Rotraud A. Perner
24-05-2014
„Das ist doch kein Leben!“
Theologisch-psychotherapeutische Seminarreflexion
Zur besseren Lesbarkeit wurde männlich gegendert.
Zitate wurden der neuen Rechtschreibung angepasst.
Inhalt
Aufbau der Reflexion
Ausgangspunkt E. Schrödingers „Was ist Leben?“
Ausgangspunkt M. Preiters „Die Logik des Verrücktseins“
Ausgangspunkt K. Harrassers „Körper 2.0“
Resümee meiner Überlegungen
Literaturangaben
Die Farbe von Gold etwa ist dem Periodensystem nicht zu entnehmen,
auch nicht die ästhetische Präsenz, die dieses Metall ausübt,
und schon gar nicht die unter Umständen ambivalenten Gefühle,
die ein verschenkter goldener Ring ausüben kann.
Markus Preiter[1]
Aufbau dieser sehr persönlichen Reflexion
Im Anschluss an die Vorlesung von Andreas Klein am 20. März 2014 mit deren Thematisierung der technischen Erweiterbarkeit des Menschen stellte ich mir die Frage, welche Ansprüche aus diesen Optionen erfolgen könnten.
In meiner eigenen Publizistik zitiere ich immer wieder den Satz, den Viktor Adler am 7. September 1902 bei der Eröffnung des Arbeiterheims in Wien Favoriten gesagt hat und der dort an der Wand des Festsaals prangt (und, seitdem das Arbeiterheim zu einem Hotel umfunktioniert wurde, mit einem Vorhang abgedeckt ist, der nur bei Vermietung für die Festveranstaltungen der SPÖ beiseite gezogen wird): „Heute verlangen wir mehr als die Frucht unserer Arbeit. Wir verlangen das Recht auf Wissen, Gesundheit, Schönheit!“
In meiner psychotherapeutischen Praxis begegne ich immer wieder Menschen, die an sich Operationen durchführen lassen wollen bzw. durchgeführt haben, um ihr Äußeres an eine Vision von Perfektion sprich psychischer Unverletzlichkeit anzupassen. Ich nenne dies das „Michael-Jackson-Syndrom“. Ohne jetzt auf die tiefenpsychologische Dimension dieser Begehrlichkeiten einzugehen, lautet die vermittelte Botschaft jedenfalls: „Ich mag mich nicht so wie ich bin.“, und oft folgt der Nachsatz: „Das ist doch kein Leben!“
Ich gehe im Überdenken der Lehrveranstaltung von der Fragestellung aus, welche nicht nur psychischen sondern auch biologische Bedingungen es gibt, in denen das lebensbewahrende Gleichgewicht der menschlichen Psychodynamik solch eine Veränderung erfährt, dass der Lebenswille erlöscht. D. h. ich suche die Verursachung der vielfach so genannten „Entgleisung des Gehirnstoffwechsels“ vorerst nicht mit Hilfe der biochemisch-psychiatrischen Sprache, sondern starte bei den Formulierungen von Erwin Schrödinger.
Vorausgesetzt möchte ich zu wissen geben, dass für mich Sprache lediglich Symbolisierung von Phänomenen bedeutet ähnlich wie auch Maturana/ Varela formulieren, „Wenn die Sprache entsteht, dann entstehen auch Objekte als sprachliche Unterscheidungen sprachlicher Unterscheidungen, die Handlungen verschleiern, die sie koordinieren. So koordiniert das Wort ,Tisch‘ unsere Handlungen in Hinsicht auf die Handlungen, die wir ausführen, wenn wir mit einem ,Tisch‘ umgehen. Der Begriff ,Tisch‘ verschleiert uns jedoch die Handlungen, die (als Handlungen des Unterscheidens) einen Tisch konstituieren, indem sie ihn hervorbringen.“ (Maturana/ Varela: 227); und weiters, dass ich – wie bereits im Arbeitskreis in Zwettl auf Frage von Prof. Huber geantwortet habe, „leben“ für mich die Fähigkeit des Austausches mit anderem Lebendigen und der reaktiven Verarbeitung darstellt. Ich will mich demzufolge in meinen nachfolgenden Gedanken um eine „Übersetzung“ mancher im Seminar angerissenen Perspektiven in seelsorgerliche daher auch psychotherapienahe Blickwinkel, Sprache und „Beziehungen“ bemühen.
