsen von Hinstreben und Zurückhaltung (nicht Unterdrückung) definiert werden. Sie verlangt Vertrauen in die Anleitungskraft des eigenen Fühlens.
Rein kognitiv hingegen könnte die Kontrolle der Atmung und der damit verbundenen Körperempfindungen die Hinwendung zum Du auch erleichtern. Sich hingeben kann man nicht schnell – das wäre sonst ein Überfall (oder auch ein Sturz). Der Sexualtherapeut Bernard Zilbergeld betont, dass Masturbieren vielen Männern nicht so viel Lust bereitet, wie es möglich wäre: „Es geht gewöhnlich sehr schnell über die Bühne, wobei das einzige Ziel darin besteht, zum Orgasmus[51] zu kommen und es hinter sich zu bringen.“, wobei man die Gewohnheit annähme, schnell zu ejakulieren, die dann leicht auf Sex mit der Partnerin übertragen würde und die Neigung verstärke, Körperempfindungen, die nicht so stark wie der Orgasmus sind, zu ignorieren (Zilbergeld: 115) Und im Zusammenhang mit eiaculatio praecox schreibt er: „Man hat vermutet, daß ihre Sozialisation Männer für schnelle Ejakulation prädisponiert. Es stimmt, daß Männern beigebracht wird, Schnelligkeit einen hohen Stellenwert beizumessen. Und viele unserer Erfahrungen, ob wir auf der Toilette masturbierten oder auf dem Rücksitz eines Autos Sex hatten, bargen das Risiko, entdeckt zu werden, in sich. Je schneller wir deshalb fertig wurden, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß man herausfand, was wir trieben.“ (Zilbergeld: 179)
Im Zuge seiner Bezugnahme auf ökonomische Zeitgeistigkeiten schreibt Gunter Schmidt, „Langsicht, also planende Vorausschau und das Aufschieben von Bedürfnissen werden neue Tugenden.“ (Schmidt, Der große: 38) Genau das fällt süchtigen – oder „untrainierten“, man könnte auch formulieren „unerzogenen“ – Menschen schwer: das Aufschieben von Bedürfnissen. Allein der Gedanke daran löst oft Panik aus (und zwar gleichsam die Panik des unterversorgten Babys). Es muss daher in kleinen Schritten eingeübt, d. h. neuronal verankert werden. Dazu haben sich die „12 Schritte Programme“[52] als hilfreich und wirksam erwiesen. In diesem wird die eigene Hilflosigkeit vor Gott als dem allumfassenden Du gebracht und in der Zuwendung (den Strokes) durch die Gruppe verkörpert.
In dieser Gruppenarbeit werden unterschwellig mehrere Ziele verwirklicht: das „Dehnen der Zeit“ (und diese ist kein Aufschieben sondern das Einüben von Vertrauen und Geduld) im Warten auf den nächsten Termin, wohl wissend, dass es im Notfall eine Telefonkette gibt, über die man sich Beistand holen kann, das Zuhören, wenn andere sprechen und sich selbst die Zeit zu lassen, sich eigene Sprach-Hemmungen gütig nachzusehen und so die eigene Selbst-Bewusstheit zu erhöhen und zu verfeinern und damit „echte“ (im Sinne von Buber und Rogers) Beziehung zu anderen, die nicht als überlegen gefürchtet werden müssen, einzuüben. Schwieriger fällt es dort, wo es gilt die eigenen Überlegenheitsstrebungen (und die begleitenden Muskelanspannungen[53]) zu überwinden – und diese sind es häufig, die bei Männern die Hingabe an das „Antwortende Du“ verhindern.
7. Triebdurchbrüche und Willensfreiheit
Die Disqualifizierung sexuellen Lustgewinns
läßt die Erkenntnis nicht zu, daß menschliche Sexualität
der kulturellen Entfaltung bedarf.
H. Pfürtner[54]
„Obwohl viele Menschen Sexualität für etwas Natürliches oder Instinktives halten – man tut, was die Natur verlangt – , handelt es sich bei der menschlichen Sexualität im Grunde um ein erlerntes Phänomen.“, betonte Bernard Zilbergeld bereits Ende der 1970er Jahre, lange vor der breiten Rezeption der Sichtweise von der Kulturbedingtheit von Glaubenssätzen[55] und damit verbunden Werthaltungen. „Was man gelernt hat, kann man wieder verlernen und durch ein individuell angemesseneres Wissen ersetzen.“, folgt Zilbergeld klassischen verhaltenspsychologischen Grundsätzen. (Zilbergeld: 15)
7.1.1. Sexuelle Erinnerungsspuren
Lernen kann als multisensorische neuronale Verankerung von Erlebnisinhalten definiert werden. Jan Assman meint in Hinblick auf das kulturelle Gedächtnis von religionsbedingten Inhalten mit der Unterscheidung von episodischem –– auf Erlebnissen und Erfahrungen beruhendem – und semantischem – „mit Sinn und Bedeutung“ zusammenhängendem, das er als „eminent sozial“ bezeichnet – Gedächtnis auszukommen und auf das motorische („Gehen, Schwimmen, Radfahren“, Anmerkung 5, Assmann: 223) verzichten zu können. (Assmann: 12)
Bezieht man die jungen Erkenntnisse der computergestützten Gehirnforschung mit ein, treffen bei der Masturbation alle drei Gedächtnisformen zusammen: semantische Verankerungen im Gedächtnis entstehen nicht nur durch wiederholtes Memorieren von kognitiven „Lerninhalten“ sondern ebenso von emotionalen wie auch motorischen, und können, wenn sie mit schockartigen (d. h. episodalen) Stresshormonausschüttungen begleitet werden, ähnlich der gezielten psychologischen Werbungmit Schockbildern „in die Tiefe eindringen“ (Barthes: 42).
Der multidisziplinär ausgebildete Neuropsychiater und Freiburger Psychosomatikprofessor Joachim Bauer (* 1951) formuliert, die Gesamtheit aller Erfahrungen der Person repräsentiere das zentrale Selbstgefühl, das Gefühl des Selbstwertes und die emotionale Grundstimmung. (Bauer, Gedächtnis: 184, Hervorhebung RAP). Ich ergänze: dazuzuzählen sind aber auch alle „Beliefs“ – sie wirken oft wie Verschlusskapseln, die den Input neuer Erfahrungen wie auch den Output schmerzlicher oder obsoleter alter verhindern.
