Rotraud A. Perner
11-11-2013

Die Theologie Calvins

Kirche und Staat bei Calvin

 

Inhaltsverzeichnis:

  1. Einleitung
  2. Das Organismus-Prinzip
  3. Das Gliederungs-Prinzip
  4. Das Ordnungs-Prinzip
  5. Das Billigkeits-Prinzip
  6. Das Schrift-Prinzip
  7. Das Einheits-Prinzip
  8. Zusammenfassung
  9. Verwendete Literatur

 

  1. Einleitung

Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts kann als Zusammenprallen von ausuferndem römisch-katholischen wie auch kaiserlich-habsburgischen Expansions- und Herrschaftstreben einerseits und oft unbeherrschtem Aufbäumen einer zunehmend kritischeren Untertanenschaft charakterisiert werden. Diesen „unruhigen“ Zuständen wurde durch vielerlei juristische wie auch belehrende Reaktionen zu begegnen versucht.

Calvins Erziehung im asketisch-strengen Collège de Montaigu[1] mag wohl zur Erklärung seiner wohlüberlegten Initiativen zur Herstellung einer dem Christentum entsprechenden Ordnung des Zusammenlebens dienlich sein – aber auch die (nicht von vornherein bevorzugte) Wahl einer juristischen Ausbildung in Orléans und Bourges unter Beibehaltung seiner strengen Lerndisziplin[2] beweist persönliche Resonanz zwecks ordnendem Strukturieren von Unordnung durch Regelwerke – wo hingegen im Gegensatz dazu vor allem heute die andersgesinnten Juristen zu anwaltlichen Hilfestellungen für Ordnungsbrecher[3] oder Ordnungsblinde tendieren.

Für Calvin sind Gegenwart und Herrschaft Gottes in jedem Ereignis unmittelbar sichtbar, aber die grundlegende Struktur dieser Welt ist „nicht der ordo, der aus Gottes Sein strömt, sondern die ordinatio, eine Entscheidung, Ordnung zu schaffen.“[4] Diese Strukturierungsbereitschaft wird immer wieder im Denken Calvins deutlich.

Zu seiner Zeit begannen die Stadtverwaltungen, als Kollektiv Verantwortung für das Allgemeinwohl zu übernehmen; sie vertrieben Bischöfe aus der Stadt, übernahmen die vormals kirchliche Rechtsprechung, begründeten die Aufsicht des Stadtrats über Schulen und Krankenhäuser und beriefen Prediger ohne Zustimmung des Bischofs.[5] Calvin sei mit dieser Entwicklung der sozialen Wohlfahrt in den Städten zwar vertraut gewesen, schreibt Heiko Obermann,  doch lehnte er sie in dem Maße ab, in dem er die bürgerliche Gemeinschaft von der Kirchengemeinde unterscheiden wollte.[6] „Wo Gesetz und Evangelium nicht voneinander unterschieden werden, wo also öffentliche Moral und kirchliche Ethik in einem einzigen Gesetzbuch verbindlich gemacht werden, dort macht die Ersetzung des mittelalterlichen kanonischen Rechts durch ein biblisch-reformiertes Gesetzbuch wenig oder überhaupt keinen Unterschied, was die Toleranz gegenüber Dissidenten betrifft.“, schreibt Obermann. „In der theologiegeschichtlichen Fachsprache stellt sich das Problem folgendermaßen dar: Schwierigkeiten bereitet nicht der tertius usus legis, jenes dritte Verständnis des Gesetzes als Vorschrift der Dankbarkeit des Christen, sondern die Verlängerung des tertius usus in den primus usus legis, den ersten Gebrauch des Gesetzes als Maßstab der politischen Gesellschaftsordnung.“, denn: „Wo die Forderungen des Glaubens und der bürgerlichen Pflichten nicht mehr unterschieden werden, verwandelt sich ,biblisches Recht‘ in Tyrannei.“[7] Umgekehrt wäre es aber eine Schwäche des Luthertums, das öffentliche Leben vollständig der Autorität des weltlichen Staates zu überlassen.[8]

