Rotraud A. Perner
15-07-2015
PREDIGTARBEIT
Hesekiel 43, 1- 2 (3 – 9) 10 – 16.31
(Von Hirten und Schafen)
Prinzipien und Methoden der Predigtarbeit
INHALTSVERZEICHNIS
Vorbemerkungen
1. Exegetischer Kommentar
Zu den Übersetzungen des Predigttextes Hesekiel 34, 1 -2 sowie 10 – 16 und 31
Der Kontext
Überlegungen zum exegetischen Hintergrund des Textes
Zur Kooperation mit dem Text
2. Systematisch – theologischer Kommentar
Die Wächterthematik
Die Hirtenthematik
Die Retterthematik
Die Erlöserthematik
Die Theologie der Befreiung
3. Situationsanalyse
Weshalb soll diese konkrete Predigt gehalten werden?
Die Vergleichssituationen
Was mit der Vergleichssituation bezweckt wird
4. Homiletischer Kommentar
Das Menschenbild der Predigt
Die Person in der Predigt: ich, wir, ihr
Der Text in der Predigt
Struktur der Predigt
5. Liturgischer Kommentar
Zeitliche Einordnung im Kirchenjahr
Exemplarische Liturgie
6. Predigt
7. Literaturverzeichnis
VORBEMERKUNGEN
Die Ausarbeitung dieser Predigt stellte für mich die schwierige Herausforderung dar, einerseits den Anleitungen aus dem Hauptseminar Homiletik und andererseits der verinnerlichten Praxis der letzten anderthalb Jahre als ehrenamtliche Pfarrpraktikantin in der Gemeinde Mistelbach zu folgen.
Seit Jahresbeginn 2014 darf ich in Hinblick auf mein fortgeschrittenes Alter (Jahrgang 1944) über Anordnung des niederösterreichischen Superintendenten Mag. Paul Weiland in der weitverzweigten evangelischen Doppelpfarre Mistelbach / Laa an der Thaya als „Pfarrerlehrling“ bei Pfarrer Mag. Hans Spiegl gleichsam wie eine Vikarin mitgestalten.
In den Sommermonaten 2014 hatte ich bereits die Aufgabe, als quasi Urlaubsvertretung eigenständig Gottesdienst abzuhalten. Dankenswerterweise hat sich Pfarrer Spiegl die Zeit genommen, mich von der letzten Bank aus „live“ zu supervidieren.
Dienst in Laa / Thaya konnte ich bis jetzt vermeiden; dies einerseits deswegen, weil ich dort in die Volksschule gegangen bin und daher in meiner bisherigen Berufsidentität bekannt bin, daher Rollenkonfusionen (die sich bereits angekündigt hatten) vermeiden wollte, andererseits weil Laa mehr als 50 km von meinem Wohnort Matzen entfernt ist und ich meinen ökologischen (wie auch ökonomischen) Fußabdruck klein halten mag.
In Mistelbach (26 km von Matzen entfernt) sind – abgesehen vom Büro und Besprechungsraum des Pfarrers – die Pfarr-Räume im Souterrain der ehemaligen Villa eines lebenslustigen Unternehmers loziert, der sein Vermögen mit losen Damen durchbrachte. Die Kirche – eine kleine stilvolle ehemalige Jesuitenkapelle – befindet sich 10 Minuten Gehweg Entfernung direkt an der Hauptdurchzugsstraße. Da nicht nach jedem der 14tägig mit Laa abwechselnden Gottesdienste ein Kirchencafé stattfindet, ist es üblich, nach Beendigung des Gottesdienstes auf den Stufen und dem Vorplatz der Kirche beisammen zu stehen und noch „nach“ zu diskutieren (sogar im Winter!).
Die vorliegende Predigtarbeit habe ich in Hinblick auf die Herausforderungen in der Kirche Mistelbach verfasst. Konkret bedeutet dies: die Gemeindemitglieder kommen aus der „Diaspora“ – teilweise direkt von der 30 km entfernten slowakischen Grenze; meist sind es fünfzehn bis zwanzig Personen, nur bei Kasualien sind es mehr – und mehr als 40 – 50 Menschen würden wohl auch den engen Raum sprengen.
Es gibt daher auch keine Kanzel – nur ein Rednerpult links seitlich im Eck (vom Altar aus gesehen), direkt vor dem Harmonium. (Rechts befindet sich das mobile Taufbecken und die „Kinderecke“ mit Teppich und Spielzeugkiste.) Der Pfarrer predigt knapp vor dem Altar direkt am Anfang zwischen den sieben Sitzreihen stehend (und ich auch); er ist ein hoch gewachsener dynamischer Mann, der sich viel bewegt, locker formuliert, auch gerne die Zuhörerschaft direkt anspricht und vor allem engagiert ist, die „frohe“ Botschaft zu vermitteln.
Es sind keine wohlhabenden Menschen, die zur Gemeinde Mistelbach gehören; manche sind aus Wien herausgezogen, weil sie dort delogiert wurden. Dass sie kaum in die Kirche kommen, liegt daran, dass sie sparen müssen, auch am Benzingeld – und dass sie wenig Kraft haben. Die besser Gestellten bzw. in dieser Bezirksstadt Wohnenden hingegen engagieren sich im Presbyterium.
Bei der Arbeit an dem durch Auslosung zugefallenen Predigttext Hes 34, 1 – 2 und 10 – 16.31 merkte ich im Sinne der Warnungen von Prof. Engemann aber auch Mag. Spiegl, dass hierbei besonders die Gefahr des Moralisierens besteht. Dennoch wollte ich aber gerade wegen der sozialen Umstände vor Ort auch die „gewohnheitsmäßigen Arrangements mit Machtstrukturen“ (Engemann 2011, S. 301) – beispielsweise deren Abgehobenheit, sich bei eklatanter Hilfsbedürftigkeit zu distanzieren – ins Bewusstsein rufen.
Um hier nicht überheblich zu wirken war es mir wichtig, auch in meinem Auftreten „gleich“ zu bleiben, nah aber nicht bedrängend zu nah, vor allem auch lange Sätze zu vermeiden und mit einer klaren Aussage für das Alltagsleben zu schließen. Das entspricht auch meiner Überlegung, den Text aus der Perspektive der Theologie der Befreiung zu bearbeiten.
(Der Vollständigkeit halber will ich aber mitteilen, dass ich sehr wohl Erfahrungen besitze, von einer hoch gelegenen Kanzel aus zu sprechen: bei meinen zahlreichen Vorträgen als „Lohnrednerin“ u. a. in katholischen Pfarrsälen musste ich gelegentlich wegen des großen Andrangs in die Kirche ausweichen und kenne daher die überwältigende Energie, die sich an diesem Ort angesammelt hat – oder, anders betrachtet, die man selbst produziert, wenn man in solch eine Höhe aufsteigt. Ich spreche lieber auf Augenhöhe und vermeide, wo immer es geht, auch Podeste oder Podien. Auch habe ich mich in meinen psychotherapeutischen Ausbildungen immer schon viel mit der dort fast ständig vernachlässigten Proxemik, der „Kraft von Orten“ und räumlicher Widerspiegelung von „Systemen“ beschäftigt. )
- EXEGETISCHER KOMMENTAR
- Zu den Übersetzungen des Predigtextes
Buber/ Rosenzweig (Seite 538 ff.)
SEINE Rede geschah zu mir, sprach
Künde wider die Hirten Jissraels
künde, sprich zu ihnen, zu den Hirten:
So hat mein Herr, ER, gesprochen:
Weh, Weidehirten Jissraels,
die sich selber geweidet haben.
Sollen die Hirten nicht die Schafe weiden?!
Die Milch verzehrt ihr,
mit der Wolle kleidet ihr euch,
das Gemästete schlachtet ihr,
die Schafe weidet ihr nicht.
Die Kränkelnden stärktet ihr nicht,
das Kranke heiltet ihr nicht,
das Gebrochene verbandet ihr nicht,
das Abgesprengte holt ihr nicht zurück,
nach dem Verlornen forschtet ihr nicht,
mit Überstärke schaltetet ihr und mit Zwang.
Da zerstreuten sie sich, eines Hirten ermangelnd,
wurden zum Fraß allem Wilde des Feldes,
da zerstreuten sie sich.
Nun irren meine Schafe umher
Auf allen Bergen –
Über alle ragenden Höhen,
über alle Fläche des Lands
sind meine Schafe zerstreut,
und da ist keiner, der nachfragt,
und da ist keiner, der forscht.
Darum, Hirten, hört SEINE Rede!
