Rotraud A. Perner
21-04-2013
Die Wiederkehr des Verdrängten
Vom Unbehagen am Denken und der Wiederentdeckung der spinozistischen Denklust in manchen psychotherapeutischen Ansätzen
Der einfacheren Lesbarkeit wegen wurden durchgängig die männlichen Sprachformen gewählt – sie sind geschlechtsneutral zu verstehen.
Weiters wurde in den kursiv gesetzten Zitaten die Originalschreibweise beibehalten.
Inhaltsverzeichnis:
I. Warum dieser Titel für diese Seminararbeit?
II. Metaphysik und Affektenlehre bei Spinoza
III. Überlegungen zu Spinozas Affektenlehre aus psychotherapeutischer Sicht
- Die triviale Erleuchtung – am Beispiel Byron Katie
- Der Sog des Conatus
- Angst und Vertrauen
- Die Resilienz-Falle
- Die Spontaneitäts-Falle
- Die Selbstverwirklichungs- Falle
- Die Obsoleszenz der Ich-Sucht
- Ich-Stärke als coincidentia oppositorum
- Die Sehnsucht nach Entgrenzung
- Verwendete Literatur
I. Warum dieser Titel für diese Seminararbeit?
Die Überlegungen der Autorin dieser Arbeit folgen dem Ziel, nachzuweisen, wie sehr sich die Axiome und Lehrsätze von Spinozas Affektenlehre in bestimmten psychotherapeutischen Denkweisen – ohne dass in deren Theorien darauf Bezug genommen würde – wiederfinden und in praxi im Behandlungserfolg effektivieren.
Die Autorin – vom Erstberuf Juristin, danach postgradual ausgebildet als Sozialtherapeutin und Mediatorin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin, Andragogin sowie Kommunikations- und Sprachforscherin – widmet in ihrer akademischen Lehr- und Forschungstätigkeit spezifisches Augenmerk den Zusammenhängen der Wirksamkeit von in Sprache gegossenen Denkformen – vor allem in den jeweiligen Disziplinen, die auf Veränderungen menschlichen Verhaltens hinzielen – auf Emotionen, Gefühle und Handlungsimpulse. Versucht man mit dem Ziel praktischer Salutogenese diese Wahrnehmungsmöglichkeiten (entsprechend dem 2. Lehrsatz im 5. Buch der Ethik: „Wenn wir eine Gemütsbewegung oder einen Affekt von dem Gedanken der äußeren Ursache trennen und mit anderen Gedanken verbinden, so werden die Liebe oder der Haß gegen die äußere Ursache, wie auch die Schwankungen des Gemüts, die aus diesem Affekt entspringen, vernichtet werden.“) nicht nur Klienten sondern jedermann zu vermitteln, findet sich in Spinozas Affektenlehre eine klare Struktur ergänzend zur theoretischen Begründung dieses Anliegens. Dies soll nachfolgend verdeutlicht werden.
Mit den Worten „Verdrängung“ und „Denklust“ im Titel der Arbeit soll darauf hingewiesen werden, dass zwar seit dem sogenannten Psychoboom der zweiten Hälfte des 20. Jhdt.[1] kognitives Denken zugunsten der „repressiven Entsublimierung“ (Reimut Reiche) „verdrängt“ wurde, jedoch in den Konzeptionen der Systemischen Therapien wiederzufinden ist.
In deren Gefolge gestattet sich die Autorin als deklarierte Vertreterin und Befürworterin des radikalen Konstruktivismus (Heinz v. Foerster, Ernst v. Glasersfeld, aber auch Paul Watzlawick) und demzufolge auch der kreativen Weiterentwicklung von Fachsprachen im III. Teil dieses Textes den Versuch einer „Wissenschaftspoesie“ (Lucas Pawlik) und sieht dies auch als Reverenz gegenüber der Sprache Martin Bubers.
II. Metaphysik und Affektenlehre bei Spinoza
Im Ersten Teil seiner Ethik „Über Gott“, definiert Spinoza Gott als das absolut unendlich Seiende, d. h. die Substanz, in der sich alle möglichen Attribute vereinen; Attribute bedeuten dabei all das, was der Verstand als zum Wesen der Substanz gehörig erkennt.
Substanz ist Spinozas Benennung für „… das, was in sich ist und durch sich begriffen wird; d. h. das, dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.“[2] Dieser Substanzbegriff Spinozas als Urgrund alles Seienden bedeutet nicht nur eleatisch eine „causa sui“ sondern Wirksamkeit im Sinne von „Deus sive Substantia sive Natura“ als „natura naturans“.[3] Dem folgt sein Lehrsatz 15 in Ethik I: „Alles was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch begriffen werden.“[4] Was nun der Verstand als aus dem Wesen der Substanz abgeleitet erkennt, nennt Spinoza Attribut, während er mit dem Wort Modus die „Affektionen der Substanz oder das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird“[5] bezeichnet, also eine „Erregung“[6], erkennbar beispielsweise in Eigenschaften, Befindlichkeiten. „Ein Modus ist nicht die Ursache seiner selbst, sondern durch andere Ursachen bewirkt.“, und: „Insofern er bedingtes Ding ist, ist er begrenzt und hat seine Zeit.“[7] Logischerweise ergibt sich daraus, was der 1. Lehrsatz in Ethik I besagt: „Die Substanz ist von Natur früher als ihre Affektionen.“[8]
So betont Spinoza bereits in „Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück“ hinsichtlich des Menschen, da keine Substanz einen Anfang haben kann, eine Substanz keine andere hervorbringen kann und auch nicht zwei gleiche Substanzen sein können, der Mensch daher keine Substanz sein kann sondern Teil der geschaffenen Natur, und: „Daher ist alles, was er vom Denken hat, nur Modus des denkenden Attributs, das wir Gott zugeschrieben haben, und wiederum alles, was er von Gestalt, Bewegung und anderen Dingen hat, gehört in gleicher Weise zu dem anderen Attribut, das Gott zugeschrieben wird.“[9]
Carl Gebhardt, der Herausgeber der „Kurzen Abhandlung“, schreibt in seiner Einleitung, das Streben der neuen Zeit von Renaissance und Reformation sei dahin gegangen, die Zweiheit der Welt zu überwinden, indem es die Zwei-Welten-Lehre durch die Lehre der Welteinheit ersetzte; dies hätte mit der Auflösung des Universalismus der Begriffe begonnen, sich in der Bejahung des tätigen Lebens und der daraus folgenden Autonomie der Persönlichkeit fortgesetzt und in der objektiven Welt-Gott-Einheit der Naturphilosophie und der subjektiven Welt-Gott-Einheit mystischer Religiosität vollendet, und so habe auch Spinoza bereits in der Kurzen Abhandlung den Immanenzbegriff auf allen Gebieten durchgeführt.[10]
Präziser schreibt Helmut Seidel, „Der in der Natur existierende menschliche Körper und die Idee dieses Körpers sind ein und dasselbe Ding, das einmal unter dem Aspekt der Ausdehnung und zum anderen unter dem Aspekt des Denkens betrachtet wird. Die Dualität von Körper und Seele, von der die Theologen viel Aufhebens gemacht haben, indem sie der Seele supranaturalistische Eigenschaften zuschrieben, ist damit aufgehoben.“[11] Der Satz Seidels, „Modi sind Daseinsformen der Substanz, aber solche, die durch die Attribute der Substanz vermittelt sind.“[12], deuten auf die Gleichzeitigkeit von Ausdehnung und Denken, von Körperlichem und Geistig-Seelischem (wobei der in dieser Formulierung der Textverfasserin enthaltene Zeitaspekt insofern sofort korrigiert werden soll, als er sich auf die innewohnende Wahrnehmungsmöglichkeit bezieht, nicht auf einen naturwissenschaftlich biophysikalisch geführten Nachweis).
Diese Überwindung der Dualität zeigt sich auch im Axiom 6 in Ethik I, das lautet: „Eine wahre Idee muß mit ihrem Gegenstand übereinstimmen.“[13] In der Psychoanalyse heißt dieses Postulat schlicht „Realitätsprüfung“.
