Pfr. Markus Fellinger

Evangelische Spiritualität
und die Ausgegrenzten

Vortrag am
Mag. Paul Weiland Gedächtnis Symposium
21. Oktober 2016

Zu allererst zwei persönliche Vorbemerkungen:

Mein erster Eindruck von Paul Weiland

Im Februar 2011 rief mich Paul Weiland an. Er habe von mir und von meinem Interesse an kategorialer Seelsorge gehört. Er suche dringend jemanden, der Arno Preis, der in die Krankenhausseelsorge nach Wien wechselt, nachfolgen könne. Ob ich mir das nicht überlegen möchte. Das tat ich. Im März besuchte ich ihn. Ich kannte ihn bis dahin nur von den Medien und vom Sehen. Das erste, was mir auffiel war, dass der Tisch gedeckt war mit Essen. Bei ihm sollte niemand Hunger haben. Der Tisch war forthin immer gedeckt, wenn ich zum regelmäßigen Austausch zu ihm kam. Ich hatte selten Hunger oder einen Bedarf nach Essen. Aber der gedeckte Tisch war wie ein Markenzeichen, ein Symbol von Großzügigkeit und Willkommen, Wesenszüge, die Paul Weiland auszeichneten in allen Belangen: Es ist genug da, alle sollen teilhaben.

In dieser ersten Begegnung spürte ich, wo sein Herz schlägt. Es schlägt für jene, die nicht am gedeckten Tisch sitzen, die keinen Platz haben in der Gesellschaft. Es war ihm ein dringendes Anliegen, gerade diese Gefängnispfarrstelle wieder zu besetzen, obgleich wahrscheinlich nur wenige innerhalb der Kirche und der Justiz sie vermisst hätten, und die Proteste der Inhaftierten hört man nicht jenseits der Mauern. Am Ende unseres sehr persönlichen Gesprächs, in dem wir uns gefunden hatten, reichte er mir die Hand und sagte: „Für mich ist die Sache klar. Sie sind der richtige Mann für diese Aufgabe. Überlegen Sie sich das.“ Das tat ich in der darauf folgenden, schlaflosen Nacht und wusste in der Früh, dass ich es wagen will.

Der erste Eindruck verfestigte sich in den kommenden Jahren: Für Paul Weiland war die Hinwendung zu denen, die nicht am gedeckten Tisch sitzen, die sich nicht artikulieren können, kein Nebenschauplatz der Kirche, sondern ihre zentrale Aufgabe. Die zeigte sich in fast allen Bezügen, drei davon aber möchte ich heraus heben.

  • Da ist am deutlichsten sichtbar die größtmögliche Unterstützung der Flüchtlingsarbeit der evangelischen Diakonie. Dass nach seinem Tod eine vor einem halben Jahr neu in Betrieb genommene Unterkunft der Diakonie in Baden „Paul Weiland Haus“ genannt wurde, ist eine treffliche Entsprechung seines Anliegens und ein würdiges Gedenken genau an dieser Stelle.
  • Das zweite ist das große Bemühen, die diakonische Arbeit in den Gemeinden zu fördern. Die ARGE Diakonie der Diözese nimmt sich dieses Anliegens an und veranstaltet zweimal im Jahr Studientage und gibt Impulse für die örtliche Arbeit. In allen Pfarren sind Diakoniebeauftragte, die das Anliegen nach Möglichkeiten umsetzen. Dahinter steht der Gedanke, dass die Ortsgemeinde nicht sich zum Selbstzweck hat, sondern in das öffentliche und soziale Leben der Kommune gerufen ist und dort gerade die wahrnehmen möge, die „Bewirtung“, Beheimatung brauchen.
    Im Jahr der Diakonie 2013 wurde eine symbolische Aktion in der Diözese durchgeführt, die diesen Akzent – die Unsichtbaren sichtbar machen – besonders zum Ausdruck brachte: In jeder Pfarrgemeinde brannte ein Jahr lang eine Kerze aus der JA Göllersdorf auf dem Altar und erinnerte an die Menschen, die am Rande oder jenseits der Gesellschaft leben.
  • Und schließlich möchte ich auf das eingehen, was ich dann von innen kennen lernte: Die Gefängnisseelsorge. Im Gebiet der Diözese liegen 10 JAs. Man sieht sie und sieht sie nicht. Gefängnisse sind Orte, die man wahrnimmt, indem an sie nicht wahrnimmt. Da sind jene, die man weg haben will, die nicht Teil der Gesellschaft sein sollen. Ein Gefängnis ist ein Ort des „weg-Seins“. Höchstens die voyeuristischen Blicke der Billigzeitungen werden für interessant befunden, nicht aber die Sorge um die Menschen, die dort leben und arbeiten. Es ist nicht selbstverständlich, dass gerade für diese Arbeit ein Pfarrer frei gestellt wird, obgleich die Anzahl evangelischer Inhaftierter eine sehr geringe ist. Es war Paul Weiland wichtig, hier ein Zeichen zu setzen. Er interessierte sich immer und ließ sich in fixen Terminen etwa alle 6 Wochen berichten. Er nahm von Herzen Anteil.
    An Hand meiner Erfahrungen in dieser Arbeit möchte ich in Reflexion und Beispielen Aspekte evangelischer Spiritualität aufzeigen, die sich gerade in der Hinwendung zu Ausgegrenzten zeigt.