Sowahr ich lebe,
ist das Erlauten von meinem Herrn, IHM,
geschiehts nicht so, …!:
weil meine Schafe wurden zum Raub,
zum Fraß sind meine Schafe geworden
allem Wilde des Felds,
da kein Hirte war,
meine Hirten fragten meinen Schafen nicht nach,
sich selber weideten die Weidehirten,
meine Schafe weideten sie nicht,
darum – Hirten, hört SEINE Rede,
so hat mein Herr, ER, gesprochen -,
wohlan, ich will an die Hirten,
ihrer Hand fordre ich ab meine Schafe,
verabschiede sie Schafe zu weiden.
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Denn, so hat meine Her, ER, gesprochen,
wohlan, ich selber bin da,
daß ich nachfrage meinen Schafen,
daß ich sie zusammensuche:
wie der Hirt zusammensucht seine Herde am
Tag, da er seiner gebreiteten Schafherde mitteninne ist,
so suche ich meine Schafe zusammen,
ich rette sie aus allen Orten,
dahin sie verstreut worden sind
am Tag von Wolke und Wetterdunkel.
Ich führe sie aus den Völkern,
bringe sie aus den Ländern zuhauf,
zu ihrem Boden lasse ich sie kommen,
da weide ich sie an Jissraels Bergen,
in den Gründen, in allen Sitzen des Lands.
Auf guter Weide weide ich sie,
auf Jissraels ragenden Bergen
soll ihre Trift sein,
dort lagern auf guter Trift sie,
fette Weide weiden sie ab
an Jissraels Bergen.
Ich selber weide meine Schafe,
ich selber lasse sie lagern,
Erlauten ists von meinem Herrn, IHM.
Dem Verlorenen forsche ich nach,
das Abgesprengte hole ich zurück,
das Gebrochene verbinde ich,
ich stärke das Kranke,
aber das feiste,
das Überstarke vertilge ich,
ich weide sie, wie es recht ist.
Ihr also, meine Schafe,
so hat mein Herr, ER, gesprochen,
wohlan,
ich richte zwischen Tier und Tier.
Zu den Widdern da und zu den Böcken:
ist es euch zu wenig,
die besten Weiden abzuweiden,
daß ihr das Übrige eurer Weide mit den Füßen zerstampft,
und das geklärte Wasser zu trinken,
daß ihr das Übriggelaßne mit euren Füßen trübt,
und meine Schafe,
das von euren Füßen Zerstampfte müssen sie weiden,
das von euren Füßen Getrübte müssen sie trinken.
Darum, so hat mein Herr, ER, gesprochen,
wohlan, ich selber bin da,
daß ich richte zwischen fettem Tier und magerem Tier.
Weil mit Seite, mit Schulter ihr dränget,
mit euren Hörnern alle Kränklichen stoßet,
bis ihr sie hinaus zerstreut habt,
befreie ich meine Schafe,
sie sollen nicht mehr Raub sein,
ich richte zwischen Tier und Tier.
Dann erstelle ich über sie
Einen einzigen Weidehirten,
der sie weiden soll,
meinen Knecht Dawid,
der soll sie weiden,
der soll ihnen zum Hirten werden.
ich werde ihnen zum Gott,
mein Knecht Dawid Fürst ihnen inmitten,
ICH bins, der geredet hat.
Einen Bund des Friedens schließe ich ihnen,
Böswild verabschiede ich aus dem Land,
in der Wüste können sie in Sicherheit sitzen,
in den Wäldern können sie schlafen.
Segen gebe ich ihnen bei,
rings um meinen Hügel,
Erguß sende ich zu seiner Zeit,
Segengüsse werden da sein.
Der Baum des Feldes gibt seine Frucht,
das Erdland gibt sein Gewächs,
auf ihrem Boden sind sie in Sicherheit.
Dann werden sie erkennen,
daß ICH es bin,
wann die Stangen ihres Jochs ich zerschlage
und sie aus der Hand der sie Knechtenden rette.
Den Weltstämmen sind sie nicht mehr zum Raub,
das Wild des Landes darf sie nicht fressen,
in Sicherheit siedeln sie nun,
und keiner ist, der aufscheucht.
Ich erstelle ihnen eine Pflanzung zum Ruhm,
nicht mehr sind sie im Land Hungernsentraffte,
nicht mehr müssen sie die Schmach der Weltstämme tragen.
Dann werden sie erkennen,
daß ICH, ihr Gott, bin mit ihnen
und sie mein Volk sind, das Haus Jissrael,
Erlauten ists von meinem Herrn, IHM.
O ihr meine Schafe,
ihr Schafe meiner Weide,
Menschheit seid ihr, ich euer Gott.
Erlauten ists von meinem Herrn, IHM.
Martin Luther
1 Und des HERRN Wort geschah zu mir:
2 Du Menschenkind weissage gegen die Hirten
Israels, weissage und sprich zu ihnen:
So spricht Gott der HERR:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden!
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Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
3 Aber ihr eßt das Fett
und kleidet euch mit der Wolle
und schlachtet das Gemästete,
Aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.
4 Das Schwache stärkt ihr nicht,
und das Kranke heilt ihr nicht,
das Verwundete verbindet ihr nicht,
das Verirrte holt ihr nicht zurück
und das Verlorene sucht ihr nicht;
Das Starke aber trete ihr nieder mit Gewalt.
5 Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten
haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden
Und zerstreut.
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10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an
die Hirten und will meine Herde von ihren Händen
fordern; ich will ein Ende damit machen, ich
daß sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr
selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus
ihrem Rachen, daß sie sie nicht mehr fressen sollen.
11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will
mich meiner Herde selbst annehmen und sie
suchen.
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12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie
seiner Herde verirrt sind, so will ich meine
Schafe suchen und
will sie erretten von allen Orten,
wohin sie zerstreut waren
zur Zeit, da es trüb und finster war.
13 Ich will sie aus allen Völkern herausführen
und aus allen Ländern sammeln
und will sie in ihr Land bringen
und will sie weiden auf den Bergen Israels,
in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.
14 Ich will sie auf die beste Weide führen,
und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre
Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern
.
und fette Weide haben auf den Bergen Israels.
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15 Ich will selbst meine Schafe weiden,
und ich will sie lagern lassen,
spricht Gott der Herr.
16 Ich will das Verlorene wieder suchen
und das Verirrte zurückbringen
und das Verwundete verbinden
und das Schwache stärken und,
was fett und
stark ist, behüten;
Ich will sie weiden, wie es recht ist.
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21 weil ihr mit Seite und Schulter dränget
und die Schwachen von euch stießet mit euren
Hörnern, bis ihr sie alle hinausgetrieben hattet,
22 will ich meiner Herde helfen,
daß sie nicht mehr zum Raub werden soll.
Und will richten zwischen Schaf und Schaf.
23 Und ich will ihnen einen
einzigen Hirten erwecken,
der sie weiden soll,
nämlich meinen Knecht David.
Der wird sie weiden
und soll ihr Hirte sein,
und ich, der HERR, will ihr Gott sein;
aber mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen
Sein; das sage ich, der HERR.
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31 Ja, ihr sollt meine Herde sein,
die Herde meiner Weide,
und ich will euer Gott sein,
spricht Gott der HERR.
Interessanterweise gibt es eine sprachliche Differenz in Vers 16, wo bei Buber das „Überstarke“ vertilgt wird, während bei Luther das „Starke“ behütet wird.
Auffallend auch die Hervorhebung in der Luther-Übersetzung von Vers 31 nach der 1914 vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss genehmigten Text, Britische und Ausländische Bibelgesellschaft, Berlin 1914: “Ja, ihr Menschen sollt die Herde meiner Weide sein, und ich will euer Gott sein, spricht der Herr Herr.“ (S. 704)
Gerhard Maier verweist darauf, dass in Vers 3 im hebräischen Text das Wort „Fett“ – ein Bild für „das Beste“ steht, während die griechische Bibel und viele modernen Ausleger (so auch Buber/ Rosenzweig) stattdessen das Wort „Milch“ einsetzen (S. 155).
1. 2. Der Kontext
Hesekiel stand zum Zeitpunkt seiner Berufung 593 v.u.Z. bereits im reifen Mannesalter; vier Jahre zuvor hatte er zu den Deportierten gehört, die in die babylonische Gefangenschaft mussten. In Hes 33 wird die Situation der Restbewohnerschaft in Juda nach 587 und die Zukunft der weitere Folgen thematisiert, meint Karl-Friedrich Pohlmann, da man die Kritik an den Führungskräften in Kapitel 34 sonst als längst stattgefundenes Gericht deuten müsste (S. 463 f.); die betonten Begriffe und Sprachbilder von Zerstreuung und Sammlung deuten hingegen auf nachfolgende Geschehnisse hin.