Nach seiner Rückkehr nach Genf am 13. September 1541 betonte Calvin, dass er die Einführung einer Kirchenzucht „Wie sie aus Gottes Wort uns vorgeschrieben ist“ für unerlässlich halte, wofür ihn der Kleine Rat auch ermächtigte und ihm eine unterstützende – oder auch kontrollierende – Arbeitsgruppe, zusammengesetzt aus vier aus dem Kleinen Rat und zwei aus dem Rat der Zweihundert, beigab[9].

War die erste, lateinische Ausgabe der Institutio Christianae Religionis noch als Katechismus wie auch Demonstration für bibeltreue Glaubenserneuerung gedacht, was auch in der Widmung an den französischen König Franz I. zum Ausdruck kam, wuchs dieses vierteilige Lehrbuch bis 1559 zu dem reformatorischen Grundsatzwerk heran, das nicht nur Orientierung für Glauben sondern auch Lebensführung präzisiert.

Im zwanzigsten Kapitel „Vom bürgerlichen Regiment“ des vierten Buches „Von den äußeren Mitteln oder Beihilfen, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält“ behandelt Calvin die „Verschiedenheit und Vereinbarkeit von geistlichem und bürgerlichem Regiment“ und unterteilt seine Lehre in Fragen der Berechtigung, Aufgabe und Macht der Obrigkeit sowie in Fragen der Gesetze und Fragen der Rechte und Pflichten der Christen den Gerichten gegenüber.

Dabei lässt sich eine Struktur von sechs Prinzipien erkennen. (Man könnte allerdings auch mehr Prinzipien herausfiltern, doch soll hier die im Referat benutzte beibehalten werden.)

 

  1. Das Organismus-Prinzip

In jedem Menschen gibt es ein zweifaches Regiment – das eine liegt im inneren Menschen und seiner Seele und steht in Beziehung zum ewigen Leben, das andere, äußere, ist dazu bestimmt, „die bürgerliche und äußerliche Gerechtigkeit der Sitten zu gestalten“ (IV, 20,1). Daher ist die im Evangelium verheißene Freiheit, die sich allein Christus unterwirft, eine geistliche, die innerhalb der bürgerlichen Grenzen besteht[10] und nicht im Widerspruch zu ihnen.

Calvin sieht nicht nur die Kirche sondern auch den Staat als Organismus wie einen Körper[11]:

So ist die „unsichtbare“ Kirche der „mystische Leib Christi“ und wird durch diejenigen, die sich durch Taufe und Abendmahlsempfang zu Christus bekennen, gebildet. Diese sollen aber auch für noch-nicht-Zugehörige im Sinne der „Universalität des Heils“ einladend beten.

Gleichermaßen ist aber auch der Staat – wie alle anderen sozialen Gebilde – ein geistig-sittlicher Organismus und hat seine von Gott sinnvoll eingerichtete Ordnung.

Die Kirche als Leib Christi hat Christus zum Haupt über gleichwertigen Gliedern. Deswegen braucht es keinen Papst als zweites Haupt über dem „obersten“.

Die Aufteilungen von Ämtern gründen sich daher in deren funktionalem Charakter, der durch persönliche Eignung bestimmt wird, und nicht in einer Hierarchie von Über- und Unterordnung.

Ämtern wohnt keine magische Kraft inne und auch kein unauslöschlicher character indelebilis, sondern sie sind zur Erfüllung bestimmter Aufgaben erforderlich wie a) den Kirchendienst, b) die Sittenzucht und c) die diakonische Fürsorge.

Ähnlich wie triviale körperliche Begabungen ist auch die persönliche Eignung zu einem Amt der Leitung eine Gabe Gottes (Röm. 12,8). Es gibt keine Gewalten als die von Gott geordneten (Röm. 13,1). (IV, 20, 4).