Spinoza unterscheidet im Lehrsatz 41 in Ethik II drei Gattungen von sogenannter Erkenntnis: „Die Erkenntnis erster Gattung ist die einzige Ursache der Falschheit, die Erkenntnis zweiter und dritter Gattung aber ist notwendig wahr.“[14] In der „Kurzen Abhandlung“ formuliert Spinoza in Hinblick auf das „Bewußtsein der Erkenntnis unserer selbst, und der Dinge, die außer uns sind“, man erhielte sie „1. allein durch Glauben (welcher Glaube entsteht entweder durch Erfahrung, oder durch Hörensagen), oder 2. erhalten wir sie durch einen wahren Glauben, oder 3. haben wir sie durch klare und deutliche Erkenntnis.“[15], wobei das Unterscheidungsmerkmal in Fällen der zweiten Gattung in der Überprüfung liegt und in der dritten in besonderer Kritik. Die allerklarste Erkenntnis als vierte Gattung nennt er Intuition.[16] Er präzisiert in der Folge: „Wahn nennen wir die erste, weil sie dem Irrtum unterworfen ist und niemals statthat bei etwas, dessen wir sicher sind, sondern nur dort, wo von Vermuten und Meinen die Rede ist. Glauben nennen wir das zweite, weil die Dinge, die wir bloß mit der Vernunft erfassen, von uns nicht eingesehen werden, sondern uns bloß durch verstandesmäßige Überzeugung bekannt sind, daß es so und nicht anders sein muß. Klare Erkenntnis aber nennen wir das, was nicht durch vernunftgemäße Überzeugung, sondern durch ein Fühlen und Genießen der Dinge selbst entsteht, und diese geht weit über die andren.“[17]
In seiner „Ethik“ formuliert Spinoza im II. Teil in Lehrsatz 35: „Die Falschheit besteht in einem Mangel an Erkenntnis, den die inadäquaten oder verstümmelten oder verworrenen Ideen in sich schließen.“[18] Wenn man nunmehr davon ausgeht, dass die übliche Form, „Wissen“ zu erwerben, von mehr oder weniger wohlmeinenden anderen Personen – also von äußeren Quellen – stammt und selten überprüft oder ausgiebiger Kontrolle unterzogen wird, erweisen sich die meisten Denkweisen als inadäquat, verstümmelt oder verworren, daher unwahr. Spinoza erbringt daher auch den Nachweis an Hand von Beispielen, wie Leidenschaften aus dem von ihm Wahn Genannten entstehen; er beginnt mit Verwunderung, Liebe, Hass und Begierde, welch letzte er als Verlangen, das, was einem fehlt, zu bekommen bzw. zu behalten.[19] Was nun aber nach Spinoza das Sein der Seele wirklich bestimmt, ist die Idee des Körpers.[20] „Die menschliche Seele erkennt ihren eigenen Körper, ferner die auf diesen einwirkenden äußeren Körper und schließlich sich selber nur dadurch, dass sie die Ideen von den Affektionen des Körpers wahrnimmt.“[21] Wenn man dazu Lehrsatz 16 aus Ethik II, „Die Idee eines jeden Modus, wodurch der menschliche Körper von äußeren Kräften affiziert wird, muß die Natur des menschlichen Körpers und zugleich die Natur des äußeren Körpers in sich schließen.“[22], in Beziehung setzt und mit Lehrsatz 17, „Wenn der menschliche Körper affiziert ist durch einen Modus, der die Natur eines äußeren Körpers in sich schließt, so wird der menschliche Geist diesen äußeren Körper als wirklich existierend oder als ihm gegenwärtig betrachten, bis der Körper durch einen anderen Affekt affiziert wird, der die Existenz oder die Gegenwart dieses Körpers ausschließt.“[23] ergänzt, erschließt sich die Aussage Spinozas, das ein Affekt immer nur durch einen anderen Affekt in Grenzen gebracht werden kann.[24]
Nun schreibt Spinoza in der Definition 3 in Ethik III, „Über den Ursprung und die Natur der Affekte“: „Unter Affekte verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen der Affektionen.“[25] und unterscheidet in Definition 1 zwischen adäquaten Ursachen dieser Affektionen, deren Wirkung klar und bestimmt durch diese Ursache erkannt werden kann, von inadäquaten (oder partialen) Ursachen, deren Wirkung durch diese Ursache allein nicht erkannt werden kann.[26] Und er setzt in Lehrsatz 11 von Ethik III hinzu:: „Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das Denkvermögen unseres Geistes.“[27]
Aber, wie Lehrsatz 55 in 3. Buch der Ethik aufdeckt: „Wenn sich der Geist sein Unvermögen vorstellt, empfindet er eben dadurch Unlust.“[28] Die Lösung aus diesem Mechanismus findet sich im 2. Lehrsatz im 5. Buch der Ethik, dass, wenn man eine Gemütsbewegung oder einen Affekt vom Gedanken der äußeren Ursache trennt und mit anderen Gedanken verbindet, die von dieser Gedankenverbindung hervorgerufenen Gefühlsreaktionen nicht weiterbestehen bleiben können[29], denn, wie es im folgenden Lehrsatz 3 heißt: „Ein Affekt, der ein Leiden ist, hört auf, ein Leiden zu sein, sobald wir eine klare und deutliche Idee von ihm bilden.“[30] Da der Mensch das Potenzial besitzt, von seinen Körpererregungen klare Begriffe zu bilden, da seine Vernunft die Dinge als notwendige, d. h. zu seiner Natur gehörig, zu erkennen vermag ist er in der Lage, Irrtümer und damit Leiden zu überwinden und Herr über seine Affekte zu werden.
III. Überlegungen zu Spinozas Affektenlehre aus psychotherapeutischer Sicht
In diesem nachfolgenden Teil der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, wie das autosuggestive Denken der „inadäquaten Idee“, Gefühle würden von äußeren Ursachen hervor gerufen, wären daher nicht steuerbar und müssten ganz bestimmte unvermeidliche Verhaltensweisen nach sich ziehen, verhindert, das Potenzial der eigenen Persönlichkeit derart zu vervollkommnen, dass unnötiges geistig-seelisches[31] Leiden vermieden werden kann.
Spinoza ist aus psychotherapeutischer Sicht zuzustimmen, dass niemand gänzliche Kontrolle über seine Affektionen erlangen könne: biopsychonoetische Reaktionen beginnen mit einem Impuls als erste Enervation des jeweils „erlernten“[32] Reiz-Reaktions-Schemas. Wird allerdings dieser Impuls wahrgenommen und kritisch auf Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit kontrolliert, was die Verzögerung sofortiger Reaktionen voraussetzt, kann er durch andere als die gewohnten Reaktionsweisen ersetzt werden.
Diese Entschleunigung der Spontanreaktionen findet sich auch in den Zielen buddhistischer Meditationspraxis. „Durch das Praktizieren von Vipassana lernt der Meditierende, nicht zu reagieren.“[33], denn: „Solange weiterhin Konditionierungen zur Entwicklung von Verlangen vorhanden sind, wird der Geist auch künftig dazu neigen, in jeder angenehmen Situation mit Begehren zu reagieren.“[34], und: „Wenn die konditionierten Reaktionen einer bestimmten Art aus dem Geist entfernt sind, ist man von dieser Art des Leidens frei.“[35]In dieser indisch-buddhistischen Meditation wird das Ziel der Lösung irdischer Strebungen über den Körper praktiziert – Spinoza hingegen zeigt den Weg über adäquate Gedanken – die Vernunft.
In der Psychotherapie teilen sich ihre Methoden in solche, die primär über Wahrnehmung und Akzeptanz von Gefühlen oder Körperempfindungen aber selten über rationales Denken Zugang zu ungelebten heilsamen Potenzialen suchen; der Weg über die Ratio kann aber erfahrungsgemäß zu religiösen Erkenntnissen führen.