Gerhard Maier schreibt, zweimal „zerstreuen“ zu schreiben wie in Vers 5 unterstreiche diese Dramatik. Mit den „wilden Tiere“ könnten Assyrer, Babylonier und Nachbarvölker gemeint sein, die sich in den letzten Jahrhunderten (Hes 25) wie wilde Tiere über Israel hergemacht hatten, weil dessen Könige, Priester und falschen Propheten versagt hatten. (S. 157)
In dieser Zukunft geht es aber nicht nur um den Umgang zwischen Hirten und Herde, sondern es wird in den Versen 17 – 22 auch der brutale Umgang der Tiere – Menschen – untereinander dem Richterspruch JHWHs unterworfen. Diese wichtige Thematik der geistig-seelischen Verderbtheit und der Reinigung davon wird in den folgenden Kapiteln, besonders in Hes 36, 16 – 38, wieder aufgenommen.
Sprachlich knüpft das Kapitel 34 an den aus diasporaorientierter Sicht gestalteten Abschnitt 33,30 – 33 an, in dem der Bezug „zum Fraß“ bereits in Vers 27 vorkommt; ebenso findet sich diese Wortwendung im nachfolgenden Kapitel in Vers 35,12.
Auch die „Berge Israels“ kommen bereits in Vers 33, 28 und Vers 35, 12 vor. Daraus kann geschlossen werden, dass es sich entweder um einen Versuch der Verknüpfung zeitlich unterschiedlich entstandener Texte handelt – oder, dass ein geübter Redner absichtlich bzw. routiniert bildhafte Gedächtnisstützen einbaut.
1. 3. Überlegungen zum exegetischen Hintergrund des Textes
Der Predigttext teilt sich in drei große Abschnitte:
- die Klage über die pflichtvergessenen Hirten (Verse 1 – 6) und die Ankündigung, dass JHWH selbst gegen diese Hirten vorgehen und seine Schafe vor ihnen retten wird (Verse 7 – 10),
- die Präzision der Ankündigung, dass Gott selbst der Retter und Sammler seiner Schafe sein wird (Verse 11 – 16) mit der Betonung „von allen Orten“ (Vers 12) und „aus den Völkern herausführen“ und „aus allen Ländern sammeln“ (Vers 13) und auf die Berge Israels führen (Vers 14); es wird aber auch kundgetan, dass JHWH auch Richter sein wird über die selbstsüchtigen Hirten (Verse 17 – 22), und
- die Heilszusage für das Gottesvolk (Verse 23 – 31) mit dem Hinweis auf den Gottesknecht (Verse 23 und 24). Diese Passage dürfte nicht zum Ursprungstext gehören, da sie im Widerspruch zu der Ankündigung JHWHs steht, selbst die Hirtenaufgaben übernehmen zu wollen.
Die mehrfachen Ansätze zu inhaltlichen Hervorhebungen (z. B. durch die betonten Botenformeln in den Versen 2, 7, 8, 9, 10, 11, 15, 17, 20, den JHWH-Spruchformeln in den Versen 8, 15, 10 und den JHWH-Selbstdarstellungsformeln in den Versen 27, 30 und 31) trennen quasi dramatisch ansteigende Dimensionen von JHWHs Unwillen; dennoch sind diese Steigerungsstufen durch die gleichbleibenden Hirten-und-Schafe-Metaphern verbunden.
Pohlmann schließt hingegen aus dem Wechsel von der „Zweiklassengesellschaft“ (Verse 1 – 10) zum rücksichtslosen Umgang der Tiere untereinander (Verse 17 – 22) auf eine Ergänzung des Ursprungstextes Ebenso dürfte auch Vers 23 kaum zum Ursprungstext zu rechnen sein. (S. 464).
1. 4. Zur Kooperation mit dem Text
Gerade in Hinblick auf die Stereotypen christlicher Predigt sei es wichtig, auf die je eigene Gestalt der Texte zu achten, schreibt Wilfried Engemann, da in diesen eben nicht Stereotypen des Verhältnis Gott – Mensch zum Ausdruck kommen. Dazu empfehlen sich einige Fragen, die im Folgenden bearbeitet werden (S. 129 ff.).
Wovon redet der Text?
Er spricht vom Unwillen JHWHs über Pflichtvergessenheit und Ungerechtigkeit aber auch von seinem Entschluss, nachhaltig Gerechtigkeit zu üben und üben zu lassen.
Pohlmann verweist aber auch darauf, dass der Text auch auf den „Schwund der Bevölkerung“ Bezug nimmt, der auf Grund des Machtmissbrauchs und der Selbstbedienungsmentalität der Führenden zu „Fluchtbewegungen“ und damit Diasporasituation geführt hat. Er schreibt: „Diese differenzierte Sicht mit der Benennung und Verurteilung der Schuldigen impliziert zum einen, daß Jahwe gegen die Schuldigen vorgehen wird (V. 9 f.), und zum andern, daß er seine ins Elend getrieben ,Herde in der Zerstreuung‘ (V. 5) in seine Fürsorge nehmen muß (V. 11 – 15)“. (S. 465)
Warum gibt es diesen Text?
Der Text bezieht sich prinzipiell auf selbstsüchtigen Missbrauch, Vernachlässigung und Ignoranz von Fürsorge-Bedürftigen durch pflichtvergessene Führer aber auch untereinander – ein Thema von zeitloser Dringlichkeit.
Wohin führt mich die Beschäftigung mit diesem Text?
Der Text löst bei mir einerseits Assoziationen zu Korruption und Machtmissbrauch durch Banker, Staatslenker und Politiker, andererseits zum Wegschauen breiter Bevölkerungskreise gegenüber Flüchtlingen aus. Dabei frage ich mich selbst, wie weit ich eine gute Hirtin bin und was ich mehr tun könnte als nur Vorträge halten, publizieren und spenden. (In den 1990er Jahren habe ich insgesamt drei geflüchtete Kosovaren beherbergt, erhalten und Deutsch gelehrt – allerdings hat da noch mein bereits pensionierter Ehemann noch gelebt und mich „geschützt“, sonst hätte ich mich das nicht getraut.)
Wozu soll ich eine Gemeinde von heute mit diesem Text konfrontieren?
Meine Perspektive: Jeder Mensch hat die Möglichkeit, Zeugnis für Menschlichkeit und humane Unterstützung abzulegen und damit etwas gegen zunehmenden Nationalismus zu tun – und wenn es nur Protest gegen dumme Sprüche ist. Das zählt für mich zum Respekt gegenüber der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen als Person. Dafür möchte auch ich Zeugnis ablegen wann immer es möglich ist. Den Text finde ich hilfreich und aufrüttelnd, um die dazu nötige innere Einstellung zu gewinnen.
2. SYSTEMATISCH – THEOLOGISCHER KOMMENTAR
Die Gesamtbotschaft aller Propheten ist der Ruf zur Umkehr. Er kann als Mahnrede, Zurechtweisung, Weheruf, Drohwort, Schelttirade, aber auch als bedingte Heilszusage oder „Lockruf der Liebe Gottes“ erklingen, schreibt Pinchas Lapide (S. 53). Im gegenständlichen Text findet sich ausgehend von der Metapher von den schlechten Hirten Mahnung und Androhung für diejenigen, die Menschen in ihren gerechten Ansprüchen ignorieren, vernachlässigen und auch bestehlen; es findet sich aber auch die Zusage der Errettung und des Heils durch JHWH selbst. Dabei wird an mehrere Themen angesprochen:
2. 1. Die Wächterthematik
Bereits in Hes 33, 1 – 9 berichtet der Prophet, dass ein vom Krieg bedrohtes Volk einen Wächter bestellen soll, der das Volk beim Herannahen des Feindes warnt. Tut er das aber nicht, so kündigt JHWH in den Versen 6 – 9 an, dass und wie er den pflichtvergessenen Wächter zur Verantwortung ziehen werde.
Ernst Haag sieht in dieser Weisung eine „merkwürdige Spannung“, da der Feind, vor dem der Prophet das Haus Israel warnen soll, nicht irgendeine beliebige Macht ist sondern JHWH, der Gott Israels, selbst. Er schreibt: „Sein richtendes Handeln schwebt über dem Volk und bildet dessen gefährlichste Bedrohung. Aber – und das ist hier für das Selbstverständnis des Propheten von ausschlaggebender Wichtigkeit – dieser Gott bestellt einen Wächter, der vor ihm und der tödlichen Gefahr seines Gerichtes die Bedrohten warnen soll.“ (S. 207 f.)