Aus dem derart Dargelegten ergibt sich, dass es in der Kirche nur weltliche Führungspersonen gibt und diese sind Gleiche unter Gleichen.

 

  1. Das Gliederungs-Prinzip

Die Gleichheit vor Gott hebt aber nicht die sozialen Ungleichheiten auf, denn diese besitzen Sinn: jeder Organismus – und so auch der menschliche Körper – ist aus unterschiedlichen Teilen mit unterschiedlichen Aufgaben zusammengesetzt.

Daher hat auch der Körper Staat unterschiedliche Aufgaben: „Das bürgerliche Regiment aber hat die Aufgabe, solange wir unter den Menschen leben, die äußere Verehrung Gottes zu fördern und zu schützen, die gesunde Lehre der Frömmigkeit und den (guten) Stand der Kirche zu verteidigen, unser Leben auf die Gemeinschaft der Menschen hin zu gestalten, unsere Sitten zur bürgerlichen Gerechtigkeit heranzubilden, uns miteinander zusammenzubringen und den gemeinen Frieden wie die öffentliche Ruhe zu erhalten.“ Zusätzlich zur Bewahrung des Wertes der bürgerlichen Ruhe betont Calvin noch Bescheidenheit und Ehrbarkeit als „öffentliche Gestalt der Religion“ der Christen und Zeichen von Menschlichkeit (IV, 20, 2).

Gott regiert die ganze Welt und folglich auch ihre „inferioren“ Bereiche, die Lebensordnungen, so, dass er die Obrigkeiten und das geistliche Regiment zwecks  Befestigung des Heils und der äußeren Wohlfahrt des Menschengeschlechts bevorrangt (was Opposition zu der Lehre der Täufer bedeutet, die jegliche Autorität ablehnten).[12]

Diese Aufgaben des Staates werden quasi in einem Dreieck realisiert, das durch a) die Obrigkeit, b) die Gesetze und c) dem Volk, das durch Gesetze regiert wird und der Obrigkeit Gehorsam leistet, gebildet wird (IV, 20, 3).

Dabei verbindet Calvin das Organismusprinzip insofern mit einem Autoritätsprinzip (in dieser Arbeit Ordnungsprinzip genannt), dass er ein beherrschendes Prinzip der Über- und Unterordnung beispielsweise im Hausstand aber auch in jedem anderen Stand feststellt. Er begründet dies in Analogie zu der Schöpfereigenschaft Gottes und konzediert die quantitative Machtungleichheit, betont aber gleichzeitig die qualitative Gleichwertigkeit.[13]

Weil alle Glieder Teil eines Organismus sind, haben sie die Aufgabe einander zu unterstützen und zu fördern. Diese jeweiligen Funktionen ergeben sich sowohl aus dem Liebesgebot ebenso wie auch aus der Verwirklichung der Gottebenbildlichkeit.

Liebe ist die Quelle des Gehorsams und der Hochachtung; diese werden erst durch jene unverfälscht. [14] Die Nächstenliebe, die gegenseitige Hilfeleistung der Glieder des christlichen Körpers sind aber keine freiwilligen Werke (etwa im Sinne von Rechtfertigungsbemühen durch gute Werke), sondern die Verwirklichung der Auflagen des Naturgesetzes und daher Pflicht. Auch die Kraft des Gehorsams ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk der freien Gnade Gottes. [15].

 

  1. Das Ordnungs-Prinzip

Jede Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, deshalb muss man ihr gehorchen.

Obrigkeit braucht um ihren Bestand zu wahren, Gesetze.