Joachim Bauer weist darauf hin, dass Aggressionen – ich formuliere konkretisierend: Handlungsimpulse auf Grund von Erregungszuständen, die auf andere Personen gerichtet sind – die nicht sofort ausgelebt werden konnten oder durften, eine emotionale Erinnerungsspur „für einen eventuellen späteren Gebrauch“, hinterlassen. (Bauer, Schmerzgrenze: 78). Das erklärt die sogenannte Aggressions-Verschiebung: entweder auf andere Objekte oder auf spätere Zeitpunkte. (Bauer, Schmerzgrenze: 76) Und Bauer schreibt: „Die Wut des gereizten Individuums entlädt sich dann häufig ersatzweise an hierarchisch niederen bzw. schwächeren Dritten.“ (Bauer, Schmerzgrenze: 77) Wiederum ergänze ich: diese Wut – dieser Erregungszustand – wird häufig sexualisiert, und dann kann er auch auf sich selbst als Objekt gerichtet sein (wie es sich häufig in der tiefenpsychologischen Arbeit mit Menschen, die Selbstverletzungen neigen, zeigt).
Die amerikanische Biologieprofessorin Anne Fausto Sterling (* 1944) setzte sich Mitte der 1980er Jahre kritisch mit den Alltags-Mythen über die Auswirkungen von erhöhten Testosteron-Konzentrationen auseinander und zeigte auf, wie wenig zwischen Ursachen und Folgen differenziert wurde; vor allem wurde nicht berücksichtigt, dass es im Körper eine Reihe verschiedener Hormonsysteme gibt, die alle miteinander interagieren: „Diese werden oft als neuroendokrine Systeme bezeichnet, weil das Gehirn als Reaktion auf ein äußeres Ereignis sie aktiviert, indem es Botschaften von den Gehirnzellen durch den Blutstrom zu hormonerzeugenden Drüsen entsendet.“ Sie bringt dazu das Beispiel, dass oft Ärger sprachlich mit Adrenalinschub verbunden wird: damit sei aber gemeint, dass das Gehirn den psychologischen Zustand des Ärgers in eine chemische Botschaft umsetzte, die durch den Blutkreislauf zu den Nebennieren gelangte, die daraufhin mit der Produktion von Adrenalin reagierten, welches eine Erweiterung der Blutgefäße bewirkte und diese wiederum auslösten, dass der Betroffene sich aufregte und zu schreien begann. Dasselbe Hormon Adrenalin verleihe aber auch den Antrieb, wegzulaufen. (Fausto-Sterling: 179 ff.)
Adrenalin zählt zu den Stresshormonen: sie helfen, den Körper mit der nötigen Aggression auszustatten um ihn kampf- oder paarungsbereit zu machen; ohne dieses „Aufladungsgeschehen“ könnte der Mann nicht die Körpergrenze einer anderen Person durchstoßen. Und: auf diese „körpereigene Droge“ kann man süchtig werden. (Das trifft ebenso auf Frauen zu.) Hat der Mann diese „Penetrations-Neurosignatur“ erworben, liegt es an seiner Selbststeuerungskompetenz und letztlich an seinem Willen, ob er den zugekoppelten Adrenalinstoß eigenmächtig herbeiführt und mit welchen Mitteln und Methoden… oder ob er seine Reiz-Reaktionsmuster kontrolliert und verändert.
Es stellt sich also die Frage, wie Stresserfahrungen anders bewältigt werden können als durch die sexualisierte sogenannte Triebabfuhr[56], die man damit auch der psychischen Abwehrform der vorbewussten „Verschiebung nach unten“ (auf den eigenen Unterleib oder eine „untergeordnete“ Person) zuordnen könnte.
7.1.2. Medienwirkungen
Die computergestützte Gehirnforschung hat aufgezeigt, dass allein durch das Zuschauen – und das sogar bei „nur“ filmischen Aktionen – bei den Zusehern die gleichen Gehirnpartien aktiviert werden wie bei den Akteuren; dies wäre eine Form von unbewusster Identifikation, die aber gleiche Emotionen auslöst. (Bauer, Fühlen: 40; 71 f. ) So betont Joachim Bauer auch, welche Schlüsse ein Lebewesen aus einem erhaltenen Signal zieht, sei das Ergebnis eines „biologischen Selbstorganisationsprozesses“, der darin besteht, dass diese Eindrücke vor allem durch den Vergleich mit anderen Signalen intern verarbeitet und „bewertet“ und auch genetisch fixiert werden. (Bauer, Fühlen: 156 f.) Wenn nun aber eine Schadenszufügung nicht wahrgenommen werden kann, weil man dafür keine Rezeptoren besitzt – Bauer verweist dabei auf Radioaktivität – wird sie unser Verhalten erst dann beeinflussen, „wenn die durch unser Gehirn ermöglichte Intelligenz die Rolle eines Ersatzrezeptors übernommen hat.“ (Bauer, Fühlen: 155)
Oft genug in Film und Fernsehen gesehen, verankert sich auch unerwünschtes Vorbild-Verhalten[57] vom Bildschirm weg in den episodalen und weiters semantischen kulturellen oder auch „so gar nicht kulturellen“ Gedächtnissspeicher. Wenn Ignaz Kerscher schreibt, die neue Medienlustbarkeit entschärfe die potenziell emanzipatorische Sprengkraft des Eros durch dessen Funktionalisierung, und als solche Funktionen unter anderen aufzählt: Erholung und Entspannung, Ausgleich von Versagungen und Frustrationen, Abreaktion verdrängter Emotionen, Ventil für Anpassungsdruck, entfremdeter Arbeitswelt und tristem Alltag (Kerscher: 122), so trifft dies auch für Selbststimulation und Selbstbefriedigung zu.
Demgegenüber beschreibt er als emanzipatorische Funktionen:
- die Kontemplationsfunktion, durch die Sexualität der Selbstfindung, der Identitätsfindung, der Entdeckung verschütteter Emotionalität und der Meditation dienen könnte;
- weiters die Kommunikationsfunktion, die Beziehungen und Dialog herstellen und vertiefen und zur Sensibilisierung für die Gefühle anderer führen könnte;
- letztlich die Partizipationsfunktion, die zur Mitwirkung am öffentlichen, kulturellen und politischen Geschehen motivieren könnte.[58] (Kerscher: 122 f.)