Diese Androhung der Strafe für die unachtsamen Wächter wird nun in Hes 34 insofern variiert, als Hirten ja auch Wachaufgaben haben; die Negativfolgen für die der Obhut Bedürftigen aber werden dadurch abgewehrt, als JHWH selbst die Fürsorge übernehmen und durch den einzigen Hirten David vollziehen lassen will.
a. Die Hirtenthematik
Der Wissenschaftsjournalist Reinhold Dörrzapf schildert in seinem Buch über die Kulturgeschichte der Geschlechterbeziehungen (S. 68 – 71) das Rollen- und Ordnungsverständnis in der Nomadentradition, das auch auf „Staatswesen“ übertragen wurde, sobald solche gegründet oder erobert wurden: Im Gegensatz zu Menschen in den sesshaften Ackerbau-Kulturen und städtischen Versorgungszentren, die in der Gesellschaft ein Netzwerk einander ergänzender Individuen sähen, die ihre Interessen untereinander ausgleichen müssen, sähen Nomaden die Welt eingeteilt in Herden und Hirten samt ihren Hütehunden, die streng abgerichtet den Hirten zu folgen und bei der Kontrolle der Herde zu dienen haben. Für einen Hirten ist es daher ganz logisch, auch all sein „Menschenvieh“ für sich „nutzbar“ zu machen. Das bedeutet a priori noch nicht Ausbeutung sondern nur die Effizienz, die das Herumziehen ohne großen Ballast, aber auch permanente Konkurrenz und Kampf mit anderen Nomadenstämmen um Weideland und Wasserstellen erfordert; diese Selbstwirksamkeit gründet sich auf den Zusammenhalt in der Verwandtschaft und Schwägerschaft und in der Generationenhierarchie und begründet damit auch größeres Selbstbewusstsein und Ansehen gegenüber den sesshaften Landwirten.
Hirt und Herde waren im Alten Orient – beispielsweise im Codex Hammurapi – aber auch verbreitete Metaphern für einen Herrscher und dessen Verhältnis zu seinen Untertanen (Pohlmann S. 463).
Demgegenüber spricht Jesus von Hirten und Schafen, wenn er Glaubenslehrer und Gläubige meint. Auf diesen Bezug wird in dieser Predigt verzichtet um Gott als „unbebilderte“ Trinität anzusprechen.
b. Die Retterthematik
Als das Wesentliche im Predigttext wird üblicherweise die Gnadenzusage im letzten Drittel der Verse angesehen. Der Bezug auf den „Gottesknecht“ – ein Ehrentitel für Auserwählte – David in Vers 23 und 24, schließt an den Hinweis auf den Knecht Gottes als Mittler der Heilsordnung JHWHs an, der bereits in Jes 42 – 53 ausführlich angekündigt wird, und wiederholt auch, dass er durch JHWH beauftragt wurde und gestützt wird. In Jes 42, 1. 2. 4. heißt es, dass der Gottesknecht als ein mit JHWHs Geist ausgestatteter Erwählter den Völkern das Recht bringen wird. Dazu schreibt Ernst Haag, dass das Verhältnis des Retters zum JHWH-Recht bereits seine entscheidende Ausprägung in den Verhältnissen des vorstaatlichen Israel gefunden habe. Saul, der Vorgänger Davids, wurde nach Ausweis der deuteronomistischen Geschichtsschreibung deshalb verworfen, weil er die Gebote und Satzungen JHWHs nicht eingehalten hatte (1 Sam 13,13). David hingegen wäre ein Mann nach JHWHs eigenem Herzen, da er im Unterschied zu Saul niemals frevelnd von JHWH abgefallen war, sondern Recht und Gerechtigkeit geübt hätte. Haag schreibt: „Kein Wunder, daß die von dieser Auffassung abhängige Prophetie von dem endzeitlichen neuen David die Erwartung hegt, daß er mit Nachdruck für das Recht der Armen und Unterdrückten eintreten werde.“ (S. 177 ff)
Eugen Drewermann findet die Hoffnung auf einen neuen David allerdings merkwürdig, da es von 1 Sam 8,8-20 an schon eine breite Tradition gäbe, die sich über das Königtum Davids kritisch äußerte – und die wäre auch von Hesekiel zu erwarten gewesen. (S. 184 f.) Drewermann schließt an den Satz „Ich will richten zwischen den Schafen und den Schafen, den fetten und den mageren“ an: das Richtmaß sei die Art, wie Menschen zueinander stehen.
Bei diesen Überlegungen soll aber nicht übersehen werden, dass mit dem wiederholten Hinweis auf JHWH als der Gott (Verse 24, 30, 31) und seinen Bund (Vers 25) auch die historische Tradition eingemahnt wird. Drewermann schreibt dazu, Hesekiel übernähme die Idee vom Neuen Bund von Jeremia, weil Gott einen neuen Bund schließen müsse um den Zerbruch des alten Verhältnisses zu heilen – aber es gäbe nur den Neuanfang „ganz tief im Herzen des Menschen“ (vgl. später Hes 36, 26 f.), denn die gesamte Beziehung zu Gott sollte von innen her getragen sein. So sei die Ankündigung JHWHs, auch zwischen den Schafen richten zu wollen, auch eine Vorwegnahme von Mt 25, 32. Drewermann präzisiert: „Es zählt nicht länger, was ,die da oben‘ gemacht haben, sondern was da drunten gemacht wird, wer Du selber als Mensch bist, das ist die Ebene, die vor Gott gilt.“ (S. 187)
c. Die Erlöserthematik
Die Überwindung der Gewalt erfolge auf Grund einer eigenen Heilsinitiative Gottes, schreibt Ernst Haag, und sei daher der Sache nach mit dem Werk der Erlösung identisch. Die sachgemäße Beurteilung dieser Heilsvermittlung könne nicht an der Tatsache vorbei gehen, dass die neue Lebensordnung der Erlösten auch eine „legitime Form der Selbstbehauptung des Menschen und seiner Verteidigung“ kenne. (S. 211) Das bestärkt mich in meinem Bezug auf die Theologie der Befreiung.
Die Zielrichtung des gegenständlichen Textes ist daher sowohl eine paränetische als eschatologische und soteriologische: die Gerechtigkeit JHWHs prüft den Umgang von Menschen gegenüber anderen Menschen so wie die Verantwortung von Hirten gegenüber ihren Schafen. Diese Allegorie kehrt in Mt 25,32 wieder, wenn der Menschensohn im Weltgericht prüft, wer sich der Bedürftigen angenommen hat.
d. Die Befreiungsthematik
Gerhard Maier schreibt, Vers 28 werden vom Befreiungsthema geprägt, wenn es dort heißt, „Sie werden den Völkern nicht mehr zur Beute werden“ (nach Luther: „Und sie sollen den Völkern nicht mehr zum Raub werden“). Die angesprochenen Völker sind Philister, Assyrer, Babylonier, Griechen und Römer. Auch mit dem Hinweis in Vers 29, „eine Pflanzung aufgehen“ zu lassen, werde auf den endzeitlichen Segenszustand hingewiesen (S. 170), dessen Gipfel aber erst erreicht wird, wenn die Israeliten erkennen, dass JHWH als ihr Gott bei ihnen ist. (S. 171)
e. Die Theologie der Befreiung
Die folgenden Gedanken wurden angeregt durch das Kapitel „Zugänge zu einer Theologie und Ethik der Befreiung (Befreiung als kritisches Prinzip)“ in Kurt Lüthis Buch „Christliche Sexualethik“. Er baut darin einen Bogen vom biblischen Befreiungsmotiv in den alttestamentlichen Aussagen zum Exodusgeschehen zu der Verheißung des „gelobten Landes“ und eines Gottesreiches „ohne Privilegien und Abhängigkeiten“. In der Theologie der Befreiung lateinamerikanischer Prägung wird aber auch darauf Bezug genommen, dass Unterdrückte der Gefahr unterliegen, die Unterdrückungsmechanismen zu verinnerlichen und im Umgang miteinander zu reproduzieren. Diese Problematik kann auch aus den Versen 20 – 22 im Predigttext herausgelesen werden.
Bruno Kern betont dazu, dass gemäß der Theologie der Befreiung die Gemeindemitglieder einander befähigen ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, Herrschaftsmechanismen zu durchschauen und solidarische Handlungsformen zu entwickeln. Ein entscheidendes Motivationspotenzial dafür bildet die gemeinsame Lektüre der Bibel aus der eigenen Lebenssituation heraus. (Kern S. 21)
3. SITUATIONSANALYSE
3. 1. Weshalb soll diese konkrete Predigt gehalten werden?
Die Hirtenallegorie steht für das Verhältnis von Fürsorge-Beauftragten und den ihnen Anvertrauten. Es betrifft Staatswesen, Kirchen, Ämter und Arbeitsverhältnisse aber auch Eltern. Es kann ein pflichtgemäßes oder ein pflichtverletzendes sein.