Calvin  spricht schon in seiner Auslegung von Deut. 16,18 im Gefolge von Cicero (wie auch IV, 20, 14) von der Obrigkeit als „Seele des Gesetzes“, denn was seien alle Edikte und Dekrete der Welt denn „Tote Sachen; sie stehen  auf dem Papier. Sie werden aber lebendig, wenn es ausgewählte Geister gibt, die ihnen Geltungskraft verleihen und den Gehorsam gegen sie erwirken.“[16]

Soweit der Herrscher als verlebendigtes Gesetz angesehen wird, folgt daraus, dass von den drei von Philosophen aufgestellten Regierungsformen – Monarchie, Aristokratie und Demokratie – der Aristokratie oder einem mit der bürgerlichen Gewalt gemischtem Zustand der Vorzug zu geben ist, weil Könige selten ausreichend vorsehen und sich mäßigen. Außerdem sieht man bei größerem Überblick wie gut die von Gott vorgesehene Mischung ungleicher Elemente zum Zusammenhalt taugt.

Da die Amtspflicht der Obrigkeit an erster Stelle Sorge für Frömmigkeit  und Gesetzgebung nach Gottes Recht heißt (IV, 20, 9), erhebt sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Frömmigkeit und Blutgerichtsbarkeit.

Wenn die Obrigkeit bei der Ausübung von Strafe nichts aus eigener Bevollmächtigung tut, sondern vielmehr Gottes eigenste Urteile vollstreckt – dann nämlich wenn Mord gesühnt wird, denn „das heißt nicht Schaden noch Leid tun, wenn man die Bedrängnis der Frommen auf des Herrn Befehl rächt“ (IV, 20,10), verstößt sie nicht gegen Gottes Gebote.

Daraus ergibt sich auch die Gerechtfertigkeit von Kriegen (sowie Schutzbesatzungen, Bündnissen und bürgerlichen Rüstungen, IV, 20, 12) um aufrührerische Bewegungen unruhiger Leute zu unterdrücken, Bedrängten zu Hilfe zu kommen und Freveltaten zu ahnden um des gemeinsamen Friedens willen. Das gibt auch der Heilige Geist durch viele Zeugnisse der Schrift zu erkennen (IV, 20, 11), auch wenn es nicht die Absicht der apostolischen Schriften ist, bürgerliche Regierungen zu gestalten sondern „Christi geistliches Reich aufzurichten“ (IV, 20, 12). Denn man kann sich nicht der Obrigkeit widersetzen ohne dies zugleich Gott gegenüber zu tun (IV, 20, 23), deswegen sollten sich amtslose Leute nicht unberufen in öffentliche Dinge einmischen oder der Obrigkeit unüberlegt ins Amt greifen, sondern sie sollten ihre Verbesserungsvorschläge der Obrigkeit geziemender Weise zur Kenntnis bringen.

Calvin betont noch besonders, dass Abgaben und Steuern schriftgemäß rechtmäßige Einkünfte der Fürsten seien, selbst wenn sie dem Glanz der Hofführung zugeführt werden – aber dennoch zu den Besitztümern des ganzen Volkes zählen und nicht so sehr ihr persönliches Eigentum darstellen (IV, 20, 13). Diese Klarstellung soll verhüten, dass Obrigkeiten – aber ebenso amtslose Leute – aus  unfrommen Selbstvertrauen zur Verachtung Gottes gelangen.

Wenn eine Obrigkeit aber durch Schandtaten ihrer Würde verlustig geht und damit „keinerlei Erscheinung des Ebenbildes Gottes“ abgibt, wird ein solcher Fürst auch nicht als solch ein Oberer, dessen Würdigung die Schrift anempfiehlt, anerkannt. Allerdings könnte ihr Fehlverhalten von Gott erweckt worden sein, um die Ungerechtigkeit des Volkes zu strafen (IV, 20, 25). Daher sollte man – und damit meint Calvin amtlose, also Privatleute (IV, 20, 31) – zuerst auf seine eigenen Missetaten schauen; Demut wird sodann die Ungeduld zügeln. Man sollte stattdessen die Hilfe des Herren anrufen (IV, 20, 29) und bald werde dieser aus seinen Knechten einen öffentlichen Erretter erwecken und mit seinem Auftrag ausrüsten.