Die zweite Vorbemerkung ist ein eigentlich selbstverständlicher Hinweis, der aber m.E. oft zu wenig klar ausgesprochen wird. Jede theologische Reflexion entspringt immer einer Biographie. Wenn ich evangelische Spiritualität gerade dort erkenne, wo es um Ausgegrenzte geht, dann auch deswegen, weil mein Blick eben so geprägt worden ist – nicht zuletzt auch durch meine evangelisch-methodistische Prägung. Man hat eben nur die eigenen Augen, durch die man sieht. Das heißt aber nicht, dass alle Erkenntnisse rein subjektive Sichtweisen sind, die sich an nichts anderem als der eigenen Erfahrung orientieren, sondern die Biographie fließt in die Lesart der Heiligen Schrift ein und gibt ihr die entsprechenden Akzente, die aber überprüfbar bleiben müssen. Das Maß – und das ist nun Kern evangelischer Spiritualität – bleibt die Orientierung an der Heiligen Schrift, in ihren Sinnzusammenhängen. Darum möchte ich meine Überlegungen zu meinem Thema mit einer biblischen Betrachtung beginnen.

„Evangelische Spiritualität und die Ausgegrenzten“ – eine biblische Betrachtung

Rö 14,17: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Friede und Gerechtigkeit und Freude im Heiligen Geist

Paulus bringt hier etwas auf den Punkt, was m.E. gerade evangelische Lesart geprägt hat. Hintergrund ist die Auseinandersetzung darüber, ob Fleisch, das Göttern geopfert worden ist, nun verzehrt werden dürfe oder nicht. Immerhin könnte diese Widmung – so dürften die Bedenken gewesen sein – eine Wirkung haben, oder zumindest sollte man das andere Bekenntnis durch den Verzicht auf dieses Fleisch zum Ausdruck bringen. Diese Fragestellung ist in dieser Form nicht mehr aktuell, aber die dahinter liegende Frage sehr wohl in der Fragestellung „Darf ich denn dieses oder jenes als Christ?“, bzw. „Wie praktiziere ich meine Religion, meinen Glauben?“ Paulus antwortet denkbar liberal, indem er religiöse Praxis generell in Frage stellt. Es geht im Reich Gottes, im Miteinander der Menschen unter der Herrschaft Gottes, nicht um richtiges oder falsches religiöses Handeln, sondern um den Schalom Gottes, Frieden und Gerechtigkeit auf der einen Seite, als das nie aufzulösende Begriffspaar, und die Freude im Heiligen Geist auf der anderen Seite. Eine Freude also, die nicht in erster Linie Reaktion auf glückliche Umstände oder äußere Verhältnisse ist, sondern von der lebensspendenden Kraft herrührt, die zu einer inneren Übereinstimmung, einer Zufriedenheit des Herzens führt. Beides gehört zusammen: die soziale Außenwelt und die individuelle Innenwelt – so zeigt sich die Herrschaft Gottes. Und eben nicht in kultischen Formen. Es bleibt wahrscheinlich der jeweiligen Lesart der gesamten Heiligen Schrift anheim gestellt, diese Abgrenzung als eine Akzentuierung zu werten – oder als eine schroffe Abgrenzung, bis hin zu einer immanenten Religionskritik. Ich neige zu Zweiterem. Das Kultische, das Religiöse, steht unter Verdacht, sich sehr schnell zu verselbständigen und sich so vom sozialen Frieden auf dem Boden der Gerechtigkeit und von dem innersten Bedürfnis des Menschen nach individueller Übereinstimmung zu entfernen.

