Rotraud A. Perner

Spirituelle Räume
als Gesundheitsfaktor

Vortrag am
Mag. Paul Weiland Gedächtnis Symposium
21. Oktober 2016

Die Gesundheitsdefinition der WHO

Gesundheit wurde von der Weltgesundheitsorganisation in der Ottawa Chart 1986 (dem Folgedokument der Deklaration von Alma Ata 1978) als Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit definiert. Solch ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit bedeutet aber, dass auch die unterschiedlichen Einflüsse aller Dimensionen und ihrer Wechselwirkungen untereinander berücksichtigt werden müssen.  (NAIDOO / WILLS: 6) Die beiden Universitätslehrerinnen Naidoo und Wills berufen dabei

  • hinsichtlich der körperlichen Gesundheit auf Fitness,
  • bei der psychischen auf ein positives Lebens- und Selbstwertgefühl,
  • bei der emotionalen auf die Fähigkeit, Gefühle ausdrücken zu können sowie Beziehungen entwickeln und aufrecht erhalten zu können,
  • bei der sozialen, nicht im Abseits zu stehen sondern soziale Unterstützung durch Familie und Freunde zu haben,
  • bei der sexuellen, seine eigenen Bedürfnisse befriedigend ausdrücken zu können und
  • bei der spirituellen „das Erkennen und die Fähigkeit, moralische oder religiöse Grundsätze und Überzeugungen in die Praxis umsetzen zu können.“ (Naidoo/ Wills: 6 f.)

Letztere sehe ich als eine Verlegenheitsaussage – denn „spirituelle Gesundheit“ ist meiner Kenntnis nach erst nach Reklamation durch Dritte-Welt-Länder in die WHO-Definition aufgenommen worden[1] und führt nach wie vor ein Schattendasein. Das berichtete auch der Schweizer Religionswissenschaftler Ralph Marc STEINMANN (* 1952) in seiner Spurensuche nach einer Definition.

Ähnlich ausweichend wird auch „soziale Gesundheit“ aus politischer Sicht (Stichwort Public Health) allein auf eine Gesundheit fördernde Umgebung verstanden, nicht aber in Hinblick darauf, welche Art von Kommunikation bzw. Informationsaustausch gefördert wird. Und bei der sexuellen Gesundheit fehlen überhaupt Konkretisierungen von salutogenen „Verkörperungen“.

Was ist spirituelle Gesundheit?

Versucht man aus einem christlichen Blickwinkel spirituelle Gesundheit nicht nur auf eine die jeweilige Religion wertschätzende Krankheits- und Sterbebegleitung hin zu verstehen, so wird man in der Bibel fündig, wenn man aufmerkt z. B. bei den

  • wiederholten Aufforderungen, sich rein zu halten (was nicht bedeuten soll, einen Reinheitskomplex zu entwickeln) (1 Kor 6,19; Ps 18, 27; Hebr 10,22; Jes 1,16; Hes 36,25!
  • seelisch wirksamen Hinweisen, verbale Verletzungen zu vermeiden (z. B. Mt 15,18: „Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen und das macht den Menschen unrein.“, Jak 3, 2 – 12)
  • Betonungen des Geistes der Liebe (z. B. Spr 5,19; Joh 15, 9; 1 Joh 4,18)
  • und bei den Anregungen zur tröstlichen Hinwendung an Gott an besonderen Orten (z. B. Ps 65,5: „ … der hat einen reichen Trost von deinem Hause, deinem heiligen Tempel.“).

Aus meiner Sicht bedeutet spirituelle Gesundheit die Kraft aus der seelisch-geistigen Beziehung zu Gott – also umfassender Liebe, die sich im Logos, im schöpferischen Wort und der liebevollen Schöpfung manifestiert – beziehen zu können und dazu dient regelmäßige Seelen-Reinigung im Sinne von Sich-offen-machen für dieses „Andocken“.