Im Interdisziplinären Seminar schienen mir strukturierende und quantitativ beschreibende Bezüge zu der titelgebenden Frage zu dominieren. So wurde auch die Frage aufgeworfen, was von den Leben beschreibenden Kriterien wegfallen müsse, damit Leben ende.
In Hinblick auf meine psychotherapeutische bzw. seelsorgerliche Tätigkeit drängten sich mir die Fragen auf, welche Qualitäten es sein könnten, deren Wegfall den individuellen Lebenswillen enden lassen, ob diese generalisiert werden können, und ob sich zu diesen in Erwin Schrödingers Sichtweisen Entsprechungen finden lassen.
Unsere Sinnesorgane sind ja im Grunde
eine Art von Instrument. Wir erkennen,
wie nutzlos sie sein würden, wenn sie zu empfindlich wären.
Erwin Schrödinger[2]
Ausgangspunkt Erwin Schrödingers „Was ist Leben?“
Erwin Schrödinger fragt: „Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus vor sich gehen, durch die Physik und Chemie erklären?“ (Schrödinger: 21) und erinnert in der Folge, dass „alle Atome ständig eine vollständig ungeordnete Wärmebewegung ausführen, die einem geordneten Verhalten sozusagen entgegenwirkt und den zwischen einer nur kleinen Zahl von Atomen sich abspielenden Vorgängen nicht gestattet, sich zu irgend welchen erkennbaren Gesetzen zu ordnen.“ (Schrödinger: 28) Und weiter weist er darauf hin, dass Atome bzw. die von ihnen gebildeten Moleküle „notwendigerweise eine gewisse Stabilität haben; die Anordnung kann sich nicht ändern, ohne dass zumindest die Energiedifferenz von außen geliefert werde, die notwendig ist, um sie auf die nächsthöhere Stufe zu heben.“ (Schrödinger: 78) und dazu ist ein bestimmter Energiezuschuss notwendig.
Um nun ein Molekül in den „nächsthöheren Zustand“ zu heben, schreibt Schrödinger, ist ein bestimmter „Energiezuschuss“ notwendig: „Der einfachste Versuch, ihn zu liefern, ist das ,Aufwärmen‘ des Moleküls.“, und „In Anbetracht der vollständigen Unregelmäßigkeit der Wärmebewegung gibt es keine scharfe Temperaturgrenze, bei welcher der ,Hub‘ mit Sicherheit und sofort bewerkstelligt wird. Es ist vielmehr so, dass der Hub bei jeder (vom absoluten Nullpunkt verschiedenen) Temperatur eine bestimmte kleinere oder größere Aussicht hat, sich zu ereignen. Sie nimmt natürlich mit der Temperatur des Wärmebades zu. Diese Aussicht lässt sich am besten durch die Angabe der Zeit ausdrücken, die man durchschnittlich warten muss, bis der Hub eintritt, der sogenannten ,Wartezeit‘.“(Schrödinger: 79)
Wenn man nun von diesen Aussagen einen Bogen zu den menschlichen Erlebens- und Verhaltensoptionen bildet, welche mit synchroner Veränderung des körperliche, seelischen und geistigen Zustands einhergehen (was ja nicht bei allen zutrifft), kann man analog formulieren: Stresssituationen lösen die Ausschüttung von Stresshormonen – beispielsweise Adrenalin – aus, was als Energiezuwachs zur verbesserten Kampf- bzw. Paarungsbereitschaft definiert werden kann. Beides ist mit einer Erhöhung der Körpertemperatur verbunden.