Solche Retter würden von Gott berufen und verletzten nicht die von Gott verliehene Majestät des Königs, sondern „sie hielten, da sie vom Himmel herab gewappnet waren, die geringere Gewalt kraft der größeren im Zaum“ (IV, 20, 30).

Wo hingegen Volksbehörden – und ähnlich die drei Stände, Hausstand, Lehrer und Wissenschaft sowie Landwirtschaft, Gewerbe und Handel, die Calvin allerdings nicht wie Thomas von Aquin hierarchisch ordnet, da sie ein gemeinsames Ziel haben[17]  – als Gegengewicht zur Mäßigung der Willkür der Könige bestehen, gehört es zu deren Pflichten, der Ungebundenheit des Königs entgegen zu treten, andernfalls sie „in schnödem Betrug“ die Freiheit des Volkes verrieten zu deren Hütern sie durch Gottes Anordnung berufen wurden.

Wenn die Obrigkeit ihre von Gott gegebene Macht missbraucht, besteht ein Widerstandsrecht bzw. auch Entziehungsrecht, weil Gottes Gebot das höchstrangige ist und man verhindern muss, dass Unredliches geduldet wird und sich folglich ausbreiten und anstecken kann.

Calvin unterscheidet zwischen Widerstandrechten im Privatbereich und im staatlichen Bereich.

Im privaten Konfliktsfall sieht er eine doppelte Art des Widerstandes: die eine besteht darin, ohne Schaden und Verantwortung Unrecht zu verhindern, die andere hingegen zeigt sich als Ausübung des Talionsrechts und ist Christen verboten, während die erste Form sehr wohl geboten erscheint. Wenn aber Obrigkeiten Recht in Unrecht verkehren, ist (wütende, kommunikationslose) Auflehnung verboten.[18]

 

  1. Das Billigkeits-Prinzip

Gesetzesstrenge soll durch Billigkeitserwägungen gemildert werden.

Die Billigkeit wird dabei als Mäßigung verstanden, die in der Mitte steht zwischen der absoluten, die Strafen unerbittlich fordernden Strenge und der übermäßigen, hie und da unterschiedslos geübten Milde ausgleicht.[19]

Das sittliche Gesetz besteht aus zwei Hauptstücken: einesteils Gott in reinem Glauben zu verehren, andernteils den  Menschen in aufrichtiger Liebe zu begegnen und diese Liebe auf bestmögliche Weise zu wahren.

Dieses sittliche Gesetz ist das Zeugnis des natürlichen Gesetzes – des Gewissens, das auf aequitas (Gerechtigkeit bzw. Billigkeit) „in Anbetracht der Verhältnisse, die Zeit, Ort und Volk mit sich bringen“ ausgerichtet ist. Das soll aber nicht zu permissivem Verständnis für „schadgierige“ Menschen verleiten, denn Gerechtigkeit einzufordern berechtigt nicht zu Hass und Verfolgungswut, sondern soll im Vertrauen auf den Schutz der Obrigkeit zumindest auch Verzichtsbereitschaft umfassen – denn wenn die Hilfe der Obrigkeit eine heilige Gabe Gottes darstellt, muss man sich davor hüten, sie durch eigenes schuldhaftes Verhalten wie Zorn, Rache, Neid oder Kampfeshitze zu beflecken (IV, 20, 18), sondern die Liebe wird den besten Rat geben und zeigen, dass alle Streitigkeiten, die ohne sie unternommen werden und über sie hinausgehen ungerecht und gottlos sind (IV, 20, 21)..

An Stelle des Gesetzes muss auch für die, die nicht unter einem solchen  stehen, das Gewissen treten, denn die Quelle des sittlichen Gesetzes ist das Herz (das nach dem biblischen Sprachgebrauch mit Vernunft identisch ist)[20]. Im Gewissen begegnen sich Gott und Natur, denn das Gewissen ist der Sinn (das wäre dann eine Ergänzung zu den traditionell auf fünf beschränkten Wahrnehmungssinnen), in dem die sittliche Erkenntnis hervortritt.[21]

 

  1. Das Schrift-Prinzip

Die Schriftmäßigkeit bildet den ausschließlichen Maßstab zur Beurteilung bestehender oder zur Neugründung von Einrichtungen in der Kirche.