Emanzipation beginnt mit der Infrage-Stellung von Normen, Geboten und Usancen. „Die Skepsis beginnt eben bei der Beobachtung der Wandelbarkeit der Moralbegriffe.“, betont auch Wolfgang Trillhaas (1903 – 1995), wenn er den hohen „Wert“ von Selbstzucht und Verzichtenkönnen gegen die Freigabe des Geschlechtsverkehrs außerhalb oder vor der Ehe mit der Einsichtigkeit von Werten in Frage stellt und aufzeigt, dass Werte ihrer Natur nach nicht beweisbar seien: „Daß rein ethische Werte den Vitalwerten („geschlechtliche Betätigung ist gesund“) oder den Werten des Angenehmen und der Lust grundsätzlich überlegen seien, ist eine weltanschauliche Entscheidung, die für denjenigen, welcher diese Voraussetzung nicht zu teilen vermag, einen Zwang, ein moralisches Diktat bedeutet.“ (Trillhaas: 25)
Wenn man nun die „emanzipatorische Funktion“ als Weg zur Befreiung aus intrapersonalen wie auch interpersonellen Konflikten und auch von dem Anpassungsdruck infolge „manipulativer Weckung systemadäquater Bedürfnisse“ verstehen mag (Kerscher: 121), erhebt sich die Frage: Was bedeutet derart gewonnene sexuelle Freiheit im Sinne der Verantwortlichkeit gegenüber Gott und seinen ebenbildlichen menschlichen Geschöpfen, sich selbst inbegriffen?
Um sich jemandem gegenüber verantwortlich zu fühlen, braucht es eine bestimmte Beziehung: es darf einem die aus ihr folgende Bewertung der eigenen Person und möglicher Reaktionen nicht egal sein. Auf sich selbst bezogen heißt das auch: wenn man sich selbst nicht achtet und liebt – und das auch in beispielsweise Situationen der Langeweile, der Frustration, der Einsamkeit, des Schmerzes und des Versagens – läuft man Gefahr, seelisch und letztlich auch körperlich, vor allem aber spirituell zu verwahrlosen.
7.2.1. Ausrichtung auf ein Du
Kleine Kinder lernen ihren Bezugspersonen „zuliebe“, und in dieser Ausrichtung auf die „größere“ Person vermischen sich Gefühle von emotionaler Abhängigkeit mit solchen von Bewunderung und Suche nach Strokes – Lob und Anerkennung.
In der Adoleszenz tritt an Stelle der Pflegepersonen der ersten Lebensjahre die Peer Group und fördert diejenige Form der Emanzipation von den Eltern – oder auch nur deren Lehren – , denen man etwas scheinbar Selbstgewähltes entgegen setzen will, und meist sind dies Grenzverletzungen. Sinnvolle Grenzerweiterungen würden dazu auch genügen, aber die vermeintliche Ich-Stärke hängt noch von der Zustimmung – den Strokes – der realen Anderen ab, die ihre Macht oft durch die verlangte Unterwerfung unter derartige Mutproben sichern. Gunter Schmidt spricht vom Selbstzwang durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Erwartungen und sieht die Voraussetzung in den emotionalisierten Bindungen in der Kleinfamilie (Schmidt, Der große: 38). In einer Gegenwart von nicht nur vaterlosem sondern weitgehend elternlosem Aufwachsen in zwei-Stunden-abends-arbeitsmüden Familien gewinnen mediale Elternersatzfiguren überwiegenden Einfluss – außer sie werden dialogisch in Frage gestellt (und damit wiederum diese Vorbildhaftigkeit von Selbstreflexion verinnerlicht).
Es braucht vorbildhafte Anleitung, Handlungsimpulse – aber auch Denkmuster – selbstkritisch auf ihre Folgen zu überprüfen und gegebenenfalls zu unterlassen, wenn man dafür – beispielsweise durch Strokes, die man sich aber auch selbst geben kann – entschädigt wird. In dieser Strokes-Quelle liegt die Gefahr der Manipulation wie politische Jugendbewegungen der jüngeren Vergangenheit gezeigt haben aber auch in der Gegenwart beweisen.
Handlungssteuernde Nervenzellen der prämotorischen Hirnrinde reagieren mit Resonanz, wenn man die Handlungen jemandes anderen beobachtet, weiß der Neurobiologe Joachim Bauer, und verweist darauf, dass jede ausgeführte willentliche Tat mit einer Aktivierung der Handlungsneurone beginnt, die den Plan bzw. das Konzept für die Ausführung der jeweils beabsichtigten Handlung im Programm haben. Erst kurz danach später kommt es zur Aktivierung der die entsprechenden Muskeln kontrollierenden Bewegungsneurone. Und Bauer betont: „Doch nicht jede Aktivität einer Handlungsnervenzelle führt zur Realisierung einer Tat. Das Handlungsneuron kann feuern, ohne die Handlung auszuführen, es also beim Handlungsgedanken, bei der Vorstellung einer Aktion bewenden lassen.“ (Bauer, Fühlen: 36)
Völlig ungewohnte, bisher unbekannte beobachtete Erlebnisinhalte – Bauer spricht von „bisher nicht erlebter Brutalität“ – werden besonders intensiv „abgespeichert“ und hinterlassen besonders intensive Vorstellungen und auch die Tendenz, Gesehenes spontan gleich selbst zu machen wie ein Kleinkind, wenn keine hemmenden neurobiologischen Systeme aktiv werden; deren Reifung beginnt etwa im dritten Lebensjahr und sind zumeist nach der Pubertät abgeschlossen. (Bauer, Fühlen: 37) Ergänzend möchte ich dazu festhalten: Daran kann man auch die Sinnhaftigkeit der Strafmündigkeit erst ab Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts erkennen, die in Hinblick auf die Suggestivwirkung der allgegenwärtigen audiovisuellen Medien eher erhöht werden müsste und nicht, wie vielfach in schwarzpädagogischer Verzweiflung empfohlen, die Berechtigung zur Strafverfolgung nach unten korrigiert.
Man kann aber auf Grund dieser neurowissenschaftlichen Beobachtungen aber auch die Negativfolgen frühzeitiger Konfrontation mit sexuellen Urszenen – es gibt für jedes Reaktionsmuster solch ein „erstes Mal“ – und die darauf basierenden Wiederholungszwänge erklärbar machen.