Stress kann im Außen z. B. in gegenwärtigen Akutsituationen aber auch im Inneren z. B. neuronal verankerten biographischen Episoden begründet sein. Der Freiburger Internist, Psychiater, Psychotherapeut, Neurobiologe und Psychosomatikprofessor Joachim Bauer spricht von der „Schmerzgrenze“: „Wer sich der Schmerzgrenze eines Lebewesens nähert, wird Aggression ernten.“, und „Wenn die durch Schmerz hervorgerufene Aggression sich nicht gegen die Schmerzursache selbst richten kann, dann richtet sie sich gegen beliebige, zufällig anwesende Artgenossen.“(Bauer: 49). Ich ergänze: oder andere Lebewesen oder aber Gegenstände. Bauer präzisiert: „Wenn Schmerzen (oder andere Aggressionsauslöser) angedroht oder tatsächlich zugefügt werden, kommt es im Gehirn zu einer Aktivierung der Angstzentren (Mandelkerne) sowie der Ekelzentren (Insulae: Einzahl; Insula). Die Angst- und Ekelzentren haben ihren Sitz beidseits in der Tiefe der Schläfenregion des Gehirns. Abhängig von der Schwere der Bedrohung und des Schmerzes aktivieren die Angstzentren zwei tiefer gelegene Alarmregionen des Gehirns, das Stresszentrum (Hypothalamus) und das vegetative Erregungszentrum (Hirnstamm).“ Wären Menschen gleich Reptilien, macht Bauer deutlich, käme es sofort und unausweichlich zu einer aggressiven Reaktion. „Bei Säugetieren, insbesondere bei dem mit einem besonders umfangreichen Großhirn ausgestatteten Menschen, ist jedoch ein extrem wichtiger Zwischenschritt vorgeschaltet, bevor es zu einer nach außen gerichtete aggressiven Reaktion kommt.“ (Bauer: 53) Diese „Art neurobiologische Kontrollschleife“ leitet Aggressionsimpulse, bevor sie sich nach außen entladen, nach vorne ins Stirnhirn: „Beim Durchlauf durch die sogenannte ,frontolimbische Schleife‘ erfährt der aggressive Impuls eine Veränderung, zumeist im Sinne einer Mäßigung. Im Stirnhirn wird eingeschätzt, ob die vorhandene aggressive Energie in einem angemessenen Verhältnis zu dem Schaden stehen würde, den andere erleiden könnten. Der Präfrontale Cortex hat die Aufgabe zu überprüfen, inwieweit die durch ihn hindurch laufende Energie, wenn sie als Aggression nach außen geleitet würde, der eigenen Person oder dem sozialen Umfeld Schaden zufügen könnte.“ (Bauer: 56) Dazu ergänze ich: einesteils sehe ich in dieser Formulierung eine Analogie zu Schrödingers „Wartezeit“ – anderenteils stelle ich aber die Frage, wovon es abhängig ist bzw. gemacht werden kann, selbst- oder fremdschädigende Reaktionen abzuwehren – Selbstunterdrückung dabei mitgemeint. Meine Antwort[3] lautet: erstens braucht es die kognitive Erkenntnis des generellen Stressauslösemechanismus – und um die zu verstehen, braucht es ein sprachkompetentes wissendes Du im Sinne Martin Bubers.[4] Zweitens braucht es ein Vorbild für „how to do“ – quasi als wahrnehmbare Anleitung zur Differenzierung zwischen emotionaler Reaktion und verantwortungsbewusstem Verhalten, drittens Übung zur Verankerung im semantischen Gedächtnis und viertens die positive Verstärkung zumindest durch endogene Lust an ethischem Verhalten[5].
Wer noch keine Wahrnehmungsneurone für Stressgeschehen entwickeln konnte, dem fehlt der Ansatz für selbststeuerndes Verhalten sowohl zur (selbst- wie auch fremdgerichteten) Aggressions- wie auch zur Schmerzminderung.
Joachim Bauer schreibt: „Ob und in welchem Ausmaß ein Individuum Aggression zeigt, ist das Ergebnis eines sekundenschnellen, weitgehend automatisiert ablaufenden Abwägungsprozesses. Die Abwägung erfolgt zwischen einem aggressiven Aufwärtsimpuls (,bottom up drive‘) und einem mäßigenden Abwärtsimpuls (,top down control‘). Den aggressiven Aufwärtsimpuls erzeugen die Angstzentren, die Ekelzentren, der Hypothalamus und der Hirnstamm. Der mäßigende Abwärtsimpuls geht vom Präfrontalen Cortex aus. Eine Integration der Impulse findet im Bereich einer Hirnstruktur statt, die sich in der Tiefe der längst verlaufenden Hirnteilungsfurche befindet und dort beidseits wie ein Gürtel von hinten nach vorne zieht.“ Allerdings ist der mäßigende Präfrontale Cortex nur solange aktiv, wie jemand nachdenkt – ansonsten geht er „auf Tauchstation“. (Bauer: 56 f.)