Vom Unbehagen am Denken und der Wiederentdeckung der Denklust
1. Die „triviale Erleuchtung“ – am Beispiel Byron Katie
Byron Katie (geb. 1942 als Byron Kathleen Reid) war eine Durchschnittsfrau – zwei Ehen, drei Kinder – aus einer kleinen Stadt in der Wüste Südkaliforniens, und schwerst psychisch krank.[36] Schließlich begab sie sich in ein Therapiehaus. Dort wachte sie nach etwa einer Woche auf dem Boden liegend auf und war ein anderer Mensch: „Ich erkannte nichts mehr. Es war so, als sei etwas Anderes aufgewacht. Es öffnete seine Augen. Es sah durch Katies Augen. Und es war entzückt! Es war berauscht vor Freude. Es gab nichts, wovon es getrennt gewesen wäre, nichts, was inakzeptabel gewesen wäre; alles war vollständig sein eigenes Selbst.“[37]
Die Autorin dieser Seminararbeit hatte das Buch von Byron Katie vermutlich 2007 auf Empfehlung einer Kollegin gelesen. Während des aktuellen Seminars zur Philosophie Spinozas fielen ihr deren vier Fragen zur Gedankenkontrolle wieder ein. Sie lauten: „Ist das wahr?“ und „Kannst du absolut sicher wissen, dass das wahr ist?“ (Die Autorin formuliert in ihrer psychotherapeutischen Arbeit: „Kannst du/ können Sie bei Gericht beweisen, dass das wahr ist?“) – „Wie reagierst du auf diesen Gedanken?“ (Die Autorin formuliert stattdessen: „Welche Gefühle löst dieser Gedanken bei dir/ Ihnen aus?“) – „Wer wärst du ohne diesen Gedanken?“ (Die Autorin bevorzugt: „Wie würdest du / würden Sie fühlen, wenn du diesen Gedanken nicht hättest?“, dann lachen die meisten Klient/innen und es kann nachgefragt werden, welche anderen Gefühle und Gedanken alternativ genutzt werden könnten). Die beiden letzten Fragen entsprechen der klassischen „systemischen“ Therapie, in der es darum geht, neue „Wirk-lichkeiten“ zu konstruieren.
Was beim Wiederlesen des Buches für diese Arbeit bewusst ins Auge sprang, war, dass Byron Katies Textgestalter, der Literaturwissenschaftler und Übersetzer Stephen Mitchell, dem Buch ein – offenbar von ihm selbst frei formuliertes – Zitat von Baruch de Spinoza (Mitchell zitiert als Ethik V, 15. Lehrsatz) vorangestellt hat: „Je klarer wir uns selbst und unsere Emotionen verstehen, desto mehr lieben wir das, was ist.“[38] In der Übersetzung von Jakob Stern lautet dieser Lehrsatz: „Wer sich und seine Affekte klar und deutlich erkennt, liebt Gott, und umso mehr, je mehr er sich und seine Affekte erkennt.“[39]
Verbindet man diesen 15. Lehrsatz des 5. Buches allerdings mit dem 13. Lehrsatz, „Mit je mehr anderen Vorstellungen eine Vorstellung verbunden ist, desto mehr lebt sie auf.“[40], so bedeutet dies aus dem Blickwinkel einer neuropsychologisch fundierten Psychotherapie: je mehr Wahrnehmungsneuronen in der Assoziationskette einer durch einen Trigger aktivierten Neurosignatur feuern, desto stärker verankert sich dieses Reaktionsmuster oder anders gesagt: je „eingeübter“ ein inadäquater Gedanke – eine inadäquate Idee – eingeprägt ist, desto mehr wird er mit anderen Gedanken neuronal, also organisch, vernetzt sein. Dies entspricht auch dem Hinweis Spinozas in der Erläuterungen zu der Allgemeinen Definition der Affekte, „daß die Idee, welche die Form des Affekts ausmacht, vom Körper etwas bejaht, was tatsächlich mehr oder weniger Realität in sich schließt als vorher“.[41]
Spinoza verwendet das Wort „imago“, welches Jakob Stern mit Vorstellung übersetzt.; C. G. Jung bezeichnete damit knappe 300 Jahre nach ihm die verinnerlichten Repräsentanzen von Bezugspersonen in etwa entsprechend dem Freud’schen Über-Ich. In der psychotherapeutischen Schule der Transaktionsanalyse werden diese Repräsentanzen humorvoll als „Kopfbewohner“[42] bezeichnet, „jene Anteile unserer eigenen Person – wir könnten sie auch Gedanken über uns selbst nennen –, mit denen wir uns selbst ansprechen“[43].
Diese Einschränkung auf kognitiv Wahrnehmbares verengt; Imagines haben aus Sicht der psychotherapeutischen Praxis der Autorin vor allem emotionalen Gehalt[44], und der kann und wird auch vielfach mit Bezugspersonen der jungen Jahre zusammen hängen, kann aber auch in ganz anderen affektiven Erfahrungen (beispielsweise einer „Neugeburt im Geist“, Joh 3,3) wurzeln.
In ihrer Lehrtätigkeit hat die Autorin für den Prozess der Psychotherapie (egal nach welcher Methode) die Definition „Schaffung neuer Neurosignaturen“[45] entwickelt.
Auch jede Erziehung oder Werbung – sei sie interpersonell oder medial z. B. auf Kaufanregung oder Stimmabgabe hin gestaltet – zielt auf Schaffung bestimmter Neurosignaturen; der Unterschied zu einer nondirektiven Psychotherapie besteht abgesehen von der fachlichen Ritualisierung darin, dass Psychotherapiepatienten wissen, dass – und meist auch was – sie an ihrem Verhalten und Lebensstil ändern wollen, allerdings aber nicht wie, und dass das abzuschließende Arbeitsbündnis vor allem dieses Ziel festhält (und ebenso, wenn sich dies im Laufe der Arbeit ändern sollte). Aber auch das Erkennen und verwerfen inadäquater Ideen schafft eine grundlegende neue Neurosignatur.
Die von Freud als Titel eines Aufsatzes 1914 gewählte, leider meist missverstandene Formulierung „Erinnern – wiederholen – durcharbeiten“ bedeutet für erfahrene Psychotherapeuten, dass nicht das bloße Erinnern an affizierende Erlebnisse zum Verschwinden der Folgen von deren Gedächtnisspuren führt, sondern dass die seinerzeitigen Gefühle nochmals durchlebt, d. h. durchlitten werden und neu und anders neuronal verankert werden müssen. Dabei wird dieser neuronale Prozess üblicherweise nicht demonstrativ entschlüsselt sondern bleibt als Kunst des Therapeuten dessen Geheimwissen. Die Aufgabe des Psychotherapeuten als Experten für Setting und Methode besteht allein darin, diesen Prozess zu ermöglichen, zu fördern und stützend zu begleiten. Dieser Vorgang könnte aber auch, wenn er begleitend „enttarnt“ wird, das Prozedere dieser Selbstverbesserung offenkundig und damit für Selbstgestaltung verfügbar machen: dann könnte der Patient bzw. Klient selbst kognitiv sein Denken und Fühlen überprüfen und steuern und in eine realistische Dimension gegenüber der Schöpfung, nämlich seines Potenzials als Attribut der Substanz, bringen – so wie es Spinoza erkannt und „ordine geometrico“ ausformuliert hat. Allerdings wäre dann die psychotherapeutische Dienstleistung obsolet geworden – und auch Byron Katie könnte ihre „Frage-Methode“ nicht mehr weltweit unter dem Titel „The Work“ vermarkten.
2. Der Sog des Conatus
Fragt man sich nun aus psychotherapeutischer Sicht, was die überwiegende Zahl der Menschen hindert, ihr Selbststeuerungsvermögen zu optimieren, zeigen sich die aus dem ersten Lebensjahr stammenden so genannten oralen Bedürfnisse nach Versorgtwerden durch andere und ihr negatives Pendant, die Überlebensangst, die aus Situationen erwächst, in denen Versorgungssicherheit nicht gegeben war.
In der Psychotherapie mit Patienten mit Suchtproblematik oder Essstörungen findet man fast immer viele Mikrotraumata aus dieser noch sprachlosen frühesten Kindheit. Sie wurzeln in der Ignoranz der Bezugspersonen, die sich nicht die Mühe des Denkens und Sprechens machen wollen – auch wenn sie den Impuls dazu in sich spüren – oder können –, weil sie kein Verhaltensmodell besitzen wie dem Kind beispielsweise zu erklären wäre, dass es auf die Befriedigung seines Bedürfnisses noch warten muss. „Wozu sprechen – es versteht es ja noch nicht!“ Ja, das Kind versteht nicht die Grammatik der Worte – aber es versteht den Gedankensinn jeder Neurotransmitterausschüttung. (Forschungsberichte dazu gibt es von der französischen Säuglingspsychoanalytikerin Caroline Eliacheff[46].)
Das Gehirn wächst durch ständige Interaktion in affektiven Erfahrungen, betont der Psychiatrieprofessor an der George Washington University Stanley I. Greenspan[47]. Besser wäre es wohl, das Wort „wachsen“ durch die Formulierung „verändert sich“ zu ersetzen: sie umfasst Wachstum ebenso wie Schrumpfprozesse (wie beispielsweise der Amygdala nach Schwersttraumatisierungen[48]), wie sie durch Fachleute aus dem Gebiet der neueren computergestützten Gehirnforschung beschrieben werden.