Auch wenn jemand meint, seinen Trieben machtlos ausgeliefert zu sein, liegt es an seinem Wissen und Einüben, die minimale Zeitlücke zwischen dem Feuern der Handlungsneuronen und dem der Bewegungsneuronen zu nützen, um andere als die bisher gewohnten Reaktionen zu finden oder zu erfinden anstatt das bisherige Verhalten zu rationalisieren[59].
7.2.2. Salutogenese
Der Neologismus Salutogenese – Aufbau und Förderung von Gesundheit – stammt von dem amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923 – 1994), der erstmals der Frage nachging, worauf sich das Phänomen gründe, dass manche Menschen in Hochstress-Situationen im Gegensatz zu anderen nicht dauerhaft erkrankten. Seine Studien ließen ihn eine Fähigkeit erkennen, die er „sense of coherence“ (SOC) nannte: diese individuelle Widerstandskraft (Resilienz) gegenüber der jeweiligen Situation zeigte sich in dem Vertrauen
- auf die Erklärbarkeit der Hochstress-Situation,
- Gestaltbarkeit, d. h. dass genügend Ressourcen erlangbar wären, dieser Situation zu begegnen, und
- Sinnfindung, d. h. dass sich die Anstrengungen zur Bewältigung lohnen würden. (Antonovsky: 36)
Der Paderborner römisch-katholische Priester und Psychologe Christoph Jacobs (* 1958), der sich in seiner Dissertation mit der Umsetzung dieser Erkenntnisse für die Pastoralpsychologie, aber auch Gesundheitsvorsorge von Priestern befasste, betonte darin vor allem die Notwendigkeit desPerspektivenwechsel von den Defiziterfahrungen zu Positiverfahrungen und damit zum christlichen Heilsbegriff in seiner umfassenden Konkretheit und Alltagsnähe. (Jacobs: 592 f.)
In dem von mir formulierten „Prinzip Salutogenese“ werden die drei oben zitierten Antonovsky-Kriterien umdefiniert wie folgt (Perner: 34 f):
- die Erklärbarkeit wird durch die vorgelagerte Wahrnehmung – beispielsweise der Defiziterfahrung – ersetzt,
- die Gestaltbarkeit wird durch Finden und allenfalls Erfinden von alternativen Verhaltensmöglichkeiten präzisiert, und
- statt Sinnfindung wird die bewusste und willentliche Auswahl der als richtig bzw. gerecht empfundenen Verhaltensweise betont und damit auch die Erarbeitung der Verantwortung nahe gelegt für den Fall, dass das eigene Handeln in Frage gestellt wird. Damit soll Selbst-Bewusstheit und Selbst-Sicherheit gestützt und spontane Regression in ängstliche oder schamerfüllte Unterwerfung unter fremden Willen verhindert (oder eben auch in eine bewusste Entscheidung verwandelt) werden.
7.2.3. Willentliches Handeln
Wenn das Kollektiv einen Wert nicht mehr vertritt, also eine Wertkrise eingetreten ist, betont Erich Neumann, fehlt dem Einzelnen die kollektive Orientierung. Dieser gerät nun in einen Konflikt, aus dem ihn keine Institution mehr befreien kann, sondern er muss die individuelle Lösung „erleiden und erfahren“ im Geschehen seines persönlichen Schicksals. (Neumann: 15)
Leben geschieht immer in einem Umfeld und Austausch von und mit anderem Leben – insofern braucht „unverkrüppelte“ Individuation wie auch Erhaltung der sozialen Gesundheit ein positiv antwortendes Du (anderenfalls wird ein solches in Wahnvorstellungen konstruiert).
In der Frage nach der Determiniertheit oder Indeterminiertheit menschlichen Handelns wird Willensfreiheit und Verantwortlichkeit oft als „nur ein ,soziales Konstrukt‘ (Wolfgang Prinz) und somit letztlich eine ,Illusion‘ oder eine ,Täuschung‘, ein lieb gewordenes Relikt vergangener Tage“ bezeichnet, weswegen müsse auch das Konstrukt der „moralischen Schuld“ zurückgenommen werden (Klein, Ich bin: 140). Wolf Singer wiederum behauptet, im Bezugssystem neurobiologischer Beschreibungen gäbe es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die nächste Handlung bzw. der nächste Zustand des Gehirns immer durch das unmittelbar Vorausgegangene determiniert sei. (Klein, Ich bin: 98) Bei diesen Erörterungen wird oft auf die Libet-Untersuchungen[60] Bezug genommen ohne zu bedenken, dass die beobachteten Gehirnaktivitäten nur die Zeitdauer bis zur Ausführung einer Handlung widerspiegeln, nicht aber die bewussten bzw. auch unbewussten Motivationen in ihrer Zeitdimension konkretisieren lassen.
Was in gelungenen tiefenpsychologischen Psychotherapien erreicht wird, ist verstärkte und letztlich beschleunigte körperliche, seelische, intuitive und auch kognitive Selbstwahrnehmung: man spürt, fühlt, erahnt und bedenkt weitgehend synchron – was bedeutet, dass keine der vier Wahrnehmungsfunktionen[61] überwiegt, eben weil man nicht eine davon unterdrückt[62]. Wenn Andreas Klein auf David Hume verweist, dass das Freiheitsproblem als Sprachproblem rekonstruiert und gelöst werden soll (Klein, Willensfreiheit: 203), so zeigt sich damit der Weg zur „Dehnung der Zeit“, die nötig ist um den „langen Atem“ der Willensbildung zu üben. Spontanimpulsen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Reizreaktion ohne Selbstbefragung und ohne frei gewählte Autosuggestion darstellen: das Es hat quasi das Ich überrumpelt.