Bei Schrödinger lese ich dazu eine Analogie heraus, wobei ich Wärmebewegung mit dem Blutdruckanstieg unter Stress gleichsetze: „Nach einer M. Polanyi und E. Wigner zu verdankenden Untersuchung hängt die ,Wartezeit‘ weitgehend vom Verhältnis zweier Energien ab. Die eine ist die Energiedifferenz selber, welche benötigt wird, um den Hub zu bewirken (wir wollen sie mit W bezeichnen), und die andere kennzeichnet die Intensität der Wärmebewegung bei der fraglichen Temperatur (wir schreiben T für die absolute Temperatur und kT für die charakteristische Energie). Es leuchtet ein, dass die Möglichkeit den Hub zu bewirken, kleiner und folglich die Wartezeiten desto länger ist, je höher im Verhältnis zur mittleren Wärmeenergie der Hub selber, je größer also das Verhältnis W: kT ist. Erstaunlich ist, wie außerordentlich stark die Wartezeit von verhältnismäßig kleinen Änderungen des Verhältnisses W: kT abhängt.“ (Schrödinger: 79 f.)
Man könnte also formulieren: wer die innere Wärmebewegung absenkend zu steuern weiß, kann auch den Energieanstieg vermindern, der zum Hub – und damit auch zu einer selbstdestruktiven Tat – führt.
Sehr früh erlittene mangelhafte Ergänzerfunktion
und frühe Schwersttraumatisierungen erhöhen die Verletzlichkeit,
die Vulnerabilität des Betriebssystems und die Gefahr,
unter sozialem Gefahrenstress in den abgesicherten Psychosemodus
herunterschalten zu müssen.
Markus Preiter[6]
Ausgangspunkt Markus Preiters „Die Logik des Verrücktseins“
Der in Hamburg klinikleitende Psychiater und Psychotherapeut Markus Preiter lässt mit einem interessanten neuen und philosophischen Konzept zur Erhellung von seelischer Gesundheit aufhorchen. Zuerst umreißt er die Pluralität der Ursachendeutungen von psychischen Abweichungen von der definierten Normalität: „Einer spricht von einer Störung der Menge der Neurotransmitter, ein anderer von Disharmonie im Zusammenspiel einzelner Strukturen des Gehirns, ein Dritter sieht die Ursachen von psychischen Erkrankungen in der lebensgeschichtlichen Entwicklung und insbesondere in den Ereignissen der ersten Lebensjahre, ein Vierter favorisiert das gesellschaftliche Gefüge als ,Krankmacher‘, ein Fünfter macht die Gene verantwortlich, ein Sechster sieht ein Zusammenspiel aller genannten Faktoren als die Ursache an, ein Siebter hält das Auftreten psychischer Auffälligkeiten für generell unverständlich und unerklärlich.“ (Preiter: 17)
Preiter bemängelt die ärztliche Zufriedenheit mit der Kenntnis der „Symptomoberfläche“ (Preiter: 19) und auch das Konzept der „letztlich künstlichen Dichotomie zwischen Gesundheit und Krankheit“ (Preiter: 20) und formuliert oppositionell: „Was üblicherweise als Psychopathologie bezeichnet wird, ist nämlich nichts anderes als eine spezifische Verdichtung des menschlichen Seins und seiner Funktionsweise, die im Gehirn lokalisiert ist.“ (Preiter: 23, Hervorhebung von mir), was er auf eine „von uns allen geteilte evolutionäre Geschichte unseres Seins“ zurückführt – was er als umso erstaunlicher beurteilt, „da der Mensch doch zweifelsfrei das Produkt einer evolutionären Entwicklung ist.“ (Preiter: 24)
Für das Neugeborene bedeutet das „in-den-Armen-eines-anderen-Sein“ nur eine „diskret veränderte Fortsetzung der vorher erlebten uterinen Situation mit anderen Mitteln“, erinnert Markus Preiter, und dass der dabei zu bewältigende Entwicklungssprung in dieser „ersten Schwellensituation des Lebens“ nur so groß sein darf, dass er auch mit hoher Wahrscheinlichkeit bewältigt werden kann (Preiter: 37), und er setzt fort: „Wer noch nicht laufen kann, muss als Ersatzprothese die Beine eines anderen benutzen und durch die Welt getragen werden. Wer seine Nahrung noch nicht selbst finden und zubereiten kann, dem muss sie durch einen anderen, der sich zwischen ihm und der Welt bewegt, zubereitet und gebracht werden. Wer noch nicht sprechen kann, braucht einen anderen, der ihn anspricht und für ihn ausspricht.