Dazu folgende Sichtweise: Am Anfang steht der Mangel, das Versagen (These). Wie auch immer das Kind darauf reagiert, folgen unterschiedliche Reaktionen der Bezugspersonen: sie liefern die Worte, mit denen diese kindlichen Reaktionen – selten einfühlsam akzeptierend oder erklärend, meist kritisierend, verbietend, bestrafend oder gar gewalttätig – bewertet werden (Antithese). Das Kind steht vor dem Dilemma zwischen Anpassung und Unterwerfung (womit sich nichts ändert, sondern alles im Wiederholungszwang weiter gegeben wird) oder Protest und Widerstand nach außen aber auch nach innen (Synthese – die nächste Entwicklungsstufe wird erreichbar).
Spinozas Lehrsatz 2 im 5. Buch der Ethik lautet: „Wenn wir eine Gemütsbewegung oder einen Affekt von dem Gedanken der äußeren Ursache trennen und mit anderen Gedanken verbinden, so werden die Liebe oder Hass gegen die äußere Ursache, wie auch die Schwankungen des Gemüts, die aus diesen Affekten entspringen, vernichtet werden.“[49]
Für die psychotherapeutische Arbeit bedeutet dies: sobald der Patient erkennt, dass seine Gemütsbewegung nicht unbedingt auf seine jeweilige Frustrationserfahrung folgen muss – er also bisher einer inadäquaten Idee zu gehorchen pflegte – , er ganz im Gegenteil zwischen vielen möglichen Gefühlen, daher auch Gleichmut, wählen kann und damit Seelenruhe erlangt, liegt es an ihm, sich dieses leibseelische Wohlgefühl wie auch die intellektuelle Erkenntnislust zu gönnen.
Warum gelingt dies aber so wenigen Menschen bzw. warum wehren viele dieses Ziel ab? Antwort: weil sie damit weder Aufmerksamkeitsenergie noch Mitleidsenergie, nicht einmal Streitenergie erlangen können. Sie nehmen lieber seelische oder gar körperliche Missbefindlichkeiten in Kauf nur um die energetische Zuwendung von Mitmenschen zu bekommen, deren sie zu bedürfen meinen und daher auch so spüren; dies kann als Überlebensstrategie, die aus frühkindlichen Leiderfahrungen herrührt interpretiert werden. Antonio Damasio schreibt in „Ich fühle, also bin ich“ mit Verweis auf Lehrsatz 22 aus dem 4. Buch der Ethik, „Laut Spinoza ist der Selbsterhaltungstrieb die erste und einzige Grundlage der Tugend.“[50] Dieser Lehrsatz lautet: „Keine Tugend kann vor dieser (nämlich vor dem Bestreben, sich zu erhalten) begriffen werden.“[51]
Es scheint sinnvoll, dem den Lehrsatz 6 aus dem 3. Buch zu: „Jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren.“[52] zuzufügen, weil dies einerseits auf Spinozas Begriff des „conatus“ hinweist, andererseits auch auf den, in der Systemischen Therapie wesentlichen Begriff der Homöostase (oder Homöodynamik)[53], zum Dritten aber auch offen und daher konkretisierungsbedürftig lässt, was unter „Sein“ zu verstehen ist – den gegenwärtig wahrgenommenen Zustand oder die umfassende Existenz (was der psychotherapeutischen Berufserfahrung der Autorin gemäß von den wenigsten Menschen differenziert wird – daher als Autosuggestion „Ich will so bleiben, wie ich bin“, was bedeutet, Gedanken an Verbesserungsbedarf abzuwehren, wirksam wird – und folglich Weiterentwicklung erschwert). In den Lehrsätzen 7 – 15 finden sich weiter ausführende Aussagen über dieses „Bestreben“ – so Sterns Übersetzung von Spinozas Begriff des „conatus“ –, die sich heute als gedankliche Grundlage in etlichen der so genannten „lösungsorientierten“ psychotherapeutischen Interventionen wieder findet.
So lauten Anleitungen zum Überdenken und zur Realitätsprüfung z. B. in der Systemischen Paartherapie oder in der NLPt: Was ist / war das eigentliche und konkrete Ziel? Wie wird / wurde das Ziel angepeilt? Hat sich das Ziel während dieses Prozesses geändert? Oder die Befindlichkeit? Oder haben sich die Personen geändert? Oder die Rahmenbedingungen? Das Ziel im therapeutischen Prozess liegt dabei im Erkennen von fixierten Erwartungen oder Gefühlszuständen, die nicht – mehr – aktuelle Geltung besitzen.
3. Angst und Vertrauen
Wenn es in Lehrsatz 7 im 3. Buch heißt, „Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als das wirkliche Wesen des Dinges selbst.“[54], so kann dieser Satz auch so interpretiert werden, dass vor dem Verharrungsstreben schon eine Idee von Veränderungsmöglichkeiten – d. h. ein Abstraktum zu der Körperempfindung des beginnenden oder bereits ablaufenden Veränderungsprozesses – bestehen muss, und dass diese Idee die Unlustgefühle hervorruft (sonst würde sie ja freudig begrüßt). Es erhebt sich dann die Frage, weshalb Veränderung bzw. bestimmte Arten von Veränderung verhindert werden sollen. Stanley Greenspan formuliert dazu: „Die Fähigkeit, emotional erzeugte Vorstellungen zu prüfen und logisch zu organisieren, ist an die Reifung von Gehirn und Nervensystem geknüpft, aber auch an reiche Erfahrungen, die dieses biologische Potential herausfordern und ihm Form geben.“[55]
Dazu: Lehrsatz 9 im 3. Buch besagt: „Der Geist strebt, sowohl insofern er klare und bestimmte als auch insofern er verworrene Ideen hat, in seinem Sein auf unbestimmte Dauer zu verharren, und er ist sich dessen seines Strebens bewusst.“[56] Dazu sei erwähnt, dass Stanley Greenspan die Frage, warum bestimmte Erfahrungen und Erinnerungen bewusst bleiben, während andere dem Bewusstsein relativ unzugänglich sind, zu den interessantesten Geheimnissen der Seele zählt, und Freuds Sichtweise zitiert, manche davon würden aktiv verdrängt, weil sie mit anderen Seiten der Persönlichkeit in Konflikt gerieten.[57] Dem sollte zugefügt werden, dass sogar die Möglichkeit des An- und Nachdenken verdrängt wird, d. h. gar nicht ins Bewusstsein kommt. Nach einigen Hinweisen auf die verschiedenen Stadien der „Denkweisen“, die Kinder durchlaufen und die deren Erinnerungsfähigkeit beeinflussen[58], betont Greenspan, am besten erinnere man sich an Erfahrungen, wenn man sich in demselben Geisteszustand befindet, in dem man sie gemacht hat[59]. Die Wiederkehr dieses Zustands entspricht dem, was Sigmund Freud mit „Wiederholen“ (in „Erinnern – wiederholen – durcharbeiten“) ausdrücken wollte und auf dessen spontanes Eintreten in der klassischen Psychoanalyse geduldig gewartet, hingegen in der personzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers emotional „angespiegelt“[60] wird, während er in tranceinduktiven Therapieformen wie der Hypnotherapie nach Milton H. Erickson oder in der NLPt (Neurolinguistischer Psychotherapie) durch gezielte Anleitungen viel schneller und tatsächlich auch bewusster erreicht werden kann.[61]
Gefährden diese Geisteszustände den angestrebten Zustand von Wohlbefinden, werden sie vermieden. Greenspan erinnert, dass bei Angstzuständen das Denken oft auf eine frühere Stufe regrediert.[62] Genau dieses Festhalten am Vermeidungsverhalten gefährdet aber Weiterentwicklung. Um von diesem Festhalten zum Loslassen fortschreiten zu können, braucht es Vertrauen, und dieses herzustellen ist erste Aufgabe der so genannten humanistischen Psychotherapien – die letzte wäre es dann, die Bewusstheit über die jeweils eigene Disposition der Wahlmöglichkeiten zu fördern. Da diese Wahl dem potenziellen Irrtum unterliegt, würde sie nach Spinoza unter „Wahn“[63] zu subsumieren sein. Man könnte das aber auch nicht ganz so streng sehen, nämlich als ersten Schritt der Erkenntnis aus dem Wahn heraus.