Zu der historischen Frage, wer die Hirten Israels in Hes 34 seien, legt Gerhard Maier folgende Antworten vor: die weltliche Obrigkeit, geistliche Personen aber auch Gott selbst (S. 154) und präzisiert für die Zeit nach der Zerstörung Jerusalems auf Statthalter (Verwaltungsbeamte), Propheten, Priester und die überlebenden Heerführer, die Ältesten der Exilgemeinde und andere führende Persönlichkeiten, da es ja halbautonome jüdische Selbstverwaltungen gab (S. 155). Eltern oder andere verwandte Autoritätspersonen fehlen. Genau diese füllen aber die Chronikseiten der Tagespresse – ebenso wie die Verfehlungen von Erziehern in staatlichen Einrichtungen oder von Klerikern in Internatsschulen. Dazu wird noch das jahrelange „Wegschauen“ von Zeugen vor dem Leid der Opfer, das Verheimlichen und Verleugnen offenkundig. Es fehlte der dazu nötige Mut ebenso wie ein nachvollziehbares Handlungsmodell.
3. 2. Die Vergleichssituationen
In den Überlegungen, welche Vergleiche sich aus aktuellem Anlass für die Predigt anbieten könnten, ergaben sich folgende tagesaktuelle Alternativen:
- Der Umgang von Teilen der österreichischen Bevölkerung mit Asylwerbenden und Flüchtlingen;
- Der Umgang in der Europäischen Gemeinschaft mit dem Flüchtlingsansturm aus dem Orient und aus Afrika;
- Die Ermordung äthiopischer Christen durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“;
- Die Untersuchungsergebnisse über Missstände in Kinde- und Jugendheimen in den 1960er und Nachfolgejahren;
- Die Aufdeckungen über die Unterstützungen der Bundesregierung in Zusammenhang mit den Malversationen der Hypo-Alpe-Adria Bank;
- Die Aufdeckungen von Privilegienansprüchen und Machtmissbrauch in staatlichen und staatsnahen Betrieben (Museum für Angewandte Kunst, Burgtheater etc.).
Ich entschied mich, auf außerösterreichische Bezüge zu verzichten und stattdessen das Gemeinsame der in Österreich wohlbekannten Missstände zu abstrahieren, da ich davon ausging, dass die Zuhörerschaft schon auf Grund bloßer Andeutungen wissen würde, wer und was gemeint sei – nämlich dass es Menschen mit Budget- und Personalverantwortung gibt, die primär und zukunftsgerichtet an sich selbst bzw. ihre Verwandten und Freunde denken. Die sogenannte „Freunderlwirtschaft“ (Nepotismus) hat im Jahrzehnte langen großkoalitionären Österreich historische Tradition und belastet auch die Gemeindemitglieder an der Basis.
Außerdem gab es aktuell in der Gemeinde zwei Fälle von langandauernder Missachtung von Angestelltenrechten durch die Vorgesetzten, die allgemein bekannt waren und regelmäßig besprochen wurden.
3. 3. Was mit der Vergleichssituation bezweckt wird
Mit der Andeutung der Situation der Flüchtlinge, die das Todesrisiko des Ertrinkens im Mittelmeer auf sich nehmen, als erster Vergleichssituation, wird die Ursache ihrer Flucht, die in den „schlechten Hirten“ wurzelt, verbunden und eine Brücke zu verschiedenen Missständen in Österreich – einerseits Korruption, andererseits Wegschauen vor dem Leid anderer – geschlagen.
In seiner Analyse der Theologie der Befreiung zeigt Bruno Kern, dass von der Gotteserfahrung der Benachteiligten (Armen und Rechtlosen – ich amplifiziere auf alle, deren Bedürfnisse ignoriert bzw. verleugnet werden) her all das, was dem universalen Heils- und Lebenswillen Gottes widerspricht, als widergöttlich begriffen wird (Kern: 78). Um diese Widergöttlichkeit nicht als Moralkeule gegenüber der Hörerschaft wirksam werden zu lassen, habe ich mich entschieden, als zweite Vergleichssituation ein Beispiel aus meiner Praxis zu verwenden um die anfängliche Trägheit zu thematisieren von der aus „Erkennen – Urteilen – Handeln“ möglich wird.
Die aktuell verfasste Predigt orientiert sich an einem politisch ausgerichteten Blickwinkel. Wenn Eugen Drewermanns in seinem Text zu den Hirten Israels die Frage stellt: „Wie lässt sich reden mit einem Volk im Exil? Wie lässt sich Hoffnung begründen angesichts der Katastrophe?“ (S. 183), antwortet er „methodisch“, dass im Gegensatz zu dem als Betroffener redenden Jeremia Hesekiel liebe, in Gleichnisreden und Rätselreden förmlich auszuweichen um nicht allzu persönlich zu werden (S. 184). Diese Art von Andeutung bevorzuge ich auch, weil damit der Zuhörerschaft der Freiraum gegeben werden kann, ihre eigenen Assoziationen in ihrer persönlichen Zeit und damit nachhaltig wirken zu lassen.
4. HOMILETISCHER KOMMENTAR
In der Vorbereitung der Predigt suchte ich Anregungen im Netz. Aus der Vielzahl der abrufbaren Predigten beschäftigte ich mich intensiver mit
- der von Klaus Steinmetz am 10. April 2005 (Göttinger Predigten im Internet)
- von Pfr. Andreas Höfeld, Stadtkirche Erbach/ Odw. am 8. Mai 2011,
- von Propst em. Helmer-Christoph Lehmann (ev.-luth.) am 8. Mai 2011,
- der Predigt vom 19. April 2015 in der Gemeinde Brunn und Willemsdorf im Landkreis Neustadt/ Aisch.
Alle vier Predigten und noch einige weitere wurden abgerufen am 26. April 2015. Keine davon hat mich überzeugt. Vor allem habe ich die mehrfachen Hinweise auf den Nationalsozialismus wenig hilfreich gefunden und auch nicht auf die Tyrannen in Syrien und Libyen; sie sind „weit weg“. Wenn man politische Bezüge sucht, findet man genug in der Gegenwart – allerdings mit der Herausforderung, so zu formulieren, dass Akzeptanz und Empathie nicht verloren gehen.
4. 1. Das Menschenbild der Predigt
„Wo Gott redet, werden Machtworte gesprochen“, daher kann Predigt nicht unpolitisch sein (Engemann 2011, S. 295). In Hes 34 wird Gott in seiner Parteilichkeit für die Bedürftigen thematisiert; er wird damit zum Vorbild für den Menschen in seiner Verantwortlichkeit. Dazu braucht es aber auch Orientierung, Mut und Motivation (Engemann 2011, S. 298).
Die Metapher Hirte steht für jemanden, der Obsorge trägt – so wie der Hirte in der Viehzucht sind Eltern für ihre Kinder, Erzieher bzw. Angehörige von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen – Pfarrer mitgemeint – für die ihrer Obhut Anvertrauten und alle Arbeitgeber „fürsorgepflichtig“.[1] Ebenso tragen alle Personen mit Führungsaufgaben Verantwortung für diejenigen Personen, auf die ihre Entscheidungen direkt einwirken. Aus dieser Pflichtenethik ergibt sich eine Differenzierung von pflichterfüllenden und pflichtvergessenen, ja sogar Macht missbrauchenden Menschen.
Umgekehrt sehen demokratische Gemeinwesen Korrektivverfahren vor, in denen bei Vernachlässigung der Sorgfaltspflichten Menschen mit Hirtenaufgaben abberufen bzw. abgewählt, eventuell auch bestraft werden können. Das kann „bottom up“ oder „top down“ erfolgen. Im letzteren Fall kann man quasi von einem (oder mehreren) „Oberhirten“ sprechen.
Auf Menschen angewandt, wird im Predigttext die Pflichtvergessenheit und Ausbeutung der Führungs- bzw. Fürsorgebeauftragten anklagend aufgezeigt und die Notwendigkeit, ihnen ihrer Nachlässigkeit und ihres Missbrauchs wegen die Zuständigkeit zu entziehen. Ihnen gegenüber stehende die der Fürsorge Bedürftigen, die sich verlaufen (haben) und deswegen vielfachen Gefahren ausgesetzt sind.
Gott selbst als die über allen stehende und urteilende Instanz holt sich die Zuständigkeit zurück; er kündigt aber auch an, sie wieder zu delegieren – an „seinen Knecht“, also an einen Menschen, der Gottes Gebot zu seinem eigenen macht.
4. 2. Die Person in der Predigt. Ich, wir , ihr
„Wir können das Evangelium lebendig verkündigen nur so, wie es in uns lebendig geworden ist.“ (Engemann/ Lütze, S. 47)
Da diese Predigt entsprechend der örtlichen Gegebenheit der Elisabeth-Kirche in Mistelbach, Niederösterreich, konzipiert ist, in der immer Blickkontakt fast auf Augenhöhe zur Zuhörerschaft besteht, war mir wichtig, möglichst immer in der ersten Person Einzahl oder Mehrzahl zu bleiben und das Ansprechen in der zweiten Person Plural möglichst zu vermeiden, um nicht Bedrängnis und Abwehr auszulösen.