Das zeigt sich vor allem auch bei Jesus in der von allen Evangelien berichteten Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten. Vor allem in der Auseinandersetzung über den Sabbat, der eben nicht für sich heilig ist, wenn er nicht dem Menschen dient, sondern umgekehrt. Vor allem aber auch im sozialen Verhalten Jesu, der sich über alle Abgrenzungsvorschriften hinwegsetzt und sich gerade zu denen gesellt, die von der (religiösen) Gemeinschaft ausgeschlossen waren, den so genannten Sündern, den Zöllnern, Prostituierten und Hirten. Und er berührt die Unberührbaren, die vom Aussatz betroffenen. Er hat keine Scheu, sich kultisch unrein zu machen. Sein ganzes Leben ist eine einzige Kultkritik in der Tradition der Propheten, besonders der Jesaja-Bücher. Er scheint geradezu alles auf den Kopf zu stellen, was so klar abzugrenzen war, indem er gerade den Glauben der Anders- und damit Falschgläubigen herausstreicht, der sich eben im sozialen Handeln erweist, wie jenes vom sogenannten barmherzigen Samariter. Und wie bezeichnet er gerade den Glauben der Andersgläubigen als den „großen“ Glauben oder als den Glauben, der geholfen habe.

Für mich ist es immer ärgerlich, wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen, dass hier nichts von Jesu Leben zwischen Geburt und Folterung zum Ausdruck gebracht wird. Mir wäre bei dieser etwas ermüdenden Rezitation des Apostolikums um Vieles wohler, würden wir zumindest auch einen Satz einfließen lassen wie: „Und er aß mit den Sündern und berührte die Aussätzigen“. Denn nur vor diesem Hintergrund ist auch die Kreuzigung zu verstehen. Aber offenbar liegt es in der Sogkraft des Religiösen und Allzureligiösen, lieber die Gefahr eines Heilsautomatismus´ von Kreuz und Auferstehung in Kauf zu nehmen, wo man nur „richtig“ glauben müsse, als die soziale Herausforderung oder Provokation festzuschreiben. Eine christliche Praxis ist immer noch zahmer als ein jesuanisches Leben, das sich einmischt in das Leben dieser Welt, indem es gerade die Ausgegrenzten aufsucht und die Unsichtbaren sichtbar macht. Das, was wir heute „christlich“ nennen hat sich von diesem Jesus aus Nazareth weit entfernt. Für mich ist es nicht mehr so leicht möglich, das Wort „christlich“ zu verwenden, solange dies auch politische Parteien tun, die dieses Wort zur Ausgrenzung und für äußere Zäune und innere Mauern verwenden. Wäre es nicht viel jesuanischer, wenn wir darauf verzichten würden, von einem „christlichen“ Land zu reden, wenn wir von dem unseren reden und vielmehr davon, dass wir ein Land sein wollen, wo sich das Reich Gottes in seinem Schalom und der inneren Zufriedenheit der Menschen – die sich auch in der Befreiung von Neid abzeichnet – zumindest im Ansatz zum Ausdruck bringt? Wo eben der Glaube, auch der andere, seinen Platz hat und vielleicht in seiner Größe des Vertrauens zum Staunen und zum Ansporn des Eigenen wird.

Vor diesem Hintergrund meine ich, ist der Glaube im Sinne Jesu nichts anderes als die gelebte Liebe. So verstehe ich auch Paulus, wenn er das – oft so romantisierte – Hohelied der Liebe in Kor 13 einleitet, indem er sagt: „Ich zeige euch nun einen anderen Weg….“, und dann platziert er eben diesen wunderbaren Text mitten in die Auseinandersetzung über Ämter und deren Wertigkeit und der Bewertung verschiedener charismatischer Erfahrungen und sagt damit: Alles hat irgendwie mehr oder weniger Bedeutung, aber es geht nicht darum. Es geht nur um die Umsetzung der Liebe. Und das ist kein Glaubensbekenntnis und keine Form, sondern ein Weg, das gelebte Leben also.