“ Und: „Wer sich selbst noch nicht beruhigen kann, braucht einen anderen, der beruhigend auf ihn einwirkt.“ Denn: „Wer die Welt noch nicht versteht, braucht einen Vermittler, um in ihr zu überleben, einen Vermittler, der vorläufig noch das ersetzt und ergänzt, was mir noch fehlt.“ (Preiter: 38) Überleben hängt also von der „intrinsischen Motivation“ dieses „Ergänzers“ ab, und diese war evolutionär „nur durch die gleichzeitig mit der Lernfähigkeit angestiegene Emotionskapazität abzusichern.“ (Preiter: 39) Da sieht Preiter den „zwingenden Zusammenhang zwischen beträchtlicher Intelligenz und beträchtlicher Emotionalität“ und betont, dass alle psychischen Erkrankungen in irgendeiner Weise mit Emotionen zu tun haben. (Preiter: 35)
„Im Neuen Testament heißt es: ,An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen‘. Und was soll man erkennen?“ fragt beispielsweise auch Umberto Maturana, und antwortet: „Die Emotionen. Genau das bedeutet die biblische Aufforderung: Prüft die Emotionalität nicht an Taten, sondern an den emotionalen Handlungsmotiven.“(Maturana, Erkennen: 140)
Preiter schreibt aber auch: „Unsere Existenz hängt von Anfang an mit einem Raumverhältnis zusammen, das von einem anderen Menschen erzeugt wird.“ Und setzt fort: „Zunächst aber müssen wir uns verdeutlichen, dass entwicklungskompetente Psychomasse, wie sie im Embryo angelegt ist, angewiesen ist auf sie umgebende und brütungsbereite Biomasse. Und dies gilt nicht nur in diesem frühen konkreten Sein. Auch später ist der Mensch permanent angewiesen auf andere Menschen, die mit ihrem Sein seine Psyche inspirieren.“ (Preiter: 42) Und dabei taucht auch der Hinweis auf Temperatur auf, wenn er erinnert, dass unvorhersehbare Einflüsse für die evolutionäre Entwicklung Gefahr bedeutet: „Vor allem für eine Schwankung sind biologische Entwicklungsprozesse besonders anfällig und dies sind unvorhersehbare Temperaturänderungen.“ (Preiter: 45) Er denkt an dieser Stelle an Temperaturveränderungen im Environment. Ich ergänze aber, dass dabei auch Sozialbeziehungen nicht außer Acht gelassen werden sollten; wir sprechen ja auch symbolisch von sozialer Kälte oder Wärme, und die hängt wiederum mit räumlichen wie auch zeitlichen Distanzen zusammen: je ferner etwas ist, d. h. je mehr Zeit verstreicht, bis Nähe entstanden ist, desto eher kann das Unerwartete bewältigt und als Ressource integriert werden.
Die Simulation der Welt geschieht im zentralen Nervensystem, erinnert Preiter, und erschafft bei ausreichender Stabilität des Systems eine „hinlängliche“ Realitätsnähe zur Warnung und erfolgreichen Abwehr tatsächlicher Gefahren. (Preiter: 210) Dazu möchte ich aber festhalten: Diese Stabilität hängt aber nicht nur vom Austausch mit den biographisch frühen oder aktuellen potenziellen „Ergänzern“ ab, sondern auch vom Bewusstsein dieser Ergänzungsnotwendigkeit (deren Fehlen man dann auch bewusst ertragen kann).
In Hinblick auf schizoide und gravierendere psychotische Phänomene differenziert Preiter fünf „Raumbühnen“ (Preiter: 221 f.):
- die erste (und früheste) umfasst die ganze Fülle der Sinneserfahrungen von Geruch und Geschmack bis zur Handexploration der „Ein-Objekt-Welt“ des Säuglings. Wenn hier Austausch fehlt, droht Regression auf einen deprivierteren Zustand als einen nur minimal versorgten im Mutterleib – man fühlt sich quasi „lebendig begraben“.
Im Gegensatz dazu steht Intimität: Preiter schreibt: “Intimität finden heißt für uns Menschen in Entsprechung dazu, willkommen eintauchen zu dürfen in das erste Raumverhältnis eines anderen.“ (Preiter: 211)
- die zweite ist die „gefährliche, weil blitzschnell überwindbare Nähedistanz“ mit ihren vielen sich ähnelnden Objekten und der Herausforderung der optischen Überwachung.