Dafür einen spirituellen Raum zu erschaffen, ist für diese Kommunikation dienlich – aber er ist aus meiner Sicht nur eine materialisierte Projektion des seelisch-geistigen Resonanzraumes nach außen, quasi eine rituelle Hilfe zur Zentrierung auf Gotteserleben. Dass diese Hinwendung Gesundheit fördert, ist durch zahlreiche Forschungen belegt.[2]

Salutogenese

Die von dem amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron ANOTONOVSKY  (1923 – 1984) stammende Wortneuschöpfung Salutogenese bezeichnet im Gegensatz zu Pathogenese – allem was krank macht – alles, was Gesundheit aufbaut, erhält und fördert. Seine Forschungen mit weiblichen Holocaust-Überlebenden führten ihn zur Formulierung des von ihm so genannten „sense of coherence“ (Kohärenzsinn, Kohärenzgefühl), der kurz umrissen bedeutet, dass die jeweilige Hochstresssituation

  • als verstehbar angenommen worden und
  • mit einem wenn auch Minimum an Gestaltbarkeit beantwortet und
  • als sinnvoll empfunden worden war.

In meiner psychotherapeutisch fundierten Weiterentwicklung des Antonovskyschen Ansatz präzisiere ich die Verstehbarkeit in einem vorgelagerten engeren Sinn als unverfälschte Wahr-nehmung, d. h. ohne Verharmlosung oder Dramatisierung und unter Kontrolle und Verzicht auf Selbstbelügung. („Die Wahrheit wird euch frei machen“ Joh 8, 32).[3]

Gemäß der Bewusstseinsquadrinität von C. G. JUNG findet Wahrnehmung körperlich, emotional, intuitiv und kognitiv statt[4]. Erst wenn wir uns sozial auf Worte und Begriffe „geeinigt“ haben, wird Wahrnehmung kommunizierbar und in Form von Memen im globalen „Mem-Pool“ (wie Gen-Pool; zu seiner Wortneuschöpfung „Mem“: DAWKINS: 226 f.) – Sheldrake würde „Feld“ formulieren – allgemein verfügbar.[5]

Spirituelle Gesundheit wurzelt in einer spezifischen Wahrnehmungsreaktion: das Wort – von außen wie von innen („innerem Dialog“, vielleicht auch „Offenbarung“?) – hören und davon ergriffen werden. Ich zähle dieses Reagieren zur Empathie – nicht zum Mentalisieren.

Der von etablierten Naturwissenschaftlern umstrittene (von anerkannten Experten wie David BOHM oder Hans-Peter DÜRR hingegen unterstützte) Biochemiker und Zellbiologe Rupert SHELDRAKE (* 1942) trat 1981 mit der These an die Öffentlichkeit, dass Lebewesen durch spezifische motorischer Felder und die dadurch ausgelöste, von ihm so bezeichnete „morphische Resonanz“ zu charakteristischer Baustruktur und Schwingungsmuster in ihrem Körper beeinflusst würden (SHELDRAKE 1984: 161). Seinerzeit von Kritikern als Esoterik abgetan, lassen die naturwissenschaftlich belegten Erkenntnisse der computergestützten Gehirnforschung der späten 1990er Jahre und das junge Wissen um Epigenetik rehabilitierende Anerkennung zu, vorausgesetzt man kann einem intellektuellen Paradigma-Wechsel folgen.

Demnach hängt es von der „sensorischen Spezialisierung“ der Sinnesorgane ab, wie weit die individuelle Reaktionsbreite auf Reize innerhalb maximaler Grenzen reicht – und diese „Pforten der Wahrnehmung“ (Aldous HUXLEY) lassen sich u. a. durch chemische Reize verändern. Aber nicht nur durch von außen zugefügte chemische Reize, ergänze ich, sondern auch durch innere.[6]

Leben in Fülle

Im harten Durchschnittsleben des Mittelalters – und früher auch – bedeutete sonntägliches „ruhen-dürfen“ im von Gesang erfüllten kerzenerleuchteten Dunkel der Kirchen einen Überleben fördernden Ausgleich zur Fron. In der heutigen Reizüberflutung durch zu viel essen, besitzen, dominieren, sollen, wäre auch Ausgleich nötig – und das bedeutet wieder Ruhe, Dunkel, Stille und auch Kühle. Reinigung vom Überfluss. Abgeben. Teilen.

Durch die permanente Werbung für das angebliche „gute Leben in Fülle“ wird aber Prallheit und Bewegungsmangel propagiert, gefolgt von Verstopfung und Verstockung als suggeriertem Normalzustand und daher Entzugserscheinungen bei Absinken dieses Sättigungsniveaus. Auch der mögliche „spirituelle Erlebnisraum“ wird überfüllt, weil man sich sonst nicht voll – und auch voll genommen – fühlt.