Spinoza bezeichnet Affektionen (Leidenschaften) als Modi, durch die die Attribute (das Wesen-tliche der Substanz, welche die Natur ist), ausgedrückt werden; von den Attributen kann der Mensch nur Geist (Denken) und Körper (Ausdehnung) erkennen – wobei in der „ersten“ Substanz, Gott, die alles hervorgebracht hat, beides vereint ist. Das wirkliche Wesen eines Dinges ist aber sein conatus – sein Bestreben.
Als erste Leidenschaft nennt Spinoza die Verwunderung, die entsteht, wenn etwas Neues, weil bisher nicht Bekanntes gesehen wird[64], gefolgt von Liebe, die aus Meinungen oder aus Hörensagen stammt – stammt sie hingegen aus wahren Begriffen dient sie der Reifung.[65] Auch ihr Gegenteil, der Hass, stammt aus dem Hörensagen ebenso wie die Begierde, „ob sie nun allein besteht (wie einige meinen) in der Lust oder dem Verlangen, das was einem fehlt, zu bekommen, oder (wie andere meinen), die Dinge zu behalten, die wir bereits genießen“[66].
4. Die Resilienz- Falle
In persönlichen wie besonders kollektiven Umbruchzeiten, wenn man erlebt oder befürchten muss, seine Existenz zu verlieren und aus der sozialen Gemeinschaft heraus zu fallen, nimmt die Suche nach Helfersystemen zu. Umfassten diese in den vergangenen Jahrhunderten primär Angebote religiöser Natur bzw. sekundär aus deren „Schattenbereich“[67] von Magie und esoterischer Selbstvergöttlichung, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge des so genannten Psychobooms eine Trainingsszene, deren Dienstleistungen Anleitung und Einübung persönlicher Sieger-Kompetenzen versprechen[68]. Zu diesen propagierten Persönlichkeitseigenschaften zählt Widerstandskraft gegenüber belastenden oder potenziell traumatisierend wirkenden Lebenssituationen; sie wird Resilienz genannt und bereits als Erziehungsmethode für kleinste Kinder vermarktet[69].
Hinter dem entwicklungspsychologischen/ pädagogischen Förderungsanspruch, schon jüngste Menschen sollten über Resilienz verfügen, verbirgt sich die Forderung, auch Unerträgliches zu ertragen ohne dessen Ursachen und Entstehungsbedingungen zu hinterfragen oder zu verändern zu suchen. Zwar wird nicht ein Gefühle abstumpfendes Härtetraining propagiert, wie es Erik H. Erikson am Beispiel der Yurok enttarnte[70], das Ziel ist aber auch nicht, die Selbstinszenierung von Gefühlsreaktionen und damit deren Veränderbarkeit bewusst zu machen.
Spinoza schreibt: „Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das Denkvermögen unseres Geistes.“ (3. Buch, Lehrsatz 11.)[71] Im Psychoboom wird für den Erwerb angeblich das Tätigkeitsvermögen des Körpers, Denkleistungen inbegriffen, vermehrender Fähigkeiten geworben. Wenn Spinoza im Lehrsatz 12 schreibt: „Der Geist strebt, soviel er vermag, sich das vorzustellen, was das Tätigkeitsvermögen des Körpers vermehrt oder fördert.“[72], so trifft dies nicht nur auf die Vorstellungslust der Konsumentenschaft zu sondern ebenso auf die der Anbietenden. Auf beiden Seiten wird gehofft, mittels des Erwerbs von Resilienz den Unlustgefühlen von Schwächung, Schwachheit und drohender Exklusion entkommen zu können. Allein die Nähe zu einer Elternersatzfigur, als die sich Trainer oder Therapeuten (aber auch Angehörige anderer Dienstleistungsberufe) automatisch präsentieren, nährt solche Ideen. Auch Spinoza weist darauf hin, wenn er schreibt, dass „wir infolge der Schwachheit unserer Natur, nicht bestehen könnten, ohne etwas zu genießen, mit dem wir vereinigt und durch das wir gestärkt werden“[73]
Demgegenüber wird in der psychotherapeutischen Schule der Transaktionsanalyse (gegründet von Eric Berne, 1910 – 1970) der Schwerpunkt auf das Erkennen der „Drehbücher“ („Skripts“) gelegt, die man von seinen Eltern als Verhaltensanleitung mit bekommt und die durch die bereits zitierten „Kopfbewohner“ im „inneren Dialog“ perpetuiert werden sofern man sie nicht kognitiv kontrolliert und mittels „Gegenskripts“[74] verändert.
So benennt der frankokanadische Transaktionsanalytiker (mit österreichischen Wurzeln) Claude Steiner (1935 – ) drei Grundformen von Lebensskripts:
-
- Depression oder das Skript „Keine Liebe“,
- Irre sein oder das „Wahn-Skript“ und
- Drogenabhängigkeit oder das Skript „Keine Freunde“ (wozu Steiner auch den unreflektierten und extensiven Gebrauch von Kaffe, Zigaretten oder beispielsweise Kopfschmerzmitteln zählt statt nach den Auslösemomenten zu fragen)[75].
Bei Spinoza lautet Punkt 26 im 3. Buch unter den Definitionen der Affekte: „Niedergeschlagenheit ist Unlust, die daraus entspringt, dass der Mensch sein Unvermögen oder seine Schwäche betrachtet.“ [76] Aus psychotherapeutischer Sicht passt dieser Satz auf alle drei Grundformen des Lebensskripts. Diese „Betrachtung“ fixiert den Blick auf die nicht erreichten aber angestrebten Möglichkeiten und teilt ihn so, dass das eine Auge in die frustrierende Vergangenheit blickt, das andere hingegen in eine anzustrebende Zukunft und zusätzlich nicht auf den eigenen Weg sondern den anderer schielt. Auf diese Weise wird aber die Präsenz der körperlichen wie geistigen Fülle der Gegenwart (inklusive Transzendenz) verfehlt.
In ihrer fachlichen Tätigkeit summiert die Autorin all diese Phänomene und ihre Klassifikationen unter dem Überbegriff „Suche nach Energie“[77] und meint damit das sehnsuchtsvolle Streben nach dem Gefühl des Offenseins und der Hingabe mit der Erwartung, erfüllt zu werden. Sie sieht diese „Sehnsucht“ hinter den Worten von Lehrsatz 29 im 5. Buch, „Alles, was der Geist unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit erkennt, das erkennt er nicht daraus, dass er die gegenwärtige wirkliche Existenz des Körpers begreift, sondern daraus, dass er das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift.“[78]
Auf Grund ihrer über 40jährigen Erfahrung in beratenden und therapeutischen Berufsfeldern wagt die Autorin die Behauptung, dieses Streben nach dem Größeren und in letzter Konsequenz auch Grenzenlosen werde meist auf Elternersatzfiguren projiziert bzw. werden andere Menschen als solche Surrogate gewähnt, aber auch auf die Idee, ein Paar zu sein oder Teil eines bergenden Kollektivs oder auch einer Weltanschauung; dabei bleibe man aber immer noch im „Hier und Jetzt“ und entdecke so kaum das Transzendente.
5. Die Spontaneitäts- Falle
„Hier und Jetzt“ sind gängige Formulierungen aus der Gestaltpsychotherapie, der die Autorin aus der Erfahrung, wie sich Menschen in dem spezifischen therapeutischen Prozess im Zeitpunkt des Erkennens und Akzeptierens ihrer Leidenschaften verteidigend „gemütlich eingerichtet“ und ihren eigenen Entwicklungsstand und die Folgen ihrer Handlungen nicht weiter in Frage gestellt haben, ziemlich kritisch gegenüber steht,.
In der Allgemeinen Definition der Affekte formuliert Spinoza: „Ein Affekt, auch Leidenschaft des Gemüts genannt, ist eine verworrene Idee, durch die der Geist eine größere oder geringere Existenzkraft seines Körpers oder eines Teils seines Körpers bejaht als vorher und durch deren Vorhandensein der Geist selbst bestimmt wird, eher dies als jenes zu denken.“[79]
Was die Autorin an den ihr bekannten Verläufen von Gestalttherapien bemängelt, ist, dass sie zwar von der „These“ Hemmung zur „Antithese“ Enthemmung verhalfen, aber den nächsten Schritt der kritischen Reflexion als Ausgangspunkt zu einer „synthetischen“ Neuorganisation ignorierten. Was als Befreiung von anerzogenen Hemmungen erlebt wird, kann auch als Dauerregression in frühkindliches Affektverhalten interpretiert werden. Spinoza schreibt in der Erläuterung zur oben zitierten Definition der Affekte, dass er nicht meine, dass der Geist die gegenwärtige Verfassung des Körpers mit der vergangenen vergleiche, „sondern dass die Idee, welche die Form des Affekts ausmacht, vom Körper etwas bejaht, was tatsächlich mehr oder weniger Realität in sich schließt als vorher.“[80] Dazu sollte ergänzt werden: wenn dies mehr Lust bedeutet als vorher, wird kaum ein Streben nach weiterer Entwicklung – beispielsweise Balance – ausgelöst werden.