Im inneren Dialog besteht die Chance (oder besser: Gnade), dass sich der Mensch als Doppelnatur (nach Freud sogar Dreifachnatur) und damit in seiner Konflikthaftigkeit erkennt. „Das Sein des inwendigen Menschen ist sprachlich verfaßt.“, erinnert auch Ulrich Körtner, und ergänzt, dass Glaube eine Weise des Verstehens von Sinn darstellt, der aus dem performativen Zuspruch von Gnade ergibt. Erst auf der Bedeutungsebene tritt das Wort Gottes in Erscheinung. (Körtner: 73)
Um zu erkennen, dass in Wortfolgen und damit auch Denkleistungen verschiedene Bedeutungen und Autosuggestionen erkennbar werden können, braucht es eine genau diese Wahrnehmung fördernde Neurosignatur und daher die Offenheit, Neues, Anderes, Gegensätzliches – auch in sich selbst – zu akzeptieren. Dieses sich-Öffnen lernt man in der personalen Begegnung (im Sinne von Buber und Rogers) – oder eben nicht. Oder in tiefen Verzweiflungssituationen, in denen die seelische Abwehr und Panzerung versagt und das Du des lebendigen Gottes erfahrbar wird. Im Zustand dieser Herzoffenheit verändert sich aber auch das subjektive Zeitempfinden und damit die Resilienz.[63]
„Es ist die Komplementarität der gegensätzlichen Perspektiven, in denen jeweils der Mensch als ganzer betrachtet wird, die in der Paradoxie der Doppelthese von Freiheit und Unfreiheit des Christenmenschen ihren sprachlich adäquaten Ausdruck findet.“, erklärt Ulrich Körtner: „Aus beiden Blickwinkeln erscheint der Mensch als ein Beziehungswesen. Nicht nur das leibliche, sondern auch das seelische Sein des Menschen ist relational verfaßt, d. h. aber auf ein Gegenüber bezogen.“ (Körtner: 72)
„Der Mensch wird am Du zum Ich“, lautet eine viel zitierte Formulierung von Martin Buber (Buber: 32); weniger bekannt ist sein Satz (aus der Sicht eines Mannes): „Wer ein Weib, ihr Leben im eigenen vergegenwärtigend, liebt: das Du ihrer Augen läßt ihn in einen Strahl des ewigen Du schauen.“ (Buber: 107) [64]
Gott und Liebe, Liebe und Gott, das ist eins. (1 Joh 4, 8)
8. Zusammenfassung
Masturbation ist eine Möglichkeit, depressive oder aggressive Stimmungen mit physischen Mitteln kurzfristig zu mildern. Ohne Kenntnis der Veränderbarkeit neuronaler Verschaltungsmuster, verharrt man auf Instrumentalität der genitalen unteren Körperebene, auf der die Fähigkeit zu zeugen bzw. zu empfangen angesiedelt ist.
Besitzt man diese Kenntnisse, liegt es an der augenblicklichen Willensentscheidung, sich selbst in den herzbetonten Zustand des Liebens – und damit der Erkenntnis des Liebeswerts der Schöpfung und ihrer Geschöpfe – zu bringen und damit die eigene Gottebenbildlichkeit zu erfahren und zu leben.
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Aus dem Internet
http://fragen.evangelisch.de/frage/3072/position-zur-masturbation, abgerufen am 23. 12. 2014.
[1] Z. B. „Der Vampirmann. Über Schlaf, Depression und die Weiblichkeit. Eine Forschungsnovelle“, Claassen 1989.
[2] V. E. Pilgrim betont etwa: „,Onanie‘ erhält noch einige Zusatzaufgaben [zur Vorbereitung auf den heterosexuellen Geschlechtsakt, Anm. RAP]: Sie ist bei äußeren Hemmungen Notventil, der Begriff ,Notonanie‘ wird eingeführt. Sie ist Trost-, Hilfs- und Beruhigungsmittel.“, relativiert aber sogleich: „Zwar bekommt sie die die Sonderfunktionen nur übertragen, wenn das normale Erwachsenenleben vorübergehend unnormal verläuft: Krieg, Gefangenschaft, Krankheit der Ehefrau usw.“ (Pilgrim: 93)
[3] Die beiden Grundsatzbücher des NLP (Neurolinguistisches Programmieren, als „NLPt“ vom Psychotherapiebeirat des österreichischen Gesundheitsministeriums als Psychotherapiemethode anerkannt) der beiden Schulgründer Richard Bandler und John Grinder heißen „Metasprache und Psychotherapie – Struktur der Magie I“ und „Kommunikation und Veränderung – Die Struktur der Magie II“ und verdeutlichen die Suggestivwirkungen von gesprochener wie auch nur gedachter Wörter und Sätze.
[4] V. E. Pilgrim, S. 18.
[5] In „Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als ,Angstneurose‘ abzutrennen“, Gesammelte Werke, Band 1, S. 340, zitiert nach Humberto Nagera (Hg.), Psychoanalytische Grundbegriffe, S. 521.
[6] Gegenwärtig wird diskutiert, einen neuen Tatbestand „Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung“ einzuführen: http://diepresse.com/politik/innenpolitik/4616894/Sexuelle-Selbstbestimmung_Minister-will-Gesetz-verschaerfen, abgerufen am 12. 12. 2014. Damit würden aber möglicherweise die massiven gesundheitlichen Folgen verschleiert.
[7] Interessante Erklärungen dieser „Hitze“ finden sich bei Jos van Ussel: er zitiert die Sichtweisen in vielgelesenen medizinischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts, dass zu warme Zimmer, Getränke, Speisen und Kleidung das Blut erhitzten, damit den Reifeprozess der Kinder beschleunigten; auch zu frühes und zu langes Lernen erhitze das Gehirn; da man annahm, dass zwischen Gehirn und Genitalien direkter Kontakt über das Rückenmark bestünde, käme es dadurch zu diesen Reizungen. (Van Ussel: 144) Ich sehe darin auch eine Erklärung für vielfach die empfohlenen Kaltwasserbehandlungen (Van Ussel: 160 f.). Bei V. E. Pilgrim findet sich sogar der Hinweis, „Daß Masturbation das Gehirn ausdörre, so daß es im Kopf des ,Onanisten‘ rasselt wie in einer trockenen Erbsenschote, wurde wiederholt berichtet.“ (Pilgrim: 51)
[8] http://www.profil.at/articles/1037/560/304883_s1/weibliche-lust-was-sie
Dieser Spannungsaufbau kann aber auch extragenital ausgelöst werden – beispielsweise durch Blicke oder Töne.
[9] Ich ergänze: oder Gegenständen; dabei denke ich an einen Klienten, der auf diese Weise nur mit Hilfe einer Kerze zur Ejakulation gelangen konnte und unter dem zusätzlichen Stress litt, diesen Notbehelf vor seiner Partnerin verbergen zu wollen. In der Prostitutionsszene dagegen hätte er unter Stichworten wie „griechisch“ oder „algerisch“ schnelle, allerdings kostenpflichtige Abhilfe gefunden.