Entzug bedeutete Reinigung, Entleerung, Leere. Da können depressive Seeleninhalte auftauchen, Angst vor Kraftverlust, Zusammensacken, Verlassenheit –Löcher in der Seele. Dabei sind gerade diese „Freiräume“ nötig, damit etwas Neues entstehen kann! Vor jeder Schöpfung muss es in gewissem Sinne wüst und leer und finster sein, damit die schöpferische Energie Raum findet. (Gen 1,2)

Der schöpfungsfreundliche Raum

Nach der Bedürfnispyramide von Abraham MASLOW (1908 – 1970) können übergeordnete Bedürfnisse erst Raum greifen, wenn die zu Grunde liegenden befriedigt sind:

  • zuunterst liegen dabei die existenziellen wie essen, trinken, schlafen,
  • gefolgt von Sicherheitsbedürfnissen nach Schutz und Stabilität bzw. Ordnung,
  • danach erst tauchen soziale Bedürfnisse nach Zuwendung und Zugehörigkeit (und leider auch Dominanz) auf.
  • Erst aus diesen heraus erwächst das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung und
  • zuletzt, an der Spitze der Pyramide, steht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.

Zu letzterem zähle ich auch das Bedürfnis nach sinnhafter Transzendenz – zur Selbsterkenntnis, auch, sich als Teil eines großen Ganzen zu erkennen. Dann entsteht ein Bewusstsein von Teilhabe und Teilgabe an andere wie auch die Motivation, die bereits erfahrenen tiefer liegenden Bedürfnisse – auch anderer – ohne Rückfall in Konkurrenz und Un-Ordnung ernst zu nehmen und kreativ – im Ausdruck unserer gottgegebenen Schöpferkraft – an  Verbesserungen zu arbeiten.

In unserem eigenen Erwachen und Erwachsen zur Geistesreife verfolgen wir in uns selber die Entfaltung der Anlage zur Reife, die weder Verwandlung noch bloßes Zufügen des Neuen ist, betont Rudolf OTTO, und: „Dass es dergleichen Veranlagungen für und Vorbestimmtheiten zu Religion gibt, die spontan zu instinktmäßigem Ahnen und Suchen, zu unruhigem Tasten und sehnendem Verlangen, das heißt zu einem religiösen Triebe werden können, der erst zur Ruhe kommt, wenn er über sich selber sich klar geworden ist und sein Zielgefunden hat, das kann niemand leugnen der sich ernstlich auf Menschen- und Charakterkunde eingelassen hat.“. (OTTO: 140 f.)

Und dazu: „Was der Weg ist, weiß man immer erst, wenn man ihn gegangen ist.“ (FLEISCHHACKER: 100)

Unfreiwillige Armut – materielle wie auch seelisch-geistige – ist ein massives Gesundheitsrisiko – körperlich wie seelisch wie sozial. Und sie kann auch zur spirituellen Deprivation führen: denn im Verbitterungssyndrom sucht man meist nur Schuldige – hadert selbst mit Gott – und übersieht Ursachen.

Der Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Thomas BOCK, wirft dazu die folgenden Fragen auf:

  • Welcher äußere Raum wäre in psychischen Ausnahmezuständen wünschenswert? Z. B. Schutz, Ruhe, Kontakt zur Natur, Raum um für sich zu sein – aber auch Raum, in dem man sich aufgehoben und gehalten fühlen kann.
  • Welcher soziale Raum wäre nötig? Eine Mischung von Respekt und Vertrautheit, neuen Begegnungen und Kontinuität, Raum für Autonomie und halt.
  • Welcher innere Raum soll sich auftun? Welche Sprache (ich präzisiere: Fachsprache? Tadelsprache? Trostsprache?) soll gelten? Was braucht jemand, um mit sich selber wieder anschlussfähig zu werden? Seine Selbstverständlichkeit wieder zurück zu gewinnen?