Die betreffende Person wird wähnen, den Gipfel ihrer Entwicklungsmöglichkeiten erreicht zu haben und wird sich, mit einem modernen Modeausdruck, für selbstverwirklicht halten.
6. Die Selbstverwirklichungs- Falle
Selbstverwirklichung lautet die oberste Stufe der von Abraham Maslow beschriebenen „Bedürfnispyramide“: zuunterst drängen die existenziellen physischen Bedürfnisse nach Befriedigung[81], gefolgt von den Sicherheitsbedürfnissen[82] und sozialen Bedürfnissen[83]; danach erst kommt das Bedürfnis nach Achtung inklusive Selbstachtung und Selbstvertrauen und dem Gefühl, nützlich und notwendig für die Welt zu sein[84] und zuletzt das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung[85], Wissen und Verstehen[86] und Ästhetik[87]. Wer hungert, dem ist egal, wo er schläft, und ob ihn jemand mag, ist ihm auch gleich; erst wenn jemand über genügend Energiezufuhr über diese drei Grundbedürfnisse verfügt, wehrt er oder sie sich gegen Respektlosigkeit und spürt den Anspruch, als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu sein und auch so behandelt zu werden[88].
Wohl ist Stanley Greenspan zu folgen, wenn er ausweist: „Die Definition dessen, wer wir sind, entwickelt sich zunächst an dem, was wir wünschen und begehren.“, und: „So wie wir nichts über das Fernsehen wissen könnten, wenn wir immer nur Radio gehört hätten, so können wir auch nicht erraten, was wir sein könnten, hätten wir nicht die Erfahrungen, die es uns zeigen.“[89], aber was in Maslows Bedürfnishierarchie weitgehend ausgeblendet ist, ist das Bedürfnis nach Transzendenz.
Offensichtlich war dies damals (Erstveröffentlichung 1954, Überarbeitung 1970) nicht wahrnehmbar; so stellt Maslow auch fest, dass man deshalb so wenig über kognitive Antriebe, ihre Dynamik und ihre Pathologie wisse, weil sie im klinischen Alltag nicht wichtig seien, in dem es traditionell um die Beseitigung von Krankheitszuständen gehe[90]. Das hat sich heute geändert, wie der ausufernde Esoterikausbildungs- und -buchmarkt beweist.
Allerdings schreibt Maslow doch, Untersuchungen psychologisch Gesunder deuteten an, dass es als bestimmende Eigenschaft eine Anziehungskraft des Mysteriösen, Unbekannten, Chaotischen, Unorganisierter und Unerklärten gäbe. Einen Absatz zuvor schreibt er aber auch, die Geschichte der Menschheit liefere viele Beispiele, in denen der Mensch angesichts größter Gefahr, sogar für sein Leben, nach Tatsachen suchte und Erklärungen schuf. Er formuliert: „Es hat unzählige bescheidenere Galileis gegeben.“[91] Er resümiert: „Das Bedürfnis zu wissen und zu verstehen ist in sich selbst willentlich, das heißt, hat einen begehrenden[92] Charakter und stellt ebenso Persönlichkeitsbedürfnisse dar wie die bereits diskutierten Grundbedürfnisse.“[93]
Gegenwärtig konsumieren viele Menschen in Österreich Psychotherapie nicht, weil sie sich als neurotisch erkennen, sondern weil sie ihre Idee vom perfekten Selbst verwirklichen wollen, und viele Psychotherapeuten stellen diese Nachfrage auch nicht zur Diskussion sondern geben dem „Auftrag“ (und dem gesicherten Einkommen) den Vorrang, bleiben damit in der Position des Besserwissers und verhindern die Erkenntnis des Hintergrunds von Konkurrenz. Dazu passend schreibt Wolfgang Bartuschat über den conatus, „Eine Macht, die nur in ihren Äußerungen und somit im Kontext mit den Äußerungen anderer Modi besteht, ist deshalb kein fester Bestand. Insofern ist Selbsterhaltung tendenziell Selbststeigerung, und was es zu erhalten gilt, ist nicht etwas, das von dem conatus verschieden wäre, sondern die in ihm bekundete Aktivität.“[94] Und er setzt weiters fort: „Das Ausmaß, in dem ein Individuum die Steigerung der eigenen Macht gelingt, bleibt daran gebunden, wie sich das Individuum gegen Äußeres jeweils tatsächlich zur Geltung bringen kann.“[95]
Selbstverwirklichung hat zur Voraussetzung die Idee eines persönlichen Machtzuwachs’ und wenn er nur in einem wahnhaften Hochgefühl bestünde.
„Hochstimmung“ als Übersetzung von Spinozas „laetitia“ schlägt auch Amelie Rorty vor; üblicherweise wird es mit „Freude“ übersetzt, manchmal auch mit „Lust“.[96] Damasio schreibt, „Wir können uns mit Spinoza vollkommen einverstanden erklären, wenn er sagt, Freude (laetitia im lateinischen Text) sei mit einem Übergang des Organismus in einen Zustand größerer Vollkommenheit verbunden. Mit größerer Vollkommenheit ist zweifellos größere funktionelle Harmonie und eine größere Kraft und Freiheit des Handelns gemeint.“[97] Er fügt zwar bei, „Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass Abbildungen der Freude durch eine Vielzahl von Drogen und Medikamenten gefälscht werden können und daher nicht immer den tatsächlichen Zustand des Organismus widerspiegeln.“[98], und ergänzt in einer Anmerkung zu dieser Passage seines Buches: „Das Wesen der Harmonie ist in biologischen und klinischen Prozessen gleich: Leichtigkeit, Effizienz, Geschwindigkeit, Kraft.“[99]; dabei blendet er aber aus, dass diese Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen auch für manische, also psychiatrisch diagnostiziert wahnhafte, Zustände gelten.
Das Wesentliche von Spinozas Affektenlehre und ebenso Psychotherapie, wie sie die Autorin definiert, wäre aber eben weg zu kommen von dem Streben nach dieser Hochstimmung, womit depressive Stimmungen abgewehrt werden sollen. Statt sich zu fragen, warum und wie man die eigenen Gefühle und Stimmungen inszeniert, nämlich durch schnelle Namensgebungen, wird nach ebenso schnellen weiteren Inszenierungsmöglichkeiten gesucht. Die Aussage, das Wesen der Harmonie bestünde in Leichtigkeit, Effizienz, Geschwindigkeit und Kraft ist eine Behauptung, die die Alternative nicht zulässt, dass Harmonie auch in ruhevoller Schwere, Absichtslosigkeit, Entschleunigung bestehen kann und einem Zustand, der in der Mitte von Kraft und Kraftlosigkeit liegt und keinen Namen hat außer vielleicht Balance. Spinoza würde zu Damasios Aussage wohl sagen, sie sei wahnhaft.
In den systemisch orientierten Psychotherapien geht man davon aus, dass alle Gedanken wie auch Handlungen „Wirk-lichkeit“ konstruieren, daher wird versucht herauszufinden, was das eigentliche Ziel dieser unbewussten Konstruktionen ist und ob es nicht bessere Verwirklichungsmöglichkeiten gibt.