[10] Ich ergänze wieder: oder durch andere Trigger (Auslösereize), und auch bei Erwachsenen!
[11] M. Schatzmann, S. 60.
[12] „Das Wahrzeichen der Selbstbefriedigung ist die zum Kreis gebogene Schlange, die sich in den Schwanz beißt.“, beruft sich V. E. Pilgrim auf den Jungianischen Psychoanalytiker Erich Neumann (und weist als Quelle das Wörterbuch der Psychologie von Kurt Sury aus dem Olten Verlag 1974 aus). Seine Zitierung erweckt den Anschein, als stamme es von Neumann selbst: „Das alte Modell vom menschlichen Selbstbildnis ist die Schöpfungsautonomie. ,Auf der mythologischen Uroborosstufe entspricht Onanie dem archetypischen Bild des Aus-sich-selbst-Zeugens und des Selbst-Schöpferischen.‘ “, doch scheint es sich um eine Interpretation Surys zu handeln. (Pilgrim: 84) Denn trotz mehrfachen Lesens konnte ich dieses Zitat bei Erich Neumann in seiner „Ursprungsgeschichte des Bewußtseins“, I. Der Uroboros, S. 18 – 42, nicht finden. Ganz im Gegenteil schreibt Neumann: „Die Autarkie des Uroboros darf auch da, wo sie sich als dominierender Archetyp durchsetzt, nicht reduziert werden auf die Begriffe der Auto-Erotik und des Narzißmus.“ (Neumann: 39) Im Übrigen sieht Neumann jedoch die Uroboros-Symbolik im historischen Verlauf als „Befruchtung durch Essen“ (Neumann: 37).
[13] Luther für alle Lebenslagen. Ein ehrlicher Zitatenschatz über Weiber, Fürsten, Pfaffen, Juristen, Geiz, Geld, Essen und das Leben- Ausgewählt und übersetzt von Arnulf Zitelmann. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 1989 – keine Seitenangaben: Abschnitt 2, zweite Textseite.
[14] In der Fußnote 1 zu dem Begriff Pollution auf Seite 74 schreibt Morton Schatzman: „Der Sohn und der Vater verwenden den Ausdruck für das, was man heutzutage ,feuchte Träume‘ nennt, d. h. die Ejakulation von Sperma im Schlaf. Das ,Pollutionen‘ zu nennen – was gleichbedeutend mit Unreinheit und Verschmutzung ist – bedeutet, ihnen Gefährlichkeit zu unterstellen.“ (Schatzman: 81)
[15] Ähnlich listet auch Ute Ranke Heinemann auf (Ranke-Heinemann: 326), während Ludger Lütkehaus in seiner Anthologie den Originaltext des Arztes Simon-André-David Tissot aus 1782 publiziert (Lütkehaus: 76 ff.). Weitere Auflistungen der mehr oder weniger sadistischen Methoden finden sich bei J. van Ussel (Van Ussel: 159 ff.), V. E. Pilgrim (Pilgrim: 44 ff.; 52 ff.), B. Zilbergeld (Zilbergeld: 111).
[16] “In psychoanalytischer Sicht ist die Verdrängung eine intrapersonale Abwehr, die aufgebaut wird, um realen, eingebildeten oder phantasierten Schaden abzuwehren. Freud sagt, daß ein Individuum seine Erfahrung verdrängt, wenn es befürchtet, daß diese es zu Handlungen führen kann, für die es, wie es sich erinnert (oder einbildet oder phantasiert), bestraft wurde oder für die es eine Bestrafung erlebt (oder sich einbildet oder phantasiert).“ (Schatzman: 116) Man könnte aus heutigem neurobiologischem Wissen sagen: wenn die Aktivierung solch eines „Bestrafungs-Neurons“ Kastrationsängste oder ein anderes Angst-Trauma aktiviert.
[17] Vermutlich Wilhelm Friedrich Hufnagel (1754 – 1830), ein Vertreter des Theologischen Rationalismus und der Aufklärung.
[18] Ford und Beach zitieren, dass nach Kinsey u. a. 92 % der amerikanischen Männer mindestens einmal bis zum Orgasmus masturbiert hätten. 69 % der amerikanischen Ehemänner, die ein College absolviert hatten, gaben an, mindestens gelegentlich zu masturbieren. Männer niedrigen Bildungsgrades hingegen hörten meist irgendwann in der Nachpubertät damit auf. (Ford/ Beach: 164) Bei den meisten amerikanischen Jungen käme sie durchschnittlich 2,4 mal pro Woche vor. Siegfried Keil zitiert aus A. C. Kinsey u. a., Das sexuelle Verhalten der Frau (1963): „Die Masturbation kommt in Amerika mit zwölf Jahren bei 12 % der Mädchen und 21 % der Jungen und mit 20 Jahren bei 33 % der Frauen und 92 % der Männer vor. (Keil: 132)
[19] Vgl. die Anleitungen im Großen Katechismus der katholischen Religion, approbiert vom österreichischen Gesamtepiskopat 1894, Österreichischer Bundesverlag, Wien und Leipzig 1927.
[20] Adelina Husslein wurde noch in den 1990er Jahren von der Politik als Expertin herangezogen.
[21] Dies könnte man möglicherweise als Reaktion auf seine nicht ganz freiwillige Verwicklung in eine Ménage à trois interpretieren.
[22] Foerster lehrte außer an den Universitäten in Zürich und München auch 1913 – 1914 an der Universität Wien. (http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_Foerster)
[23] Messer forderte 1932 Hitler schriftlich auf, auf seine Kandidatur als Reichspräsident zu verzichten und wurde 1933 aus dem Staatsdienst entlassen. (http://de.wikipedia.org/wiki/August_Messer)
[24] In Österreich wurde Sexualerziehung in der Schule mit Grundsatzerlass erstmals im Februar 1970 als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip verankert.
[25] Z. B. Uwe Sielert/ Siegfried Keil (Hg.)„Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule“, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1993; Uwe Sielert/ Karlheinz Valtl (Hg.), Sexualpädagogik lehren. Didaktische Grundlagen und Materialien für die Aus- und Fortbildung. Beltz Verlag, Weinheim Basel 2000; Bettina Weidinger/ Wolfgang Kostenwein/ Daniela Dörfler, Sexualität im Beratungsgespräch mit Jugendlichen. Springer, Wien New York 2007 (Masturbation fehlt).