Im Bereich der Psychiatrie ist man bereits darauf gekommen, dass die gebaute Umwelt mit dem Erleben von Stress und Vulnerabilität in Zusammenhang steht. „Im Überschwang zivilisatorischer Euphorie scheint die Menschheit bei der Gestaltung ihres Lebensraumes vergessen zu haben, dass wir unsere gebaute Umwelt ständig mit allen unseren Sinnen wahrnehmen und verarbeiten müssen.“, mahnt die Architektin Christine NICKL-WEILER vor dieser Überforderung. (In HASLINGER: 92)

Dazu betont das Autorenpaar RÜTHER: „Der Raum ist das, was durch die Menschen ist. Entscheidend ist das, was im Raum zwischen den Menschen passiert. Also kommt es nicht darauf an, in welchem Gemäuer man gerade ist, sondern welcher Geist in diesem Gemäuer herrscht.“ (In HASLINGER: 162) Hier zeigt sich am Beispiel psychiatrischer Einrichtungen eine andere Form von Funktionalität – eine immaterielle, auf Wirkung ausgerichtete. Genau diese gilt es aber auch zu gestalten, wenn man Spiritualität in ihrer weiten Aufnahmebereitschaft und potenzieller Grenzüberschreitung als allgemeinen Gesundheitsfaktor fördern will.

Leben in Ordnung

Leben ist Bewegung – Rhythmus – und Rhythmus ist Ordnung.

Künstliche Ordnung zu entwickeln kann als Selbsthilfe gegen inneres wie äußeres Chaos Orientierungslosigkeit verstanden werden, schreibt Thomas BOCK: „Je unsicherer ein Mensch ist und je weniger ihm natürliche, soziale, biografische oder religiöse Rituale zur Verfügung stehen, desto eher mag er / sie zu psychologischen Ausdrucksformen kommen.“ (In HASLINGER: 70)

Rituale sind Hilfsmittel zum Ordnen – und Ordnung ist dort nötig, wo aus großer Nähe leicht Konflikte (z. B. Dominanzkämpfe) entstehen können. Ein Beispiel für Prävention durch Ordnungskult bieten die engen zölibatären Shaker-Gemeinschaften, die u. a. auch vor der Aufgabe standen, inzestuöse Beziehungen hintanzuhalten: Gemeinsame Zeitpläne (für aufstehen, essen, arbeiten, schlafen) und akustische Signale zur Vereinheitlichung glichen militärischem Drill, Schweigegebote beim Essen außerdem auch mönchischen Traditionen. In den „Heiligen Regeln“ von 1841 heißt es: „Wenn ihr zu Tisch geht, sollt ihr nicht reden, lachen, spotten, jemandem zublinzeln, nicht an Geländern herumlungern, einander nicht umarmen, berühren oder herumscharwenzeln.“ (SPRIGG / LARKIN: 43).

Dem heutigen konsumverfallenen Westmenschen scheinen solche asketischen Lebensformen lebensfeindlich und grausam, allerdings verhüten sie etliche Zivilisationskrankheiten wie Adipositas, Diabetes, Reizdarm und Reizmagen, Koronarerkrankungen (die tiefenpsychologisch gedeutet auf Permanentkontakt mit Unverdaulichem und Zusammennehmzwänge hinweisen), die in Mangelkulturen oder Mangelzeiten kaum auftreten.

Von Gustav FALKE (1853 – 1918) stammen die Gedichtzeilen: „Herr lass mich hungern dann und wann, satt sein macht stumpf und träge.“ Ein Gesundheitsprogramm – aber nicht nur für die kulinarische Ernährung sondern für alles, was wir in uns hineinlassen, beispielsweise Gedanken, Ideologien, ja sogar Anblicke.

Leben in Leere

Der Protestant suche in seiner Kirche nicht die „Wohnung“ Gottes; sie ist vielmehr Stätte gemeinsamen Gebets, Gesangs und der Förderung des Glaubens und Erkennens in Predigt und Sakrament in „achtungsheischender Selbständigkeit“. „Besondere Beachtung wurde der Gestaltung der Kirchenräume zugewandt, die nun in ihrer feierlichen, mehr intimen als monumentalen Stimmung klar das Kirchenfestliche als wesensverschieden vom Profanfestlichen erkennen lassen und in Stimmung und Weihe und der ganzen Haltung des Raumes unbemerkt  zur Stille und Sammlung führen.“ (SCHÖNHAGEN: 5 f., Hervorhebung RAP) Das kann auch daheim verwirklicht werden.