Im Krankheitsfall fühlt man sich von einem halluzinierten „Schwarm“ kleiner Lebewesen bedroht; der geschlossene Raum eines Zimmers bietet dann keine Sicherheit mehr: „Seine Inhalte können nicht mehr selbstverständlich mit der Hand exploriert und unter Umständen entfernt werden, was sie potenziell gefährlicher macht.“ (Preiter: 212)
- die dritte erfordert auch einen optisch überschaubaren Raum, doch drohen aus dieser Distanz weniger Handattacken sondern Ausgrenzung. Andere Menschen nennt Preiter „anthropologisches, sichtbares Erwartungsmoment; deren Haltung; mein Stellenwert; die Bergungschance in der Gruppe“ und spricht von einem „steilen sozialen Trichter“. Wird von Krankheit gesprochen, dann meist dann, wenn Menschen halluziniert werden.
Preiter schreibt dazu: „Eine Dauerstatistenrolle, in der ich nie zum Bedeutungszug komme, ist dabei nur die lautlose Form des Totalverlierens.“, und wird poetisch: „Das emotionale Orchester ins uns spielt dabei zu diesem Bühnenstück ganze Moll-Sinfonien aus Neid, Hass, Wut und Konkurrenz ebenso wie Musikstücke, die aus Wiedersehensfreude, Beobachterglück und harmonischen Dreipersonenakkorden bestehen.“ Das Trainingscamp dazu ist die frühe Triangulierung des Kindes mit den beiden (!) Ergänzern, Geschwister sind dabei „Verkomplizierungsmomente“. (Preiter: 216)
- die vierte Raumbühne umschreibt der Autor mit „Alleinig akustische Überwachungsversuche des Raumes durch mich; die anderen und andere Gefahren; das Wort und die Sprache; das gefährliche Mich-beobachten-Können der anderen, ohne von mir gesehen zu werden.“ In diesen „Raum“ fallen akustische Halluzinationen von irgendwo her – das kann auch nur das Nebenzimmer sein.
Dazu merkt Preiter an: „Problematisch ist, dass diese dringliche Worterwartung zu den jüngsten evolutionären Errungenschaften unserer Art gehört.“ und weist damit auf die Schad- wie auch Heilkraft des Wortes hin. (Preiter: 217)
- die fünfte hingegen umfasst „Personifizierte Transzendenz; das Leben nach dem Tod; das Glaubenmüssen statt Wissenkönnen, den ,keine Kunde kam je von da‘; Bergung und Strafe; der Wozu-das-alles-Erklärungsraum.“ Hier zeigt Preiter auf: „Die Transzendenzleere der fünften Raumbühne zu ,ertragen‘, fällt vielen, auch aufgeklärten Menschen schwer.“ Das menschliche Bewusstsein ahne seine Abhängigkeit, Brüchigkeit und die Notwendigkeit des Sichanvertrauens an etwas, „das außerhalb von ihm selbst, aber dicht beheimatet ist.“ Dabei wäre es eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart, den „Selbstberuhigungscharakter“ dieser „Bühnenprojektion“ zu entlarven – meint Preiter sich von Alltagsphänomenen (und ohne Kenntnis der theologisch-wissenschaftlichen Forschungen) distanzieren zu müssen – und mögliche Alternativen aufzuzeigen, die weniger „Kollateralschäden“ verursachten als die „rechthaberischen Auseinandersetzungen der Religionen innerhalb ihres Systems und untereinander“. (Preiter: 220) Ich finde es selbstdisqualifizierend und daher sehr enttäuschend, wenn Fachleute mit wissenschaftlichem Anspruch Glaube, Bekenntnis, Religion und Kirchenorganisation undifferenziert vermischen. Hier wären m. E. einige Sätze zur Präzisierung des Objekts der Kritik aufklärungsnötig gewesen.
In meiner gesprächspsychotherapeutischen Ausbildung nach Carl R. Rogers (den ich noch selbst als Lehrer erleben durfte) lag – im Gegensatz zu meiner psychoanalytischen mit ihren provokatorischen Top-Down-Deutungen – der Schwerpunkt auf dem auf Hierarchie verzichtenden symmetrischen „Be-Antworten“, was auch als Anbot fehlender „Ergänzungen“ im Alltagsleben verstanden werden kann.[7]
Martin Buber, mit dem Carl Rogers vielfach in Dialog stand, formuliert: „Im Schauen eines Gegenüber erschließt sich dem Erkennenden das Wesen.“ (Buber: 42). Ich möchte im Sinne von Markus Preiter dagegen halten: vor dem Schauen kommt das Hören, vor dem Hören aber das körperliche Empfinden – beispielsweise von Wärme, Kälte, Nässe etc. – und von Einsamkeit. Und ich möchte weiters formulieren: im Spüren der Qualität der Wärmeabstrahlung des Gegenüber entschlüsselt sich das Wesen.