7. Die Obsoleszenz der Ich-Sucht
Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Vance Packard (1914 – 1996) beschrieb in seinem Bestseller „Die große Verschwendung“ (1960) drei Arten von Obsoleszenz:
-
- funktionelle, d. h. ein vorhandenes Erzeugnis veraltet durch die Einführung eines neuen, das seine Funktionen besser erfüllt,
- qualitative, d. h. ein Erzeugnis versagt oder verschleißt zu einem bestimmten geplanten, gewöhnlich nicht allzu fernen Zeitpunkt, und
- psychologische, d. h. ein Erzeugnis, das qualitativ und in seinen Leistungen noch gut ist, wird als überholt und verschlissen betrachtet, weil es aus Modegründen oder wegen anderer Veränderungen weniger begehrenswert erscheint.[100]
Die derzeitigen „Moden“ in Alltagsverhalten, daher auch Alltagsdenken, propagieren Schnelligkeit was auch bedeutet: Verzicht auf Nachdenken (und Nachfühlen). Es werden künstlich Begehrlichkeiten erweckt und mittels zeitlichen Begünstigungen („Nur noch drei Tage gültig!“) Konkurrenz- oder Panikkäufe stimuliert. „Widerstand gegen den Herdentrieb“ empfahl Packard als Gegenstrategie[101] und „Achtung vor dem ewigen Gleichgewicht“[102] und meinte damit Absage an die Werbebotschaften, nur wer Bestimmtes konsumiere bzw. besitze, wäre respektabel und an das Verschweigen von Negativfolgen für Individuum wie Gesellschaft.
Sechzig Jahre nach seinen Warnungen sind solche Absagen „psychologisch obsolet“ geworden: die Begehrlichkeiten werden mehr gefördert als je zuvor und zu Konsum-Sucht und Hab-Sucht hat sich noch die Ich-Sucht gesellt, aber keine dieser drei Krücken eignet sich zur Füllung des „Lochs in der Seele“, dessen Sinn auch in der Sehnsucht nach dem „Ankommen“, nach der Vereinigung – dem Einswerden – mit, ja womit?, gesehen werden kann.
Das, was die Autorin als den „Zweiten Sündenfall“ bezeichnet hat[103], besteht in der Herstellung von Ein-heit als Allein-sein durch Beseitigung des „Anderen“: was anders ist, muss klein gemacht werden oder überhaupt weg. Die Unerträglichkeit von Konkurrenz, die Unwilligkeit zu teilen: Kain beseitigt Abel. Alles für sich selbst allein haben, immer und überall Sieger sein wollen – das ist der Endpunkt der Begehrlichkeit, des conatus. Und genau das sollte obsolet werden.
Ich-Sucht ist sozial wie individuell nicht funktionell, sie sollte daher psychologisch unmodern werden. Aber qualitativ obsolet kann Ich-Sucht nur werden, wenn erkannt wird, dass sie Reifung behindert und sich daher in der Verbesserung der Denk- und Erkenntnismöglichkeiten verrotten darf.
8. Ich-Stärke als coincidentia oppositorum
C. G. Jung hat Ganzheit als mehr oder weniger Balance der Gegensatzpaare Denken und Fühlen sowie Körperlich Empfinden und Intuieren beschrieben[104], einen Zustand, den regelmäßig Meditierende kennen und wissen, dass er durch Verlangsamung des Atmens und Loslassen des „Papanca“[105], des stetig plappernden Affengeistes (einem quasi dauerhafter „Kopfbewohner“), erzielbar ist.
In den klassischen Psychotherapieformen steht meist eine dieser vier Potenzen im Mittelpunkt der methodengerechten Intervention – aber meist ist dies nicht das Denken. Die Überlegung dabei ist, dass die Behandlungsbedürftigen ohnedies schon lange nach kognitiven Verbesserungstechniken gesucht haben und die innerseelische Zensur – und die Bequemlichkeit und mangelnde Ausdauer – weiteres Bemühen (nicht zu verwechseln mit Bestreben) aussichtslos erscheinen ließ.
Helmut Seidel formuliert zusammenfassend: „Der in der Natur existierende menschliche Körper und die Idee dieses Körpers sind ein und dasselbe Ding, das einmal unter dem Aspekt der Ausdehnung und zum anderen unter dem Aspekt des Denkens betrachtet wird. Die Dualität von Körper und Seele, von der die Theologen viel Aufhebens gemacht haben, indem sie der Seele supranaturalistische Eigenschaften zuschrieben, ist damit aufgehoben.“, und weiter: „Wenn ein Ding und die Idee dieses Dinges gegensätzlich nur als Daseinsformen der Attribute gedacht werden, im Hinblick auf die eine Substanz aber als identisch, dann wird auch das Verhältnis der Dinge untereinander und die Ordnung der Ideen im Hinblick auf die Substanz als ein und dasselbe gefasst werden können. Genau das bringt Spinoza zum Ausdruck: Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge. (Eth. II, Lehrsatz 7)“ [106].
Mit unserem Denken schaffen wir Wirk-lichkeiten (d. h. verknüpfen Wahrnehmung und Interpretationen dieser Wahrnehmungen neuronal), und wenn wir diesen Mechanismus erkennen, können wir ihn zur Lösung unserer Anhaftungen nutzen und frei werden für die gezielte Selbstregulierung zumindest unserer Gefühlsreaktionen (nicht der emotionalen Signale) und auch Fantasien und Glaubenssätze (nicht zu verwechseln mit Glaube als tiefem Wissen) und hin zu einer ethischen Position auch gegen den Mainstream..
Allerdings ist das in unserer heutigen Konsum- und Mediengesellschaft wenig erwünscht: wir sollen uns bestimmen lassen, wie immer auch im Denken, und dort, wo wir Ablösung einüben sollten, werden wir oft abhängig: man kann auch auf Psychotherapie süchtig werden.
9. Die Sehnsucht nach Entgrenzung
Im Erkennen der eigenen Anhaftung an „Äußeres“, etwa indoktrinierte Denkformen, fremdinduzierten Gefühlsreaktionen und der Nutzbarkeit der Autosuggestivkraft von Worten zur Entspannung – dem Loslassen der Anspannung im conatus – wird erweiterte „Ausdehnung“ (des Muskels Herz wie des cortikalen Denkens) in Hinblick auf die Zentrierung der ganzheitlichen Balance im Jung’schen Sinn möglich/er und damit vertiefte, erweiterte Ahnung und Erkenntnis.
Das Erkennen eigener „inadäquater Ideen“ stellt meist den beginn „wahrer“ Selbstakzeptanz dar und ist mit Entspannung und damit Herzweitung verbunden. Dies führt wiederum zu umfassenderer Wahrnehmung des Innen wie Außen, der grenzenlosen Weite aber auch der eigenen Tiefe. Deswegen werden viele Menschen nach gelungenen Psychotherapien religiös: sie werden eins mit der Schöpfung.
Der Lernprozess lautet, die Sehnsucht nach Hingabe an und Vereinigung mit dem, „was größer nicht gedacht werden kann“, nicht anzustreben sondern das Sehnen als Ausdehnung auszuhalten und dankbar zu sein, wenn sich diese Möglichkeit verwirklicht.
Rainer Maria Rilke drückt dies im „Buch vom mönchischen Leben“ (1899) so aus:
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
Verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –:
Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
Und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.[107]
10. Verwendete Literatur
Literatur von und zu Spinoza:
Bartuschat, Wolfgang, Baruch de Spinoza, München (2., aktualisierte Aufl.) 2006
Seidel, Helmut, Baruch de Spinoza zur Einführung, Hamburg (2. Aufl.) 2007.
Spinoza, Baruch de, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, Hamburg (4. Aufl.) 1965.
Spinoza, Benedictus de, Die Ethik. Lateinisch/ Deutsch, Stuttgart 1977.
Psychotherapeutische Fachliteratur:
Bauer, Joachim, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München 2011.
Eliacheff, Caroline, Das Kind, das eine Katze sein wollte. Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern, München 1994.
Erikson, Erik H., Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart (8. Aufl.) 1982.
Goulding, Mary, „Kopfbewohner“ oder: Wer bestimmt dein Denken?, Paderborn (4. Aufl.) 1993.
Jacobi, Jolande, Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Mit einem Geleitwort von C. G. Jung, Frankfurt/ M. (4. Aufl.) 1982.
Maslow, Abraham H., Motivation und Persönlichkeit, Reinbek 1981.
Steiner, Claude, Wie man Lebenspläne verändert. Die Arbeit mit Skripts in der Transaktionsanalyse, Paderborn (4. Aufl.) 1985.
Gesundheitssoziologische Fachliteratur:
Benson, Herbert, Heilung durch Glauben. Die Beweise. Selbstheilung in der neuen Medizin, München 1997.
Damasio, Antonio R., Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin (4. Aufl.) 2007.
Damasio, Antonio R., Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin (7. Aufl.) 2007.
Fröhlich-Gildhoff, Klaus/ Rönnau-Böse, Maike, Resilienz, München Basel 2009.