So bezeichnet das Autorenduo SPRIGG / LARKIN auch Sauberkeit und Schlichtheit als wesentliche Kennzeichen der Shaker-Dörfer: Die Architektur ist schmucklos, ausgefallene und dekorative Baustile waren verpönt. Auch war die Farbgebung für die Gebäude in den einzelnen Dorfzeilen vorgeschrieben: entlang der Straße in einem helleren Farbton, Stallungen und der Straße abgewandte Bauten dunkler, beispielsweise rot, braun oder bleifarben. Weiß war den Versammlungsorten vorbehalten. (SPRIGG / LARKIN: 33)

Von der Straße sichtbar sein zu dürfen, war für die vormaligen Geheimprotestant_innen ein großer Fortschritt, ihre  Identität leben zu dürfen. Identität bedeutet auch, einander als Gleiche erleben zu dürfen. Nach der MASLOW’schen Bedürfnispyramide geschieht dies heute vielfach nur durch die Einheitlichkeit auf den unteren Stufen – dafür sorgt schon die allgegenwärtige Produktwerbung.

Sichere Identität wird neuronal durch prägende Erfahrungen verankert.

Für Haben-Menschen im Sinne Erich FROMMs ist es oft ein erster Erwerb – für Seins-Menschen ein erster Schöpfungsakt. In meiner Zeit als Haus- und Projektleiterin im Verein Wiener Jugendzentren (1977 – 1986) habe ich immer wieder erlebt, wie achtlos Jugendliche mit den „geschenkten“ Einrichtungen umgingen – und wie fürsorglich mit ihren eigenen Schöpfungen. Deswegen sollten auch die oft schwer erträglichen Schöpfungen kleiner Kinder wertschätzend als Einüben von Gestaltungskraft respektiert werden.

Gestalten dürfen ist wesentlicher Bestandteil von Gesundheit: Wir bilden Kirche gemeinsam, wir erfüllen Gottesräume, und wir sollten uns einen solchen „Begegnungsraum“ auch daheim schaffen – und der muss Raum bieten und daher weitgehend leer sein und dann „beseelt“ werden – so wie es unsere Vorfahren taten bevor Glaube verbürokratisiert wurde.

Raum und Feld

Beseeltheit von Orten erlebe sie in spontaner Ergriffenheit von deren Lage, Gestalt, Geschichte und Bedeutsamkeit, schreibt die Theologin, Sozialpsychologin und Dozentin am Züricher C. G. Jung – Institut  Ingrid RIEDEL (* 1935). Sie gewinne dann  etwas Nährendes für ihre Psyche und fühle sich persönlich bereichert. (RIEDEL: 7) Sie führe dies auf eine Resonanz der Seele des Ortes in ihr selbst zurück und damit auf eine Erfahrung von Ganzheit – und genau dies bewirke die spirituelle Qualität von Ergriffenheit. (RIEDEL: 15) Sie stellt dazu die Frage, ob wir es seien, die unsere Kraft auf diese Orte übertragen oder ob es die Kraft früherer Baumeister wäre, die in uns Resonanz erwecke, quasi auf uns überspringe. Und sie erinnert an die Quantenphysik, nach deren Sicht auch Materie „letztlich nur ein besonderer Aggregatzustand von schwingender Energie ist“. (RIEDEL: 17)

Damit schließt sie sich den Sichtweise SHELDRAKEs an, wenn dieser schreibt: „Mit dem Begriff ,kollektives Verhalten‘ sprechen die Soziologen das Verhalten von Menschen in der Masse oder bei einer Panik an, aber gemeint sind auch Moden aller Art, Kulte, das Verhalten von Anhängerschaften, reformerische und revolutionäre Bewegungen und andere Gruppierungen dieser Art.“, und er verweist darauf, dass alle Einzelwesen von einem Feld umschlossen sind  [Ergänzung von mir: was mittels spezieller Biofeedbackgeräte über den elektrischen Hautwiderstand nachgewiesen werden kann] aber auch durch ein daraus entstehendes Feld verbunden seien. (SHELDRAKE 1992: 305) Er zitiert dazu Erfahrungen von Sportlern, die diese „unglaubliche Kommunikation“ auf dem Spielfeld als Gruppenbewusstsein oder Intuition klassifizieren, während er dieses Phänomen von unbewusster Übereinstimmung als morphische Resonanz der Gruppe mit ihrer eigenen Vergangenheit und der anderer Gruppen ähnlicher Art erklärt. (SHELDRAKE 1992: 307) So schreibt er präziser: „Diesen Einfluss derer, die früher schon den Weg gegangen sind, finden wir in praktisch allen religiösen Traditionen. Im Rahmen unserer Hypothese würden wir sagen, der Eingeweihte trete in morphische Resonanz mit all denen, die sich schon von dieser Chreode haben leiten lassen.“ (SHELDRAKE 1992: 320) Übertragen würde dabei nicht Energie sondern Information. (SHELDRAKE 1991: 131)