Wenn das so ist, dass religiöse Praxis nichts anderes bedeutet, als das profane Leben im Alltag in Liebe, Gerechtigkeit und Friede, dann stellt sich die Frage, ob nicht so eine Überforderung oder zumindest ein Druck ausgelöst wird, dem nur schwer standzuhalten ist. Wäre es nicht leichter, eine religiöse Praxis zu haben, die man als solche einfach tun kann: Gebete verrichten und Regeln befolgen?

Das wäre dann der Fall, wenn mein Leben in sozialem Engagement und Einsatz für Gerechtigkeit nicht Antwort auf die Liebe Gottes wäre, sondern deren Bedingung. Dann aber wäre es eben nicht die Liebe, die mich treibt, sondern religiöse Ängstlichkeit nicht zu genügen. Liebe kann nur Antwort sein, Antwort auf „das Wort“, das uns trifft, auf den Zuspruch, auf den Segen, auf das Liebesbekenntnis Gottes. Darum ist evangelische Spiritualität auf das Wort ausgerichtet. Da ist eben nicht nur das Verbale gemeint und auch nicht nur intellektuelle Bildung und Theologie. Das wohl auch. Aber in aller erster Linie bedarf es des Wortes als Zuspruch und Segen, nur aus dem heraus auch unser Leben wieder zum Segen wird. Es bedarf der Zuwendung, um sich zuwenden zu können. Damit unser Leben in diesem Sinne evangelischer religiöser Reduktion nicht eine ethische Anstrengung oder eine wohltemperierte Mittelmäßigkeit wird.

Evangelische Spiritualität sucht also nach dem Wort, das nährt, Wegweisung und Mut gibt und findet es in verschiedener Weise in der Heiligen Schrift, vielleicht in der schlichten Form der Herrnhuter Losungen oder eben auch im Gottesdienst. Aber es ist nicht die Verrichtung religiöser Praxis, sondern nur der Quellort zu dieser, die im profanen Leben vollzogen wird. Es tut mir Leid, dass so wenige vom Gottesdienst eine Quelle spiritueller Kraft erwarten, aus der sie schöpfen für sich und für jene, zu denen sie gesandt sind, weil sie mit ihnen leben und arbeiten.

Als ich in OÖ Pfarrer war, zählte zu meinem Gemeindebezirk auch eine ganz kleine Gemeinde. Da kamen etwa 10 Personen zum Gottesdienst. Unter anderen auch eine Frau. Sie kam jeden Sonntag. Sie ließ keinen Gottesdienst aus. Ihr Mann fand das lächerlich und ärgerlich. Aber sie ließ sich diesen Gottesdienst nicht nehmen. Und wenn man sie gefragt hat, warum er ihr so wichtig sei, antwortete sie: „Weil ich Friseurin bin“. Sie ging mit ihrem Handwerkszeug in die Altenpflegeheime und in die Palliativstation des Krankenhauses und machte die Menschen schön auf ihrer letzten Lebensstrecke. Sie hat sich ihren Kunden ganz zugewendet, hat zugehört und sie berührt – und schön gemacht. Für mich ist sie ein Vorbild gelebter evangelischer Spiritualität geworden: Sie stieg ein in den Fluss der Zuwendung. Das Ziel war nicht der schöne Gottesdienst, sondern die Menschen schön zu machen, ihnen Würde und Freude an sich selbst zu geben.

Das Stichwort „Würde“ ist für mich wie ein Leitfaden meiner Tätigkeit als Gefängnispfarrer. Das Gefängnis ist ein Ort der Scham. Hier landen Menschen, die sich vielleicht selbst Würde genommen haben, indem sie die Würde anderer beschädigt haben. Wahrscheinlich wurde ihnen schon Würde genommen, ehe sie zu Tätern wurden, und je genauer man hinschaut, desto unauflöslicher wird die Kette der Entwürdigung. Das Gefängnis ist manchmal wie eine Manifestation der latenten Beschämung einer gesamten Biographie. Die Menschen wieder schön machen, wie diese Friseurin, das kann ich nicht einfach tun. Und dennoch trage ich diesen Wunsch in mir, dass dies geschieht in den einen oder anderen Begegnungen.