Schon in dem Leitmotiv, das Calvin seinem Mitarbeiter Guillaume Farel für die Gestaltung der Genfer Verfassung angab, kommt dieser auch Formalprinzip genannte Grundsatz zum Ausdruck, wonach nur diejenige Verfassung eine richtige und wahre sei, die aus Gottes Wort geschöpft ist und mit der Ordnung der apostolischen bzw. christlichen Urkirche übereinstimmt.[22]

Jede, auch die der Gemeinde von Gott verliehene, Macht ist keine naturrechtlich ungebundene sondern an das Wort Gottes – an den Dekalog[23] – gebunden. So ist das Leben ein unveränderliches Gut und wer es raubt, begeht Raub an einem Heiligtum, ebenso wie am Besitz oder an der Freiheit.[24] Calvin fasst nämlich Personenrecht und Eigentumsrecht im Oberbegriff Freiheit zusammen und stellt sie der vis dominationis – den Auswüchsen der Herrschaftsrechte, insbesondere der Ausbeutung der Privatpersonen, ihres Lebens und ihres Eigentums – entgegen.[25]

Calvin unterscheidet Naturgesetz als das Grundprinzip, das sittlich-rechtlichen, religiösen und intellektuellen Betätigungen die Normen anweist, vom Naturrecht als Personifikation durch das natürliches Empfinden; dieses darf nicht durch Mehrheitsgewohnheiten zerstört werden.[26] Zu solchen zählen beispielsweise Egoismus oder Stolz[27]. Allerdings sieht Calvin die Wurzeln der Verderbtheit nicht an der Oberfläche von schlechten Gewohnheiten, sondern in der Tiefe menschlicher Bosheit[28], doch ist die Natur des Menschen durch den Sündenfall nicht gänzlich verderbt, sondern es leuchten Funken der Vernünftigkeit, vor allem aber geht der unabtrennbare Wille nicht verloren; allerdings wird der bekehrte Wille vom natürlichen unterschieden[29].

Das Ungleichheitssystem ergibt sich aus der Vielfalt der Schöpferordnung ebenso wie das darin beheimatete Naturrecht, das als Heilmittel der Gesellschaft dienen kann. Nicht alle Menschen besitzen die Begabung (und den Willen), die Ordnung der Gesellschaft zu schaffen – sie zählt zu den Gnadengaben.[30]

 

  1. Das Einheits-Prinzip

 „Unterscheiden heißt nicht scheiden.“[31]

Durch den Heiligen Geist wird der Zustand der Kirche in seiner Unversehrtheit erhalten, der Körper Christi gestaltet, die Einheit der Glieder mit Christo und untereinander hergestellt.

Daher müssen sich alle Träger öffentlicher Ämter dessen bewusst sein, dass sie nur solche Glieder sind, die die vom Haupt Christus in den Gesamtkörper sich ergießende Lebensgüter zu verwalten haben. Diese engverbundene Integration von Teilbereichen – und damit die Bestreitung, Tätigkeiten in der Kirche nach besonderen Arbeitszielen voneinander abzugrenzen – liegt einerseits im Wesen der Kirche als Organismus begründet, ist andererseits aber auch Prinzip ihrer Verfassung. Trotz der unterschiedlichen Eigenart der Ämter ist die Einheit des Amtes zu wahren. [32]

Die Kirche kann dem Staat und oder auch der Staat der Kirche unterworfen sein ohne dass die urtümliche Selbständigkeit preisgegeben wird.[33]