Einem Feld zugehören, kann bereichern  oder aber ablenken. Manche Gemeinschaften sind auch krank und üben einen negativen Einfluss auf, erinnern WILBER, PATTEN und Co-Autoren: „Einige werden zum Kult, da hier einzelne Führungspersönlichkeiten oder die Gruppe als ganze ihre spirituelle Autorität missbrauchen.“ Deswegen sei Gemeinschaftsleben kein Ersatz für individuelle Meditation sondern eine Unterstützung. (WILBER: 268 f.) Die Energie der Gruppe kann aber auch umgekehrt missbraucht werden um die depressive Leere zu füllen, ergänze ich.

Ritualräume

Sakrale Architektur symbolisiert das Streben der Menschen, sich dem Göttlichen zu nähern, betonen  Caroline HUMPHREY und Piers VITEBSKY, und damit auch ihrem Verlangen nach Ewigkeit (HUMPHREY / VITEBSKY: 8). Ich würde dieser Ewigkeit auch die Bedeutung von Stillstand des Zeitlaufs geben – ähnlich dem Innehalten zwischen Einatmen und Ausatmen, wie es in manchen Atemmeditationen praktiziert wird: als bewusstes Heraustreten aus dem Alltag und Erspüren der inneren Qualität, Eintrittspforte (und umgekehrt auch Ausgangstür) zu sein.

In jeder Meditationsanleitung wird darauf hingewiesen, dass man sich dafür einen stillen und störungsfreien Ort suchen soll. Im Sinne von Salutogenese – Entwicklung und Förderung von Gesundheit – ersetze ich das Wort suchen durch das Wort gestalten. Wir brauchen auch für das Gespräch mit Gott einen stillen und störungsfreien Raum. Den dafür passenden Ort zu finden und schöpferisch zu gestalten ist im Sinne von Salutogenese bereits Gebet – Anrufung Gottes, Annäherung an die Grenze zum Übermenschlichen.

Wo keine Grenzen, da auch kein Raum. (FLEISCHHACKER: 93) Ich ergänze: oder etwas anderes, für das wir noch keinen exakten Namen besitzen. Constantin GEGENHUBER schreibt in der Einleitung zu seinem Buch „Gebaute Gebete“: „Architektur als gebaute Philosophie ist die Suche nach adäquaten Räumen. Der Ursprung für die Sehnsucht nach Räumen ist der Mensch, ebenso wie die Natur und die Suche nach dem Göttlichen. Jeder Mensch ist auf Grund seines zellulären Aufbaus Raum per se. Raum zum Leben. Der Mensch erlebt sich als Raum, durch die vernetzten Raumstrukturen erlebt er seine Gebundenheit im Körper. Dr Körper wird durch seine Haut  begrenzt und gilt als erste Hülle in der menschlichen Wahrnehmung. Nach der Bekleidung als zweiter, ist für uns Menschen die Architektur, die Behausung, als dritte schützende Hülle allgegenwärtig.“ (GEGENHUBER: 8)

Otto SCHÖNHAGEN hat für den Kirchenbau des frühen 20. Jahrhunderts gefordert: „Bei aller Beachtung kultischer Eigenarten, bei Berücksichtigung aller Forderungen der Zweckmäßigkeit, soll doch der gerade, feste, kampfes- und glaubensstarke Geist eines Luthers und sein Trotz einer ganzen Welt gegenüber in herben, geistvollen und wahren Formen zu finden sein.“ (SCHÖNHAGEN: 6)

Die Atmosphäre eines Ortes schaffen wir in unserer Psyche neu und können sie dadurch zu einem spirituellen Fundament machen, von dem aus wir „die Kraft des Feldes“ stärken, die von vielen ähnliche Denkenden und Fühlenden stammt.