Ich habe meine Predigt deswegen in Abschnitte unterteilt, die ich auch stimmlich durch Pausen voneinander abgrenzen kann. In den beiden ersten Plural-Verwendungen (17: „Was geht uns das heute an?“ und 19: „Erleben wir …“) nütze ich einen quasi „pluralis maiestaticus“ um in weiterer Folge einen emotionalen Bezug zu der Schwierigkeit aufzubauen, in Notlagen hilfreich – „hirtengemäß“ – tätig zu werden, auch wenn man nicht wie die schlechten Hirten im Predigttext von blankem Egoismus geleitet ist.
Um diese Schwierigkeit noch mehr zu verdeutlichen, habe ich mich zu dem nicht unproblematischen Bericht aus meiner Biographie entschieden; hier „ich“ zu sagen ist logische Konsequenz. (Ich hätte ja auch behaupten können, es handle sich um einen Supervisions-Fall aus der Kollegenschaft, aber da wäre ich nicht authentisch gewesen.)
„Jeder kann nur das darstellen, was in ihm ist.“, schreibt Otto Haendler. (Engemann/ Lütze S. 54) Was in mir hochkam und mein Herz öffnete, als ich die Zeilen 42 bis 50 schrieb, war ein rührender Impuls, das Leben der anderen Person zu behüten. „Hüten“ im positiven Sinn. Die Hirtenkompetenz. Berührt von dieser Emotion bekommt das Du eine kostbare Qualität und überträgt sich auf alle, die sich in diesem Du wiederfinden. Joachim Bauer würde formulieren: es aktiviert Spiegelneuronen. (Bauer S. 106) Es aktiviert aber auch Kommunikation von Herz zu Herz und damit Compassion.
„Ihr“ kommt in meiner Predigt nicht vor, wie ich beim Überprüfen feststellen konnte. Es hätte auch nicht gepasst: ich erlebe mich nicht als ein „Gegenüber“ der Gemeinde, sondern als ein „Miteinander“, quasi als Bergführerin, die halt schon viele Verirrungen, Abgründe und Abstürze bewältigt hat und weiß, wo man wie aufpassen muss.
Ich hätte da noch einiges Christologische und Soteriologische einbauen können, aber da hätte ich mich vom Bibeltext entfernt und die Gefahr der salbadernden Frömmelei wäre gestiegen.
4. 3. Der Text in der Predigt
Die nachfolgende Predigt zitiert markant bestimmte Passagen aus dem Predigttext. Durch diese „Verschränkung“ soll eine fortlaufende Linie zu einer innovativen Sichtweise des aus dem Bibeltext abgeleiteten Gedankenzugs verdeutlicht werden. Ich will damit erlebbar machen, wie das Wort Gottes – in diesem Fall halt auch in mir – wirksam wird.
„Indem sich der Autor in verschiedenen ,Textwelten‘ bald darstellend, bald erzählend, bald zitierend an seine Leser wendet, verschafft er ihnen eine eigentümliche Art der Gleichzeitigkeit zu den Ereignissen, von denen im Text die Rede ist.“, betont Wilfried Engemann. „Dabei stiftet er mögliche Textsinne, die sich nicht aus der historischen Schau, nicht aus der Erörterung des im Text Dargestellten, nicht auf der Ebene der Erzählung oder aus einzelnen ,mitgehörten‘ Dialogen allein erschließen lassen, sondern aus allen Textwelten gemeinsam.“ (Engemann/ Lütze, S. 108)
Engemanns Satz, den „Tod des Predigers“ zu proklamieren bedeute, die Predigt quasi als „Testament“ zu verstehen, das ohne den Hörer nicht erfüllt werden kann und daher „agendarischen“ Charakter haben sollte, hat mich gefesselt: ein Testament ist einerseits ein „Zeugnis“ für ein in die Zukunft weisendes Vorhaben des Testierenden, andererseits ein Vermächtnis: es wird etwas weitergegeben, „vermacht“ – da stecken die Worte Macht und machen drin: die Wortmacht des Predigers soll etwas mit der Hörerschaft aber ebenso mit ihm selbst machen. Der predigende Mensch ist immer Sprecher und Hörer zugleich – und ebenso Denkender und Fühlender.
Das Wort Gottes zum Hören zu bringen – das ist die Aufgabe der Propheten. Hesekiels Bildsprache bewirkt nicht nur Aufhorchen mittels der Ansprache „Du Menschenskind“ und dem Weheruf, sondern thematisiert, was sich „gehört“ bzw. nicht gehört, Gehorsam und Ungehorsam, alles Hördimensionen, die wohl allen zumindest aus Kindheit und Schulzeit vertraut sind. Deswegen braucht das Kapitel 34 des Hesekiel-Buches m. E. keine prädikatorisch erklärende Verstärkung – und deswegen habe ich darauf verzichtet sondern nur einige Textstellen demonstrativ zum „Bündnis mit dem Text“ wiederholt: Derr Text selbst bietet sich für eine „agendarische“ Umsetzung im Alltag an.
Karl-Heinrich Bieritz schreibt, die zwischen illocutio und perlocutio – Redeabsicht und Redewirkung – von Henning Luther angesiedelte „Freiheit des Hörers“ entscheide allein, ob er sich binden ließe oder verweigere. Der Redner, der seine Intentionen nicht verschleiere sondern offenlege, respektiere diesen Freiheitsraum, daher gehörten „expressive“ Sprachakte, die die Subjektivität des Predigers ausdrücken, unverzichtbar zur Predigt. (Engemann/ Lütze, S. 197) Ich bin keine Freundin der „offenen Kunstwerke“ im Gottesdienst wie auch in anderen „Suggestivfeldern“. (S. 199) Wenn die äußere Wahrhaftigkeit mit der inneren übereinstimmt, ist jede „Äußerung“, sei sie nun verbal oder tonal, mimisch oder gestisch oder was noch alles, wirk-lich; aus diesem Grund halte ich es für wichtig, sich selbst vom Text berühren, ergreifen und inspirieren zu lassen ohne artifiziell auf Wirk-samkeit zu schielen.
Bei Bruno Kern heißt es: „Die Hermeneutik der Befreiung wendet sich gegen eine unterdrückerische Hermeneutik. Das armgemachte Volk wehrt sich gegen unterdrückerische Bibelinterpretationen und eignet sich so den Text der Bibel wieder an.“ Zu den hauptsächlichen Mechanismen der Enteignung des Wortes Gottes zählt er Fundamentalismus, welcher die Bibel zu einer absoluten, ahistorischen und allgemeingültigen Instanz macht, ebenso Strukturalismus, der allein den Text betont, den Konkordismus, der auf vereinfachende Weise biblische und gegenwärtige Situationen gleichstellt und Historismus, der den Text auf seine bloß historische Bedeutung reduziert und damit seines geistlichen Sinnes und seiner spirituellen Kraft beraubt. (S. 70) Ich erblicke die Befreiungs- wie auch Erlösungsbotschaft von Hes 34 so ergreifend – vorausgesetzt man hört sie mit offenen Ohren und offenem Herzen –, dass man sich als Predigende ruhig nur auf das eigene Zeugnis beschränken kann.
4. 4. Struktur der Predigt
Als Ziel hat sich in mir beim Abfassen dieser Predigt folgende Perspektive entwickelt: einerseits zum Mitgefühl mit „verirrten Schafen“ (und anderen Hilfsbedürftigen) und zur Entwicklung von Hirtenkompetenz zu ermuntern sowie andererseits an das Vertrauen auf den Hirtenbeistand Gottes s. Psalm 23 zu erinnern.
Vor diesem Hintergrund habe ich für meine Predigt daher folgende Strukturierung gewählt:
Ouvertüre:
- Der Hinweis auf die Dramatik der vernachlässigten Schafe zu Beginn wird durch die Worte „Gewalt“ und „niedertreten“ in die persönliche Betroffenheitsnähe gebracht.
- Dann werden „gute“ Hirten beschrieben und damit allfällige Negativassoziationen in Balance gebracht bzw. gemildert.
- Durch den folgenden historischen Verweis wird die Brücke zur Gegenwart geschlagen: schlechte Hirten vertreiben ihre Opfer.
- Andeutung: Sie finden aber auch Sympathisanten – ein Negativverweis.
- Es gibt aber auch Hilfsbereite, die aus verzeihlichen Gründen untätig bleiben – ein Positivverweis.