Da passiert es zum Beispiel relativ oft, dass ich mit „Hochwürden“ angesprochen werde, wenn sich herausstellt, dass ich Pfarrer bin. Ich weiß nicht immer gleich, wie spöttisch oder wie ernst es gemeint ist, mir ist das auch egal. Ich bleibe immer sofort stehen und gehe auf diese Anrede ein, indem ich mich für sie bedanke. Aber ich füge dann hinzu: „Sie dürfen mich gerne wieder so anreden. Aber nur unter der einen Bedingung: dass ich auch zu ihnen „Hochwürden“ sagen darf. Denn ihre Würde ist nicht weniger hoch als die meine“. Das irritiert meist ziemlich und manchmal führt es zu einem Gespräch, in dem das, was wir intern das „allgemeine Priestertum“ nennen, in ganz anderen Worten aktuell wird.

Ich gehe dann weiter, an den Türen der Hafträume vorbei. Und immer wieder finde ich Tafeln, auf denen „Ritualkost“ steht. Die religiöse Praxis von Moslems wird respektiert. Und vielleicht kommt dann ein gläubiger Moslem auf mich zu und grüßt mich freundlich. Er will dann wissen, wie ich denn meinen Glauben praktiziere und meine Gebete verrichte. Es gesellt sich ein Orthodoxer hinzu und erzählt, wann er fastet und wie Ostern gefeiert wird und bittet mich um eine Kerze (die ich aber nicht geben darf). Und dann kommt noch ein Katholik und fragt, ob ich nicht einen Rosenkranz dabei habe. Und tatsächlich, in meiner Tasche habe ich immer Rosenkränze eingesteckt, die für mich ein lieber Diakon einer Wiener Pfarre sammelt. Sie sind begehrt. Ich persönlich habe gar keinen Bezug dazu und auch keine angenehmen Assoziationen. Aber ich möchte die ganz andere Frömmigkeit achten und vor allem den Ausdruck dafür oder mehr noch die Bitte, sich irgendwo anhalten zu können. Ich höre einen Hilfeschrei, ein Gebet, das sich eben so ausdrückt. Es gehört für mich zu meinem Evangelischsein substantiell dazu, dass nicht alle evangelisch sein müssen oder sollen. Das Andere, mir Fremde ist bisweilen notwendige Ergänzung und hinter mancher Form kann sich manch Aberglaube oder aber Glaube finden, selbst dann, wenn dieser von einer anderen Religion ist.

Einmal kam ich in der Früh in die JA Stein. Um in mein Büro zu kommen, muss ich den Warteraum für Besucher durchqueren. Da bemerkte ich eine Frau, die bitterlich weinte. Ich ging zu ihr hin und fragte sie, was sie bedrücke und ob ich etwas für sie tun könne. Sie war Muslima. Sie bat mich, ihren Sohn zu besuchen. Er sei im Hochsicherheitstrakt des Hochsicherheitsgefängnisses untergebracht. Er war verurteilt wegen Beteiligung an einer terroristischen fundamentalistischen Organisation. Er war 23 Stunden am Tag eingesperrt. Er empfing mich freundlich. Wir kamen ins Gespräch und sprachen über die Allbarmherzigkeit Allahs. Ich hatte das Gefühl, mit einem Glaubensbruder zu reden. Er bat mich, ihm einen Gebetsteppich zu besorgen. Das tat ich. Es war wichtig für ihn. Er hielt sich strikt an die Gebetszeiten. Ich besuchte ihn oft und spürte, dass uns eine große Sympathie verbindet, vielleicht eine Liebe, die höher war als unsere religiösen Bekenntnisse. Zu Weihnachten bekam ich einen langen Brief von ihm. Es war die schönste Weihnachtspost, die ich bekam. Dann wurde er nach Bosnien abgeschoben. In unserem letzten Gespräch sagte er, wenn er in Bosnien wieder auf freiem Fuß sei, dann werde er sich für den Dialog zwischen den Religionen einsetzen. Der „große“ Glaube des anderen hat nicht zu gleichem Inhalt und nicht zur ähnlichen Form, sondern ins Gespräch geführt, in dem das Unterschiedliche durch eine größere Liebe zusammengehalten wurde.