Wenn also Markus Preiter weiß: „Wir sind auf der emotionalen Ebene permanent unruhebereit.“ (Preiter: 29), so decodiere ich dies mit: wir sind immer auf Gefährdungen bzw. Herausforderungen für unser seelisch-körperliches Gleichgewicht disponiert. So sagt auch Umberto Maturana über die von ihm als autopoietische Systeme benannten Organisationen: „Da ein von außen einwirkender Störeinfluss den Zustand, den das beeinflusste System einnimmt, nicht bestimmt (bzw. festlegt), sondern lediglich auswählt, ist jede solche Einwirkung auf einen Organismus lediglich ein historisches Ereignis, das die Sequenz von Zuständen mitbestimmt, die der Organismus in seiner Ontogenese durchläuft.“ (Maturana, Organisation: 281)
Die Faszination am verformten, dyonisischen Körper
ist nicht Protest gegen den langweiligen, apollinischen Egalitarismus,
sondern Ausdruck einer letzten Hoffnung,
dass es eine egalitäre Grundlage von Wettbewerb gibt.
Karin Harrasser[8]
Ausgangspunkt Karin Harrasser „Körper 2.0“
Sich nicht zu mögen, wie man ist – und möglicherweise auch das eigene Leben – wurzelt im Vergleich: man vergleicht und bewertet die eigenen Stimmungen, man vergleicht sich mit anderen und man vergleicht die zur Veränderung tauglichen Methoden. Suizid – den Körper als Medium unerträglicher Spannungsgefühle auszulöschen – ist eine davon. Psychotherapie – die Spannungsgefühle auf auslösende Momente zu ergründen und das ursächliche Beziehungsgeflecht zu verändern – eine andere. Neuerdings werden chirurgische Körperveränderungen als quasi Heilsweg zur Verbesserung der Lebensqualität angeboten und beworben. Soll man nun über diese technischen Möglichkeiten jubeln – oder die Vermeidung von Leidverarbeitungsprozessen bedauern?
Eines der größten Rätsel der politischen Theorie, schreibt Katrin Harrasser, ist das der freiwilligen Unterwerfung, und zitiert den Appell an die individuelle Entscheidungs- und Leistungsfähigkeit des Bürgers, die ihn partiell – aus ständischer Disziplin und kirchlichem Paternalismus – befreit, aber gleichzeitig umso fester an die Agenturen der Regierung und der Ökonomie bindet. (Harrasser: 118) Etwas Ähnliches sehe ich in der Scheinbefreiung von der Disziplin der Anpassung an ein von Eltern und anderen Autoritäten vorgezeichnetes Normal-Leben durch die Illusion der Möglichkeit der äußeren Selbstgestaltung.
Wenn man Gottebenbildlichkeit so verstehen mag, dass Gott alles Leben umfasst, egal in welcher Ausprägung, dann besteht auch die Interpretationsmöglichkeit, dass die kurativ gedachte Entwicklung korrigierender Prothetik als Akt der Nächstenliebe zu verstehen wäre, das kommerziell gedachte Anbot chirurgischer Dienstleistungen hingegen als schnelle, daher unreflektierte Hilfe zur einseitigen Vermeidung von Selbsterkenntnis. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass ein „Ergänzer“ nötig wäre, um sich selbst als wertvoll und liebenswert zu erleben. Das wäre dann die Wärmezufuhr, die Weiterentwicklung fördert, im Gegensatz zu dem Stressgeschehen, das in Ablehnung wurzelt und sich in den „Raumbühnen“ pathogen einrichten und weitere Ablehnungen – weitere Stresshitzen bis zu einer Art von psychischer Entropie – hervorrufen kann.
Erwin Schrödinger schreibt: „Energie ist nicht nur notwendig, um die mechanische Energie unserer Körperbetätigung zu ersetzen, sondern auch die Hitze, die wir beständig an die Umgebung abgeben. Und dass wir Hitze abgeben, ist nicht zufällig, sondern sehr wesentlich. Denn gerade dadurch entledigen wir uns ja der überschüssigen Entropie, die wir bei den physischen Lebensvorgängen ständig erzeugen.“(Schrödinger: 107) Eben nicht nur als allein physische Lebensvorgänge! Unsere „psychischen“ Emotionen sind ja bloß wahrgenommene Neurotransmitterausschüttungen und damit auch gleichzeitig physischer Natur.