Greenspan, Stanley I., Die bedrohte Intelligenz. Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung, München 1997.
Perner, Rotraud A., Der erschöpfte Mensch, St. Pölten 2012.
Perner, Rotraud A., Die Überwindung der Ich-Sucht. Sozialkompetenz und Salutogenese, Innsbruck 2009.
Sonstiges:
Foerster, Heinz von / Bröcker Monika, Teil der Welt. Fraktale einer Ethik. Ein Drama in drei Akten, Heidelberg 2002.
Glasersfeld, Ernst von, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt/ M. 1997.
Hart William, Die Kunst des Lebens. Vipassana – Meditation nach S. N. Goenka. Fischer, Frankfurt/ M. 1996.
Katie, Byron / Mitchell, Stephen, Lieben was ist. Wie vier Fragen ihr Leben verändern können, München (5. Aufl.) 2002.
Packard, Vance, Die große Verschwendung, Frankfurt/ M. 1964.
Pawlik, Lucas, Wissenschaftspoesie als öffentliche Privatangelegenheit, Hollabrunn 2009.
Perner, Rotraud A., Kultur des Teilens – Einladung zu einem dialogischen Leben. Ein Tagebuch in Briefen samt einer Einführung in die Mesoziation®, Wien 2002.
Reiche, Reimut, Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung, Frankfurt/ M. 1971.
Rilke, Rainer Maria, Das Stundenbuch, Frankfurt/ M. 1972.
Fußnoten
[1] Perner, Der erschöpfte Mensch, S. 110 ff.
[2] Spinoza, Ethik, S. 5.
[3] Seidel, S. 39 ff.
[4] Spinoza, Ethik., S. 35.
[5] A. a. O., S. 5.
[6] Seidel, a. a. O., S. 44.
[7] Ebd.
[8] Spinoza, Ethik, S. 9.
[9] Spinoza, Abhandlung, S. 58.
[10] Spinoza, Abhandlung, S. XVIII.
[11] Seidel, a. a. O., S. 45.
[12] Ebd..
[13] Spinoza, Ethik, S. 7.
[14] A. a. O., S. 211., vgl. Seidel, S. 55 ff.
[15] Spinoza, Abhandlung, S. 60
[16] A. a. O., S. 61.
[17] A. a. O., S. 62.
[18] Spinoza, Ethik, S. 195.
[19] Spinoza, Abhandlung, S. 63 ff.
[20] Seidel, S. 52.
[21] A. a. O., S. 53
[22] Spinoza, Ethik, S. 161.
[23] Ebd.
[24] Vgl. Seidel, S. 14, wenn er gegen die Unterstellung einer Idealisierung der Vernunft durch Spinoza festhält: „Affekte sind nicht durch Vernunft, sondern immer nur durch andere Affekte zu begrenzen.“
[25] Spinoza, Ethik, S. 255.
[26] Ebd.
[27] A. a. O., S. 279.
[28] A. a. O., S. 373.
[29] A. a. O., S. 629.
[30] Ebd.
[31] Mit der Verwendung des Wortes geistig bezieht sich die Autorin auf das Phänomen von Zwangsgedanken.
[32] „Erlernt“ versteht die Autorin als neuronale Vernetzung eines physischen Erlebens mit emotionalen Erfahrungen und möglicherweise auch kognitiven Bewertungen, welches durch Wiederholungen dem semantischen Gedächtnis als „Verhaltensmuster“ eingespeichert wurde.
[33] Hart, S. 134.
[34] A. a. O., S. 135.
[35] A. a. O., S. 136.
[36] Katie, S. 10.
[37] A. a. O., S. 11.
[38] A. a. O. S. 7.
[39] Spinoza, Ethik, S. 651.
[40] Ebd.
[41] A. a. O., S. 431.
[42] Neologismus der Transaktionsanalytikerin Mary Goulding.
[43] Goulding, S. 7.
[44] Damit differenziert die Autorin von „visuellem“ Gehalt, also geistigen Bildern, die zwar in der psychotherapeutischen Arbeit im Ringen um verbalen Ausdruck oft präsentiert werden, was aber mehr mit der Bevorzugung bildhafter Sprachgestalten (durch Therapeuten oder Klienten) zusammenhängt als mit tatsächlichem inneren Erleben. Je mehr Therapeuten beispielsweise mit Körperarbeit oder kreativen psychotherapeutischen Techniken vertraut sind (wie z. B. Musiktherapie oder Gestaltungstherapie – nicht zu verwechseln mit Gestalttherapie), desto eher werden sie sich in Patienten einfühlen und ihnen alternatives Verhalten nahe bringen können, wenn diesen das Bildern fern liegt.
[45] Dem gegenüber definiert das Psychotherapiegesetz die Tätigkeit von Psychotherapeuten als „nach einer allgemeinen und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewusste und geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehenden Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern“ (§1 (1) PsthG 1990).
[46] Eliacheff, Das Kind, das eine Katze sein wollte, S.21 ff.
[47] Greenspan, S. 147.
[48] Bauer, 2011, S 97 ff.
[49] Spinoza, Ethik, S. 629.
[50] Damasio, 2000, S. 39.
[51] Spinoza, Ethik, S. 485.
[52] A. a. O., S. 273.
[53] Damasio, 2005, S. 41 bzw. 344.
[54] Spinoza, Ethik, S. 273.
[55] Greenspan, S. 46.
[56] Spinoza, Ethik, S. 277.
[57] Greenspan, S. 128.
[58] A. a. O., S. 129.
[59] A. a. O., S. 130
[60] Diese Formulierung kreiert die Autorin an dieser Stelle, um das authentische, empathische und akzeptierende Reagieren des Therapeuten mit der dank der computergestützten Gehirnforschung nunmehr sichtbar gemachten neuronalen Spiegelungsprozesse in Einklang zu bringen.
[61] Greenspan schreibt, in der Psychotherapie benutze man zwei Verfahren, um an traumatische Erinnerungen heranzukommen, nämlich einerseits zu helfen, nochmals die verstörende Angst zu erleben und damit den Geisteszustand, in dem die Erfahrung gespeichert wurde, andererseits mittels freier Assoziationen „die logischen Verknüpfungen, welche die Information organisieren“, ein wenig zu lockern und damit zu dem der Urszene vorgelagerten Zustand zu gelangen (S. 131).
[62] Greenspan, S. 130.
[63] Spinoza, Kurze Abhandlung, S. 62.
[64] A. a. O., S. 63.
[65] A. a. O., S. 64.
[66] A. a. O., S. 65.
[67] „Schatten“ ist hier im Sinne von C. G. Jung als tabuisierter Geheimbereich gemeint.
[68] Perner 2012, S. 110 ff.
[69] Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse, S. 12.
[70] Erikson, S. 171 ff.
[71] Spinoza, Ethik, S. 279.
[72] A. a. O., S. 283.
[73] Spinoza, Kurze Abhandlung, S. 70 f.
[74] Steiner, S. 109 ff.
[75] A. a. O., S. 98 ff.
[76] Spinoza, Ethik, S. 413.
[77] Perner 2012, S. 39 ff.
[78] Spinoza, Ethik, S. 671.
[79] A. a. O., S. 429 f.
[80] A. a. O., S. 432.
[81] Maslow, S. 62 ff.
[82] A. a. O., S. 66 ff.
[83] A. a. O., S. 70 ff.
[84] A. a. O., S. 72 f.
[85] A. a. O., S. 73 ff.
[86] A. a. O., S. 75 ff.
[87] A. a. O., S. 79.
[88] Etwas, woran die Politiker, die sich mit Asylfragen beschäftigen, denken sollten – Ghettos sind keine humane Lösung!
[89] Greenspan, S. 127.
[90] Maslow, S. 75.
[91] A. a. O., S. 76.
[92] Hervorhebung durch die Autorin.
[93] A. a. O., S. 78.
[94] Bartuschat, S. 106.
[95] A. a. O., S. 107.
[96] Damasio 2005, S. 358.
[97] A. a. O., S. 162.
[98] Ebd.
[99] A. a. O., S. 358.
[100] Packard, S. 60 f.
[101] A. a. O., S. 243 ff.
[102] A. a. O., S. 266.
[103] Perner 2002, S. 135 f.
[104] Jacobi, S. 21 ff.
[105] Benson, S. 168.
[106] Seidel, S. 45.
[107] Rilke, S. 13.