Literaturangaben

Armbruster Jürgen/ Petersen Peter/ Ratzke Katharina (Hg.), Spiritualität und seelische Gesundheit. Psychiatrie Verlag,  Köln 2013.

Benson Herbert, Heilung durch Glauben. Die Beweise. Selbstheilung in der neuen Medizin. Wilhelm Heyne Verlag, München1997.

Brody Howard/ Brody Daralyn, Der Placebo-Effekt. Die Selbstheilungskräfte unseres Körpers. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2002.

Dawkins Richard, Das egoistische Gen. Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York 1978.

Fleischhacker Reinhold, Die Sprache des Raumes. Was uns Konstellationen im Raum sagen können. Frequenz, Wien 2006.

Gegenhuber Constantin, Gebaute Gebete. Christliche sakrale Architektur – Neubauten in Österreich 1990 – 2011. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2011.

Haslinger Bernhard, Raum und Psyche. Ein transdisziplinärer Dialog zu Freiräumen in der Psychiatrie. Psychosozial Verlag, Gießen 2016.

Humphrey Caroline/ Vitebsky Piers: Sakrale Architektur. Modelle des Kosmos – Symbolische Formen und Schmuck – östliche und westliche Traditionen. Taschen, Köln 2002.

Jacobi Jolande, Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Fischer TB, Frankfurt/ Main 1977/ 824.

Lurija Alexander R., Romantische Wissenschaft. Forschungen im Grenzbezirk von Seele und Gehirn. Rowohlt TB, Reinbek 1993.

Naidoo Jennie/ Wills Jane, Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln 2003.

Otto Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Verlag C. H. Beck, München 1993/ 20133.

Perner Rotraud A. Hand Herz Hirn. Zur Salutogenese mentaler Gesundheit. edition roesner, Mödling – Maria Enzersdorf 2014 (Originalausgabe aaptos Verlag, Matzen Wien 2011).

Riedel Ingrid: Beseelte Orte. Plätze der Natur – Stätten der Kultur – Räume der Spiritualität. Kreuz Verlag, Stuttgart Zürich 2001.

Sheldrake Rupert: Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur. Scherz Verlag, Bern München Wien 1992.

  • : Das schöpferische Universum. Goldmann / Meyster Verlag, München 1984/ 913.
  • : Die Wiedergeburt der Natur. Wissenschaftliche Grundlagen eines neuen Verständnisses der Lebendigkeit und Heiligkeit der Natur. Scherz Verlag, Bern München Wien 1991.

Sprigg June/ Larkin David, Shaker. Kunst, Handwerk, Alltag. Ravensburger Buchverlag Otto Maier, Ravensburg  1991.

Stätten der Weihe. Neuzeitliche protestantische Kirchen. Eine Bilderreihe mit einer Einführung von Otto Schönhagen. Furche-Verlag, Berlin 1919.

Steinmann Ralph Marc, Spiritualität – die vierte Dimension der Gesundheit. Eine Einführung aus Sicht von Gesundheitsförderung und Prävention. LIT Verlag, Zürich Berlin 2008.

Strehblow Elisabeth, Kirchengeschichte und Konfessionskunde. Evangelischer Pressverband in Österreich, Wien 19763.

Wilber Ken/ Patten Terry/ Leonard Adam/ Morelli Marco, Integrale Lebenspraxis. Körperliche Gesundheit – emotionale Balance – geistige Klarheit – spirituelles Erwachen. Ein Übungsbuch. Kösel, München 2010/ 133.

Zehentbauer Josef, Körpereigene Drogen. Die ungenutzten Fähigkeiten unseres Gehirns.  Artemis & Winkler, München 1992/ 932.

[1] Vgl. ARMBRUSTER u. a.

[2] Der Kardiologe Benson z. B. nennt  dies Entspannungsreaktion – ich nenne es Vertrauen; das Arztehepaar Brody nennt es Placebo-Effekt (nicht zu verwechseln mit Placebo als Pseudomedikament).

[3] Vgl. R. A. PERNER, Hand Herz Hirn. Zur Salutogenese mentaler Gesundheit.

[4] Vgl. J. JACOBI, Die Psychologie von C. G. Jung.

[5] Vgl. dazu auch a. R. LURIJA, Romantische Wissenschaft.

[6] Vgl. J. ZEHENTBAUER, Körpereigene Drogen.

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