Ich sehe es als Selbsttäuschung, sich durch mehr als nur kosmetische Gestaltungsfreude an der eigenen Umgestaltung zu betätigen um sozial akzeptabler – was auch bedeutet: weniger gefährdet – zu sein. Durch äußere Eingriffe jenseits des Zieles Funktionsfähigkeit wird kein innerliches Gleichgewicht hergestellt – dazu muss man die Lernaufgabe, die durch den Balanceverlust offenbart werden soll, erkennen. Oft heißt sie, sich durch Negativbewertungen nicht die Lebensfreude nehmen zu lassen.
Wir sind immer von anderen abhängig: in unserer physischen Sicherheit wie in unserer psychischen. Die Inszenierung, wie sich andere uns gegenüber verhalten, steht außerhalb unserer Macht. Wie wir auf Stress reagieren, liegt hingegen in unserer Macht und sind Lernaufgaben.
Ein Selbst, das zu einem Gegenstand der Berechnung geworden ist,
hat aufgehört, ein Selbst zu sein. Es ist ein Ding geworden.
Paul Tillich[9]
Resümee meiner Überlegungen
Austausch mit anderem – das ist Beziehung.
Aus theologischer Sicht bietet nicht nur die Begleitung durch einen Seelsorger als „Ergänzer“ auf den ersten vier Raumdimensionen Motivation, die zur Balance lebensfördernder und lebensgefährdender Impulse nötige „Wartezeit“ beherrschen zu lernen (das könnte Psychotherapie auch leisten), sondern das seelische Gleichgewicht kann auch und vor allem mit Hilfe der fünften Raumdimension erlangt werden – dann nämlich, wenn sich ein Glaubender in seiner Gottgeschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit als Teil des „großen Ganzen“ oder mit den Worten Spinozas, als „Attribut“ der „Substanz“ erkennt, die „Modi“ „austauscht“.
Literaturangaben
Bauer Joachim, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Blessing Verlag, München 2011.
Buber Martin, Das dialogische Prinzip. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1984 (5. Durchgesehene Auflage)
Harrasser Karin, Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. transcript Verlag, Bielefeld 2013.
Maturana Humberto, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Friedr. Vieweg & Sohn , Braunschweig / Wiesbaden 1982/ 85.
Maturana Humberto, Was ist Erkennen? Piper, München Zürich 1994.
Maturana Humberto/ Varela Francisco J., Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Goldmann Verlag, München 1990.
Preiter Markus, Die Logik des Verrücktseins. Einblicke in die geheimen Räume unserer Psyche. Kösel, München 2010.
Rogers Carl R. / Rosenberg Rachel, Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit. Klett-Cotta, Stuttgart 1980.
Schrödinger Erwin, Was ist Leben? Piper, München Zürich 1987/ 89 (3. Auflage): abgerufen am 21. 3. 2014 aus:
[1] M. Preiter, Die Logik des Verrücktseins, S. 22.
[2] E. Schrödinger, Was ist Leben? S. 36.
[3] Im Sinne der von mir nach Aaron Antonovskys Konzept von Salutogenese entwickelten Methode Salutogenergethik® vgl. mein Buch „Hand Herz Hirn“.
[4] M. Buber: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ (Buber: 32)
[5] Auf weitere Ausführungen z. B. in Hinblick auf östliche Meditationspraktiken sowie z. B. auch körpertherapeutische Interventionen wird zur Beschränkung des Umgangs dieser Reflexion verzichtet.
[6] M. Preiter, s. o., S. 313.
[7] In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, dass ich es nicht hilfreich finde, mit der „Psychotherapie“-Parodie ELIZA auf studentische Lachreaktionen zu zielen und damit möglicherweise zu erschweren, dass Psychotherapieindizierte sich an eine Verbesserung ihrer psychischen Gesundheit heranwagen. Als langjährige Gerichtssachverständige für Kunstfehler in der Psychotherapie betone ich: Die im Seminar vorgespielte Passage hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit professioneller Psychotherapie – wohl aber mit der von Reinhard Tausch in den 1970er Jahren praktizierten Fortbildung in non-direktiver Gesprächsführung für Sozialarbeiter. Insofern ist sie „Schnee von vorvorvorgestern“.
[8] K. Harasser, Körper 0.2, S. 59
[9] P. Tillich, Der Mut zum Sein, S. 92, zitiert nach R. Rosenberg, in: C. R. Rogers/ R. Rosenberg, Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, S. 128.