Zwischenspiel:
- Narration über menschliches Versagen und seine Überwindung – vom Negativverweis zum Positivverweis.
- Conclusio: das Erkennen der Not wendenden Hirtenkompetenz und Selbstbesinnung – der Negativaspekt verlangt eine positivierende Reaktion.
Wendepunkt:
- Erkennen der Ressource Gott – Positivaspekt.
- Freude über die Gnade der Korrekturmöglichkeit.
Rückfall und Verzögerung:
- Möglicher Vorwurf des Versagens – Negativverweis.
- Ausweg: Hoffnung durch imitatio dei – Positivverweis.
Lichtblick:
- Entscheidung: Verzicht aufs Richten
- Stattdessen Bitte um Lenkung.
Durch den „sanften“ Beginn sowie die Selbstoffenbarung wird ein Bogen vom Negativen zum Positiven gespannt und mehrfach aber immer knapper wiederholt. Damit wird es möglich, die Botschaft Gottes auf eine neue Weise zu verinnerlichen.
5. LITURGISCHER KOMMENTAR
5. 1. Zeitliche Einordnung im Kirchenjahr:
Der Predigttext Hesekiel 43,1-2 (3-9) 10 – 16. 31 ist in der Perikopenordnung dem zweiten Sonntag nach Ostern, Misericordias Domini, auch Guthirtensonntag genannt, zugeordnet. Der Wochenspruch dazu lautet: „Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.“ (Joh 10, 11.27.28)
Dementsprechend werden für den Gottesdienst folgende Bibelstellen zur Auswahl angeboten (laut Pfarramtskalender 2015):
- Psalm 23, 1- 4 („Der Herr ist mein Hirte“);
- Alttestamentliche Lesung: Hes 34, 1 – 2 (3 – 9) 10 – 16. 31;
- Epistolische Lesung: 1 Petr 2,21 b – 25 („denn ihr wart wie irrende Schafe“);
- Wochen- bzw. Tageslied: 274
- Hallelujavers: Ps 100 3 b („Er hat uns gemacht … zu den Schafen seiner Weide“); Lk 24,6. 34 (den Bogen von den schlechten/ guten Hirten zur Auferstehung zu schlagen, finde ich nicht so gut);
- Evangelische Lesung: Joh 10, 11 – 16 („Ich bin der gute Hirte“)
- Predigttext: Joh 10, 11 – 16 (27 – 30) („Meine Schafe hören meine Stimme“ – diese Perikope finde ich sehr schön, und die würde ich selbst bevorzugt für die Predigt zu Misericordias Domini wählen)
- Abendlesung: Mt 9, 35 – 10,1 (2 – 4) („zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben“)
In der Perikopenordnung finden sich dazu noch die Empfehlungen
- Joh 21, 15 – 19 („Weide meine Lämmer!“)
- Hebr 13, 20 – 21 („Der Gott des Friedens aber, der den großen ;Hirten der Schafe‘ …)
- 1 Petr 5, 1- 4 („Weidet die Herde Gottes…“)
5. 2. Exemplarische Liturgie
Diese Beispielsliturgie folgt dem zeitlichen wie inhaltlichen Aufbau wie er in der Pfarre Mistelbach üblich ist.
Wenn ich Gottesdienst gestalte, versuche ich sowohl bei allem gesprochenen als auch Gesungenen auf das Leitthema Bezug zu nehmen.
- Willkommen! Die Liebe Gottes und die Gnade unseres Herren Jesus Christus, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mir uns allen!
- Lied 318, 1 + 3: O gläubig Herz, gebenedei / und gib Lob deinem Herren!
- Psalm 33, 1 – 5. 9 – 15. 18 – 22: Freuet euch des HERRN, ihr Gerechten;
- Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist! < Gemeinde
- Kyriegebet: Herr komme in unsere Mitte, damit wir in diesem Gottesdienst dein Wort und Wollen erfahren!
Herr erbarme dich unser! < Gemeinde
Ehre sei Gott in der Höhe! < Gemeinde
Der Herr sei mit euch! < Gemeinde
Jetzt lasst uns beten (selbst formuliert):
Gott im Himmel – segne unsere Wahrnehmen, unser Hören und Reden, unser Mitgefühl, unsere Solidarität und unsere Tatkraft – und führe uns alle auf deinem ewigen Weg!
Amen!
- Hören wir nun zur Erinnerung das Evangelium Johannes 10, 11 – 16: Lesung
- Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege! Halleluja! < Gemeinde
- Lasst uns als Antwort auf das Evangelium unseren Glauben bekennen! < Glaubensbekenntnis.
- Lied 244, 1 – 3: Wach auf, wach auf, ‘s ist hohe Zeit / Christ, sei mit deiner Hilf nicht weit!
- Predigt zu Hesekiel 43,1 – 2 (3 – 9) 16. 31: Textlesung und Predigt
- Lied 409, 1 – 2 + 8: Gott liebt diese Welt und wir sind sein eigen
- Abkündigungen
- Lied 603: Die Herrlichkeit des Herren bleibe ewiglich
- Fürbittengebet (selbst formuliert):
Herr, wir bitten für alle, denen Unrecht geschieht, die aus ungerechten Verhältnissen fliehen müssen, dass sie Zuflucht finden, Geborgenheit und Frieden; Herr, wir bitten für alle, die Zuflucht suchen auf dass sie dort ankommen, wo sie ein Leben in Friede und Würde leben können; Herr, wir bitten für alle, die Obsorge tragen und tragen sollen, dass sie dies in rechter Weise erkennen und ihre Kraft dafür einsetzen; Herr, gib uns die Kraft und den Mut, Missstände selbst zu vermeiden aber auch aufzuzeigen und zu beseitigen!
- All unser Beten lasset uns nun mit dem Vater Unser zusammenfassen!
Vater unser
- Schluss-Segen
- Schluss-Lied 353, 1 + 3: Jesus nimmt die Sünder an + Wenn ein Schaf verloren ist.
- Einen schönen und besinnlichen Sonntag wünsche ich uns allen!
5. PREDIGT zu Hes 34, 1 – 2(3 – 9), 10 – 16.31 –
Verlesung der gesamten (!) Textstelle.
1 Liebe Gemeinde!
2 Sie haben die Worte des Propheten Hesekiel gehört: Der HERR sagt: Wehe den Hirten
3 Israels, die sich selbst weiden! Die sich selbst an allem wohl tun, was die Schafe
4 hergeben, Fett, Wolle, Fleisch – nur den Schafen tun sie nicht wohl, ganz im Gegenteil!
5 Wer nicht liefert, wird mit Gewalt niedergetreten.
6 Hirten – sie stehen hier für all diejenigen, die dafür sorgen sollen, dass es den ihnen
7 Anvertrauten gut geht – vor allem dann, wenn diese besonderer Fürsorge bedürfen:
8 Schwache und Kranke, Gebrochene … wir können noch viele Schwächen ergänzen:
9 Arbeitslose, Arme, vor allem aber die, die aus der Herde ausbrechen um ihres Überlebens
10 willen. Flüchtlinge.
11 Bei Hesekiel heißt es: meine Schafe irrten auf allen Bergen umher und auf allen hohen
12 Hügeln. Und über das ganze Land – und wieder können wir ergänzen: und über das
13 ganze Mittelmeer – sind meine Schafe zerstreut worden, und es ist niemand, der nach
14 ihnen fragt, und niemand, der sie sucht.
15 Hesekiel lebte in der Zeit des Untergangs Jerusalems. Er gehörte zu den Deportierten, die
16 in die babylonische Gefangenschaft mussten. Er ist ein Warner vor Fehlverhalten –
17 Vergangenem aber auch Künftigen. Gerade da taucht die Frage auf: was geht uns das heute
18 an?