Auch in der Feier des Heiligen Abendmahls, das ich in jedem Gottesdienst schon aus diesem Grund feiere, da gerade hier so sichtbar Trennendes, auch sprachlich Trennendes, überwunden wird, kommt das Verbindende zum Ausdruck. Es gibt nur wenige evangelische Insassen in den Gefängnissen, in denen ich arbeite. Die meisten Gottesdienstbesucher sind katholisch oder orthodox oder ohne Bekenntnis, manchmal auch ein Moslem. Und alle sind eingeladen zum „Tisch des Herrn“ zu treten, denn Jesus lud alle ein, die unter schweren Lasten litten…. Ich habe dafür herbe Kritik erhalten, dass ich nicht nur die Evangelischen einlade. Ich betone diese Einladung und füge hinzu, dass es nur einen Hinderungsgrund gäbe, zum Abendmahl zu gehen, nämlich, wenn man dies aus irgend einem Grund nicht wolle. Niemand möge sich bedrängt fühlen.

Besonders berührend ist die Feier des Abendmahls in der JA Göllersdorf, wo Menschen mit unterschiedlich starker psychischer und geistiger Beeinträchtigung leben. Als ich das erste mal dort feierte, tat ich es so, wie ich es sonst auch gewohnt bin: Wir schließen einen Kreis um den Abendmahlstisch mit Brot und Wein/Saft. Neben mir stand einer der auffälligsten und schwierigsten Patienten des Hauses. Er war wie ein Loch, das alles in sich aufsaugen musste, hatte aus seiner Beeinträchtigung heraus kein Gefühl für Nähe und Distanz und seine Impulskontrolle war eingeschränkt. Er hatte nur ein Auge, das andere hatte er sich heraus gerissen. Immer wieder schluckte er Besteck und andere Dinge. Es war schwierig mit ihm, aber ich mochte ihn. Er umarmte mich immer heftig, wenn er mich sah. So dachte ich mir nichts dabei, dass er auch jetzt meine Nähe suchte. Doch plötzlich stürzte er sich zum Kelch und schüttete mit einem einzigen Sog den Inhalt in sich hinein. Hinten sprangen die Wachebeamte auf und waren ganz entsetzt: Da griff einer ins Allerheiligste. Ich ließ ihn gewähren. Nach dem Gottesdienst vereinbarte ich mit ihm einen Deal: Er dürfe nach jeder Feier den Rest des Saftes austrinken, aber er müsse warten bis zum Schluss. Fortan kam er vor dem Gottesdienst in die Sakristei und erinnerte mich daran, den Kelch bis an den Rand anzufüllen. Und bald gehörte es zur feierlichen Liturgie, dass dieser besonders „Aussätzige“ den Kelch austrinkt. Das Allerheiligste ist er. Nun ist verstorben. Aber es gibt einen Nachfolger. Und auch er – ein gläubiger Katholik – bringt evangelische Spiritualität auf das Trefflichste zum Ausdruck, die nicht das Ritual und die Form zum Allerheiligsten macht, sondern den Menschen in seiner Bedürftigkeit.

Schluss

Und somit sind wir wieder am gedeckten Tisch des Paul Weiland gelandet: Es ist genug da und alle sollten eingeladen und satt werden. Und ganz besonders jene, denen man keinen würdigen Platz mitten im Leben einräumt. Sie sind hochwürdigste Würdenträger, so wie wir. An ihnen, den Ausgegrenzten erweist sich Spiritualität darin, ob sie jesuanisch ist – und ob man sie dann evangelisch nennt oder anders, wird dann nicht mehr wichtig sein.


Nähere Infos über das Mag. Paul Weiland Gedächtnis Symposium, das am 21-10-2016 am Campus Krems der Kirchlich Pädagogischen Hochschule stattgefunden hat, finden Sie hier >>>


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