Das Wort erhält seine einigende Kraft durch den die Selbstvergegenwärtigung bewirkenden Geist. Wie der Heilige Geist Zugang zum Reich Gottes ermöglicht, ist er auch die Kraft, durch die Gott und der erhöhte Christus ihre Herrschaft in der Kirche ausüben. Da aber die Trinität sich spirituell über alle Glieder der Kirche ergießt und dabei immer derselbe ungeteilte Gott wirksam bleibt, ist die Einheit der Glieder dessen notwendige Folge; es bekommen die kirchlichen Ämter und Träger im Lichte dieses pneumatischen Prinzips allerdings einen besonderen Wesenszug.[34] Die Überlegenheit und Würde von Amtsträgern ist Reflex des von ihnen verkündeten Wortes – sie bleiben immer nur Organe des Heiligen Geistes.

 

  1. Zusammenfassung

Schon aus seiner Biographie ergibt sich, dass für Calvin Ordnung hohen Wert besaß, was auch seine intensive Beziehung zur Schöpfungsordnung und Dekalog erklärt. Ordnung schaffen im Sinne des Worts Gottes zählt zur Gottebenbildlichkeit und betrifft nicht nur Amtsträger sondern alle Menschen, die für bestimmte Aufgaben begabt, gegebenenfalls aktuell berufen sind und diese Ordnung zu beachten haben widrigenfalls sie sich gegen Gott stellen. Diese seine Überzeugung tritt schon in der Erstfassung der Institutio und ihrer Widmung zu Tage, in der er sich von einem nur zeitgeistigen Rebellentum distanzieren und an verbesserter Weiterentwicklung engagiert erweisen will und wird in der Letztfassung als grundlegende Gesamtsicht für ein schriftgemäßes Leben nicht nur als Gläubiger und Amtsträger sondern auch als Untergeordneter vervollkommt.

 

  1. Verwendete Literatur

Bohatec Josef, Calvin und das Recht. Scientia Verlag, Aalen 1991 (2. Neudruck der Ausgabe Breslau 1937).

Bohatec Josef, Calvins Lehre von Staat und Kirche. Scientia Verlag, Aalen 1968 (2. Neudruck der Ausgabe Feudingen 1934).

Calvin Johannes, Unterricht in der christlichen Religion.  Neukirchner Verlag, Neunkirchen-Vluyn 1955/ 1997.

Obermann Heiko A., Zwei Reformationen. Luther und Calvin – Alte und Neue Welt. Siedler Verlag, Berlin 2003.

Opitz Peter, Leben und Werk Johannes Calvins. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009.

 

Fußnoten

[1] Obermann, S. 196.

[2] Opitz, S. 18.

[3] Diese Gegensätzlichkeit folgt dem Jungianischen Erklärungsmuster einer missglückten Schattenintegration.

[4] Obermann, S. 198.

[5] S. o., S. 200 f.

[6]   S. 201.

[7] S. o., S. 203 f.

[8] S. o., S. 204.

[9] Opitz, S. 72.

[10] Vgl. 1 Kor. 7,21 zu Gal. 3,28.

[11] Vgl. 1 Kor 12, 12 – 31, Röm 12, 4 – 8.

[12] Bohatec, Lehre, S. 611.

[13] S. o., S. 636 f.

[14] Bohatec, Recht, S. 37.

[15] S. o., S. 38 f.

[16] Bohatec, Lehre, S. 36.

[17] Bohatec, Lehre, S. 635.

[18] Bohatec, Recht, S. 135.

[19] S. o, S. 40.

[20] S. o., S. 5.

[21] S. o., S. 7.

[22] Bohatec, Lehre, S. 383.

[23] Bohatec, Recht, S. 12.

[24] S. o., S. 11.

[25] Bohatec, Lehre, S. 97.

[26] Bohatec, Recht, S. 10.

[27] S. o., S. 20.

[28] S. o., S. 21., vgl. Institutio IV, 20, 17,

[29] S. o., S. 22 f.

[30] S. o., S. 25 f.

[31] Bohatec, Lehre, S. 612.

[32] S. o., S. 421 f.

[33] S. o., S. 614.

[34] S. o., S. 425 ff.