19 Erleben wir nicht gerade jetzt wieder solch ein Umherirren, solch ein zerstreut-Werden
20 und Opfer wilder Tiere werden – diesmal eben im Wasser – und Entscheidungsträger,
19 die nicht wagen, schlechten Hirten entgegen zu treten. Da drängt sich oft die Reaktion auf:
20 Das ist so weit weg – da sollen sich andere darum kümmern, die Mittelmeerstaaten, die EU
21 … und manche finden überhaupt die ganze Flüchtlingspolitik übertrieben. Die sollen
22 zurück in ihre Heimat, heißt dann oft, und sich gegen ihre schlechten Hirten wehren, die
23 Großmächte werden ihnen schon die Waffen liefern.
**
24 Wir brauchen aber gar nicht Richtung Mittelmeer zu schauen – auch im österreichischen
25 Süden entdecken wir Hirten, die sich selbst geweidet haben – und täglich lesen wir in der
26 Tageschronik von Eltern, die ihren Kindern keine guten Hirten waren sondern deren
27 Knochen zerbrochen und danach nicht gewagt haben, Hilfe zu suchen – aus Angst, aus
28 Unwissenheit, aber auch aus mangelndem Vertrauen. Und manchmal auch aus Lähmung,
29 Nichtverstehen – oder weil die Zeit zu kurz war, um zu begreifen, was Not-wendig wäre.
30 Aber wie geht es uns selbst, wenn wir mit Notlagen anderer konfrontiert sind?
**
31 Mich hat vor einigen Tagen eine ehemalige Studentin kurz vor Mitternacht angerufen und
32 aus dem Schlaf gerissen: ein Klient von ihr hatte ihr soeben telefonisch seine
33 Selbsttötungsabsicht mitgeteilt, und sie war ratlos, verwirrt, wusste nicht, was jetzt die
34 richtige Reaktion wäre: sie wisse ja nicht, wo er sei – er sprach von einer Almhütte – ihr
35 Versuch, ihn im Gespräch „zurück zu holen“ schien ihr nicht gelungen – sollte sie
36 vielleicht seine Ehefrau verständigen – aber da würde sie ja die Schweigepflicht verletzen?
37 Zuerst spürte ich Verärgerung – der späte Anruf war ja schon lästig – und dann über die
38 Zumutung, jemand beistehen zu sollen, mit der ich seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr
39 hatte. Soll sie doch die Telefonseelsorge anrufen, die KollegInnen dort sind gut
40 ausgebildet, das weiß ich, weil ich ja selbst dort gelegentlich unterrichte, die machen das
41 schon …
42 Und dann plötzlich die Erkenntnis: hatte ich nicht selbst vor noch viel längerer Zeit
43 eine fast gleiche Herausforderung? Ging es nicht wieder darum, nach jemand zu fragen
44 bzw. die Frage dorthin zu leiten, wo jemand sie beantworten konnte? Die Frage: Wo bist
45 Du? Wo finde ich Dich und kann Dir beistehen, weil ich will, dass Du lebst? Plötzlich war
46 mir klar, dass der Anruf wirklich zu mir gehörte!
47 Ich hatte mich damals für den Bruch der Schweigepflicht entschieden und den Ehemann
48 meiner Klientin von der Suizidabsicht verständigt und die Vorwürfe deswegen aushalten
49 müssen. Aber ich konnte nur bei dem bleiben, was ich in meinem Herzen gespürt hatte:
50 Ich will, dass Du am Leben bleibst.
**
51 Liebe Gemeinde!
52 Siehe, ich selbst will nach meinen Schafen fragen und sie suchen, spricht der HERR.
53 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das
54 Zerbrochene verbinden und das Schwache stärken.
55 Ist es nicht die Stimme des HERREN, die uns selbst zurück bringen will, wenn wir den
56 Zwiespalt spüren zwischen unserer idealen Menschlichkeit und unserer bequemen? Liegt
57 es nicht daran, dass wir uns oft erst daran gewöhnen müssen, dass wir uns nicht zu
58 schämen brauchen sondern uns freuen dürfen, wenn der HERR uns Fingerzeige gibt, wie
59 wir aus Wirrnissen herausfinden können?
60 Ist es nicht die Stimme des HERREN in uns – nennen wir es Gewissen oder Gewissheit –
61 die anleitet, das Verirrte zu suchen?
62 Als „innerer Hirte“ „führet“ es uns „zu frischem Wasser“ – zur inneren Klarheit. Und das
63 erquickt unsere Seele.
64 Und ich werde ihnen einen einzigen Hirten erstehen lassen, der sie weiden soll, spricht
65 der HERR, nämlich meinen Knecht David.
66 Das bedeutet Ende des Zwiespalts, Ende der Verzweiflung.
**
67 Wenn Geschehnisse eintreten, bei denen sofort der Gedanke auftritt, „Wie wäre das, wenn
68 es mich beträfe?“, neigen manche dazu, gleich von der Strafe Gottes zu sprechen. Aber
69 geht es nicht eher darum, dass wir uns das zum Vorbild nehmen, was der HERR vorgibt,
70 wenn er spricht: Wie ein Hirte sich seiner Herde annimmt, wenn er seine Schafe
71 zerstreut antrifft, will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten,
72 wohin sie zerstreut waren zur Zeit der Düsternis und des Dunkels. will ich meine
73 Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten.
**
74 Wir sind nach seinem Ebenbild geschaffen und so können wir uns auch nach seinem
75 Ebenbild verhalten und das heißt auch: die erretten, welche die Herde verloren haben aus
76 welchen Gründen auch immer und zu welchen Zeiten – denn in Zeiten der Düsternis und
77 des Dunkels, wir könnten auch sagen: der Depression und des Verlust des Lebensmutes –
78 brauchen wir Hirtenkompetenz, aktive wie passive, und die muss man erst lernen und
79 einüben, und um etwas zu erlernen braucht man rechtschaffene Vorbilder.
80 Zwischen dem fetten und dem mageren Schaf zu richten ist Aufgabe derer, die dazu
81 berufen sind. Eine schwere Aufgabe, die auch Anleitung und spirituelle Leitung braucht.
82 Wer das aber nicht ist, gesellt sich denen zu, die nur richten wollen aber nicht fürsorgen –
83 und verfehlt damit wohl auch die Hirtenaufgabe.
84 Wir können – oder brauchen – nur bitten, unsere jeweilige Aufgabe zu erkennen und die
85 Kraft zu erhalten, sie dann halbwegs gut zu bewältigen – und darauf vertrauen, dass ER
86 unser Hirte ist.
Amen.
6. LITERATURVERZEICHNIS
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Deutsche Bibelgesellschaft (in der revidierten Fassung 1984), Stuttgart 1985.
Die Heilige Schrift nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Neu durchgesehen (1914) nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß genehmigten Text. Britische und Ausländische Bibelgesellschaft, Berlin 1914.
Bauer Joachim, Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005/20069.
Bieritz Karl-Heinrich ***
Brunner Emil, Gott und sein Rebell. Eine theologische Anthropologie. Rowohlt, Hamburg 1958.
Buber Martin, Der Glaube der Propheten. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1984.
Buber Martin (gemeinsam mit Franz Rosenzweig), Bücher der Kündung. Deutsche Bibelgesellschaft. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1958/19798.
Conrad Ruth/ Weeber Martin (Hg.), Protestantische Predigtlehre. UTB Mohr Siebeck, Tübingen 2012.
Das Buch des Propheten Hesekiel (Ezechiel) Kapitel 20 – 48. Übersetzt und erklärt von Karl-Friedrich Pohlmann mit einem Beitrag von Thilo Alexander Rudnig. Das Alte Testament Deutsch. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001.
Der Prophet Hesekiel. 2. Teil Kapitel 25 bis 48 erklärt von Gerhard Maier. Wuppertaler Studienbibel, R. Brockhaus Verlag Wuppertal 200/ 20052.
Dörrzapf Reinhold, Eros, Ehe, Hosenteufel. Eine Kulturgeschichte der Geschlechterbeziehungen. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1995.
Drewermann Eugen, „…auf daß ihr wieder leben sollt“. Die Botschaft des Propheten Ezechiel. Herausgegeben von Bernd Marz. Pendo Verlag, Zürich 2001.
Engemann Wilfried, Einführung in die Homiletik, UTB A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2002/112.
Engemann Wilfried / Lütze Frank M. (Hg.), Grundfragen der Predigt. Ein Studienbuch, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006/892.
Haag Ernst, Die Botschaft vom Gottesknecht. Ein Weg zur Überwindung der Gewalt. In: N. Lohfink s. u.
Haendler Otto ***
Kern Bruno, Theologie der Befreiung. UTB Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2013.
Kessler Rainer, Sozialgeschichte des alten Israel. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006.
Lapide Pinchas, Ist die Bibel richtig übersetzt? Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2004/ 20082.
Lohfink Norbert (Hg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament. Herder, Freiburg Basel Wien 1983.
Lüthi Kurt, Christliche Sexualethik. Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar 2001.
Stenger Hermann, Im Zeichen des Hirten und des Lammes. Mitgift und Gift biblischer Bilder. Tyrolia, Innsbruck Wien 20022.
Willmes Bernd, Die sogenannte Hirtenallegorie Ez 34. Studien zum Bild des Hirten im Alten Testament. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1984.
Zenger Erich, Einleitung in das Alte Testament, hg. von Christian Frevel. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1995/ 20128.
Zimmerli Walter, Grundriß der alttestamentlichen Theologie. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1972.
Fußnoten
[1] Mit der Novelle zum Arbeitnehmerschutzgesetz 1. 1. 2013 wurde die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers auch auf die psychische Gesundheit der Arbeitnehmerschaft erweitert.