„Ketzer“

Es gibt Phänomene, die hält man in Zeiten der political correctness für längst  verschwunden, „No go“ sozusagen.

Dazu gehören verächtliche Bezeichnungen für Menschen, die den von den dominanten Gesellschaftsschichten missachteten Minderheiten zugehörten – schwarze Sklaven in Amerika, nichtsesshafte Roma und Sinti in Europa. Dazu zählen aber auch gleichgeschlechtlich orientierte Menschen; die wehrten sich in der gay-pride-Bewegung gegen diskriminierende Bezeichnungen dadurch, dass sie diese einfach mit umgekehrt selbstbewusster Betonung verwendeten: „Ich bin schwul und das ist gut so!“ Ebenso suchten Menschen mit Handicaps nach neuen Worten; ich erinnere mich noch, wie der Diplomsozialarbeiter Manfred Srb – in den 1980er Jahren mein Kollege im Verein Jugendzentren der Stadt Wien und später Nationalratsabgeordneter der Grünen – hinten auf seinem Rollstuhl ein Transparent „Ich bin behindert“ angebracht hatte, wobei „bin“ durchgestrichen und durch „werde“ überschrieben worden war.

Ich meine: Es sind nicht nur die Betroffenen selbst, die sich gegen Abwertungen wehren müssen – wir alle, die wir Zeug_innen solcher verbaler Gewalt werden, sind aufgerufen, Beistand zu leisten bzw. aufzuklären, dass es beispielsweise korrekter ist, von Asylwerbenden zu sprechen statt von Asylanten oder Haftinsassen statt Häftlingen oder dass Emanze ein Schimpfwort ist – für Frauen, die ihr Leben selbst bestimmen wollen.

In der österreichischen Bundesverfassung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alle Bundesbürger (!) vor dem Gesetz gleich sind und Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses ausgeschlossen sowie behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichgestellt sind. Vor dem Gesetz (begründete Ausnahmen sind zulässig) – aber nicht im Denken und Reden. Da zeigen sich die alten Parolen, mit denen unliebsame Störenfriede – dazu gehören all die, die gleichen Respekt einfordern und sich nicht mit bloßer Duldung ihrer Existenz begnügen wollen – eingeschüchtert werden sollen.

In meiner Schulzeit in den 1950er Jahren am „humanistischen“ Gymnasium in Wr. Neustadt gab es einen einzigen evangelischen Christen in unserer Klasse. Er wurde immer wieder als Ketzer „geneckt“. Lustig war das nicht. Möglicherweise motivierte ihn das, später selbst AHS-Professor und Direktor zu werden. Bei mir selbst trauten sich die Professoren derartigen Spott nicht, obwohl ich immer vom Religionsunterricht abgemeldet war, vermutlich weil ich als einziges Mädchen in der „Bubenschule“ (Koedukation gab es damals noch nicht!) ohnedies die totale Herausforderung für ihre Toleranz bedeutete.

O tempora o mores?

Mitnichten. Beim Europa Forum Wachau am vergangenen Wochenende wurde ich – 71jährige und neuerdings evangelische Hochschulpfarrerin – von einem vermutlich 10 Jahre jüngeren hochrangigen Juristen der Wirtschaftskammer Österreich – vermutlich „scherzhaft“ gemeint – als Ketzerin angesprochen. Ich war über diese Beleidigung so verblüfft das ich nur ein „Nicht mehr!“ herausbrachte: Es sollte nicht mehr nötig sein, Menschen anderen Glaubens „neckisch“ zu diskriminieren – noch dazu bei einem Symposium, wo es um „Einigungen“ ging.