[26] PGA (Hg.), Liebe, Sex und so viele Fragen + love Lexikon. Öbvhpt-Verlag, Wien 2006; Paul Joannides, Wild Thing. Sex-Tipps für Boys und Girls. Mosaik bei Goldmann, München 1998/ 2002.
[27] Dazu zählen auch Eltern.
[28] Frauen sprechen von ähnlichen Empfindungen, wenn sie sich beklagen, sie fühlten sich im Geschlechtsverkehr „nicht gewollt“; das wird oft als mangelndes Begehren verstanden, bedeutet aber aus meiner Sicht, dass keine personale Begegnung stattgefunden hat. So verstehe ich daher auch das Wort vom „ein Fleisch werden“.
[29] In Konfrontation mit dem heutigen Leistungsgebot sexueller Erfolge zähle ich mich zu denjenigen Psychotherapeut/innen, die eher die „Pflicht“ bzw. den „Belief“ (Glaubenssatz) zur stetigen Lust- und Leistungsbereitschaft in Frage stellen, was nachweislich nicht nur die sexuelle Selbstbestimmung als wesentlichen Bestandteil biopsychonoetischer Gesundheit fördert indem – auch kollusive – Machtspiele unterbunden werden und damit andere als die üblichen trivialen Erfahrungen ermöglicht werde.
[30] Helen Singer Kaplan, Sexualtherapie; Enke, Stuttgart 1979/ 83 2 sowie ds., Hemmungen der Lust. Neue Konzepte der Psychosexualtherapie, Enke, Stuttgart 1989.
[31] Zitiert nach G. Denzler, S. 186.
[32] Auch wenn derzeit ein Trend in den USA dahin geht, diese Altersgrenze herabzusetzen und auf jüngere Menschen – Kinder nach europäischem Recht – das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden, geht dieses Zeichen von Machtlosigkeit gegenüber mentaler Verwahrlosung wohl in die falsche Richtung: durch Strafandrohung lernt man keine Selbstbeherrschung bei Affektdurchbrüchen. (vgl. August Aichhorn, Verwahrloste Jugend, Verlag Hans Huber, Bern 1951/ 77)
[33] In dieser Menschengruppe finden sich auch Diät-„Verbissene“ und andere Orthorektiker, Flagellanten und Duellanten, süchtige Marathonläufer oder Extrembergsteiger oder andere „Aufstiegsfanatiker“.
[34] Zitiert mit „vgl.“ nach Peter Browns englischer Augustinus-Biographie, leider ohne Seitenangabe (sonst könnte ich in meiner deutschen Ausgabe nachsuchen).
[35] In „Aus den Anfängen der Psychoanalyse“, S. 92, zitiert nach H. Nagera, S. 520.
[36] Freud zitiert die Aussage Romain Rollands aus ihrem Briefwechsel über Freuds Artikel „Die Zukunft einer Illusion“ (1927): „Ein Gefühl, das er die Empfindung der ,Ewigkeit‘ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenzten, Schrankenlosem, gleichsam ,Ozeanischen‘. Das Gefühl sei eine rein subjektive Tatsache, kein Glaubenssatz; keine Zusicherung persönlicher Fortdauer knüpfe sich daran, aber es sei die Quelle der religiösen Energie, die von den verschiedenen Kirchen und Religionssystemen gefaßt, in bestimmte Kanäle gleitet und gewiß auch aufgezehrt werde.“ (Freud, Unbehagen: 197, Hervorhebung RAP)
[37] Diese Wortwahl bedeutet für mich, dass Freud diese Erfahrung offenbar unbewusst als Gefahr für das – sein- Ich bewertet.
[38] Ejakulation ist nicht gleich Orgasmus, Orgasmus ist nicht gleich Ejakulation. Beides kann getrennt erlebt werden. (Noerretranders: 14 ff.)
[39] D. Schnarch, S. 29.
[40] Wilhelm Reich (1897 – 1957) distanziert sich von der üblichen Deutung, dass Spannung nur unlustvoll sein könnte: „In der Vorlust wird Spannung erzeugt, die unlustvoll erlebt werden müßte, wenn die Befriedigung ausbliebe. Doch die phantasierte Lust der Befriedigung erzeugt nicht nur Spannung, sondern befriedigt auch ein kleines Quantum sexueller Erregung. Diese kleine Befriedigung und die Aussicht auf die große Endlust übertönen die Unlust der Spannung vor der völligen Abfuhr…“ Er unterscheidet in der Lust einen „motorisch-aktiven“ und einen „sensorisch-passiven“ Anteil, die „gleichzeitig“ in eines verschmelzen. [ – ] „Der Sexualtrieb ist nichts anderes als die motorische Erinnerung an bereits erlebte Lust.“ (Reich: 47 f.); ich stelle diese Gleichzeitigkeit auf Grund meiner Forschungsarbeit in Frage und folge der Sichtweise von Joachim Bauer, der auf Grund der modernen computergestützten Hirnforschung eine minimale Zeitlücke zwischen dem Feuern der Handlungsneuronen und den tatsächlich zur Ausführung strebenden Bewegungsneuronen feststellt (Joachim Bauer, Warum ich fühle: 36).
[41] Die transaktionsanalytischen Lehrtherapeuten Ian Stewart und Vann S. Joines betonen, ein „stroke“ ist jede Handlung, mit der jemand anders zur Kenntnis genommen, d. h. seine Existenz anerkannt wird. (Der Begründer der psychotherapeutischen Schule der Transaktionsanalyse, Eric Berne (1910 – 1970), der sich u. a. an den Forschungen von René Spitz orientierte, gebraucht hingegen statt dieses populär gewordenen Wortes die Formulierung „unit of recognition“ (Stewart/ Joines: 116). Man braucht Strokes, um körperlich uns psychisch gesund zu bleiben. (Stewart/ Joines: 25). Es gibt positive und negative Strokes, aber: „Jede Art von Stroke ist besser als überhaupt kein Stroke.“ (Stewart/ Joines: 118).
[42] Wenn man sich bei dem Phänomen der positiven oder negativen Zuwendung auf den bioenergetischen Output – Reich kreierte ja die sprachliche Metapher vom elektrischen Strom (Reich: 33) – konzentriert, wird auch die Dynamik des Sadomasochismus verständlich: es geht um den Empfang der energetischen Zuwendung bzw. der Reaktion auf die Zuwendung. In der Masturbation wird versucht, diese bioelektrische Reaktion unabhängig von einer Beziehung zu einer externen lebenden, daher unkontrollierbaren spendenden Quelle zu erlangen. Man könnte dieses Verhalten daher auch als asozial bezeichnen.
[43] „Das Sexuelle“ beschreibt Gunter Schmidt als „Knotenpunkt des Verhältnisses von Trieb und Kontrolle, von Individuum und Gesellschaft“. (Schmidt, Das große: 10) Die Sexualität hingegen ist eine Erscheinungsform davon. (Schmidt, Das große: 17)
[44] Vgl. Oscar Wildes Bonmot „Der einzige Weg, eine Versuchung los zu werden, besteht darin, sich ihr hinzugeben.“ (zitiert nach Schmidt, Der große: 43)
[45] Dies entspricht dem Prinzip Salutogenese, wie ich es in etlichen Publikationen (z. B. „Hand Herz Hirn – Zur Salutogenese mentaler Gesundheit“ (2010), Taschenbuchausgabe edition roesner, Mödling – Maria Enzersdorf 2014) neu formuliert habe.
[46] Das thematisieren Bücher über Beziehungssüchte wie vor allem Anne Wilson Schaef, Die Flucht vor Nähe, dtv, München 1992/ 94 (23. – 27. Tausend) oder der Bestseller von Robin Norwood, Wenn Frauen zu sehr lieben, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986.
[47] Vgl. Father Leo Booth, Heilung von religiösem Mißbrauch und religiöser Abhängigkeit. Ein Weg in die Spirituelle Freiheit. Spiritual Concepts Ltd., Köln 1998.
[48] In: Der Neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch von den Angängen bis zur Gegenwart. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2000/ 01 2, S. 521.
[49] In dem später auch publizierten öffentlichen Dialog zwischen Rogers und Buber 1957 fragte Rogers, wie Buber so ein tiefes Verständnis des menschlichen Individuums erwerben konnte ohne Psychotherapeut zu sein, worauf Buber auf seine drei Semester Studium an einer psychiatrischen Klinik hinwies. (Rogers / Schmid: 140)
[50] Dem entsprach auch die damals bevorzugte Rezeption der Schriften von Wilhelm Reich und Fritz Perls.
[51] Der Autor trennt dabei nicht zwischen Orgasmus und Ejakulation; tatsächlich sind zwei unterschiedliche Gehirnzentren daran beteiligt, dass es sowohl „trockene“ Orgasmen gibt als auch lustloses „Ausrinnen“ oder beides synchron zusammenfällt. Vgl. auch Frede Bro-Rasmussen, Die Anatomie des männlichen Orgasmus. In: Tor Noerretranders, S. 83 ff.
[52] Diese 12-Schritte-Programme gibt es nicht nur wie ursprünglich bei den Anonymen Alkoholikern, sondern ebenso beispielsweise für Drogenabhängige, Spielsüchtige, Sexsüchtige und auch für Überlebende sexueller Gewalt (AMACs = Adults molested as child).
[53] Dazu zitiert der Wissenschaftsjournalist Tor Noerretranders (+ 1955)den Roskilder Sexualwissenschaftler Willy Thrysoee (* 1945): „Problem der Männer ist der oberflächliche Orgasmus, begrenzt auf die Umgebung direkt um den Penis. Sie bekommen oft nicht das saugende und mystische Ganzheitserlebnis, über das Frauen berichten. Der männliche Orgasmus pflanzt sich selten in den Körper fort.“ Thrysoee beklagt, dass der männliche Orgasmus als Selbstverständlichkeit betrachtet und kaum erforscht werde. (Noerretranders: 14). Ich ergänze: für die reine Zeugung ist das auch unerheblich.
[54] S. H. Pfürtner, S. 45.
[55] Mit „Glaubenssätzen“, „Mythen“ oder „Beliefs“ wird in systemisch orientierten, d. h. dem Konstruktivismus verbundenen, Psychotherapien der geistig-sprachliche Ausdruck von etwas verstanden, an das jemand unreflektiert glaubt bzw. für wahr hält. Sie beziehen sich nicht auf den religiösen Glauben.
[56] Johannes Thiele formuliert pointiert: „rabiate Sexualität, rasche Trieberfüllung, keuchende Gefühllosigkeit.“ (Thiele: 15)
[57] Zu solchen Vorbildern gehören auch pornografische Darstellungen, autoerotische Inszenierungen inbegriffen.
[58] Dass Kerscher dabei neben der feministischen und homosexuellen Emanzipationsbewegung auch Pädophile als sexuelle Minderheit anführt, kann allerdings stutzig machen.
[59] Mit Rationalisierung oder Intellektualisierung wird in der Psychoanalyse die Abwehrform der „vernünftigen“ Erklärung und Verteidigung von dysfunktionalen Denk- und Verhaltensweisen bezeichnet.
[60] Der Physiologe Benjamin Libet (1916 – 2007) führte Ende der 1970er Jahre Messungen des zeitlichen Abstands zwischen dem Auftrag zu bestimmten Handbewegungen und den auslösenden neuronalen Aktivitäten durch. In Biofeedback- Experimenten, an denen ich selbst in den 1980er Jahren teilgenommen habe, konnte ich gut beobachten, wie lange ich brauchte um mich in die jeweils angepeilten psychischen Zustände zu bringen, die dann am Monitor sichtbar wurden. Mein Resümee schon damals war: die Kompetenz zur Affektkontrolle liegt in der Bewusstheit und am Training der neuroplastischen Kompetenz.
[61] Vgl. Jolande Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1977/ 82 (21. – 25. Tausend), S. 20 ff.
[62] Das führt logischerweise zu einem Verlust an trainierter Intellektualität.
[63] Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in der „sanften Geburt“: durch die Entspannungsfunktion des Vertrauens vermindern sich Schmerzempfindungen. Leider wird in diesen Geburtsvorbereitungen nicht darauf hingewiesen, dass man auch in anderen unangenehmen Situationen durch die ausgeführte Entscheidung zu vertrauen aus Gottvertrauen mit der Gnade des Selbstvertrauens beschenkt werden kann.
[64] Die allgemein-soziale wie auch beraterische Erfahrung mit homosexuell liebenden Menschen zeigt, dass diese Aussage auch auf gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen zutritt.