Rotraud A. Perner
05-07-2013

Vom Behagen in der Unkultur

Warum trotz wesentlich verbesserter Lebensbedingungen in der westlichen Welt Mitgefühl ab- und Gewalt zunimmt

 

Der besseren Lesbarkeit wegen werden überwiegend die traditionellen  männlichen Sprachformen beibehalten.
Weiters wurde bei Zitaten die jeweilige Rechtschreibung belassen. Bei den Nietzsche-Zitaten konnten das gesperrt jeweils Gesetzte leider nicht übernommen werden.

 

Inhaltsverzeichnis:

Wissen, was gut ist

Vorbildlernen

Schmerzgrenzen

Vermeidungsstrategien und Kompensationsversuche

Ideologien

Medienwirksamkeiten

Verliebtheiten

Literaturangaben

 

In der Wissensgesellschaft, von der heute so viel die Rede ist,
ist das Wissen vom kulturellen Kontext abgelöst, reduziert
auf die Form der zirkulierenden Information.
Oliver Roy[1]

 

Wissen, was gut ist

Wissen ist Macht, wird Francis Bacon gerne zitiert oder auch Karl Liebknecht, der umgekehrt sagte: Macht ist Wissen. Deren Betätigungsfeld reicht vom Aushorchen über andere und professioneller Konkurrenzbeobachtung bis zu Spionage und Datenklau, wohingegen Wissen über die eigenen Verhaltensmuster oder auch das persönliche So-geworden-Sein auf weniger Interesse stößt, liefert es doch kaum das Lustgefühl der Überlegenheit.

Das Erlangen des Wissens davon, wie andere handeln und wie dies bewertet wird, bedeutet Sicherheit – zumindest solange man seine eigenen Unsicherheitsgefühle nicht liebevoll integriert hat.

Wissen vermittelt sich also – im Gegensatz zu reinen, d. h. unbewerteten Beobachtungen – über Erfahrungen und deren ausgesprochener oder auch nur pantomimisch dargestellter Bewertung … zumindest solange dieser nicht widersprochen wird.

Neben das Ziel, möglichst unverletzt die Widernisse des Lebens zu bewältigen tritt das Bestreben, solchen Widerwärtigkeiten präventiv begegnen zu können. Sigmund Freud nennt als dazu dienliche Methoden der Abwehr von Leid,

  • das vom eigenen Körper her drohen kann, der, „zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnsignale nicht entbehren kann“,
  • von der Außenwelt, „die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann“,
  • und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen,

drei Möglichkeiten:

  • gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen,
  • als Mitglied der menschlichen Gesellschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik die Natur dem menschlichen Willen zu unterwerfen; dann arbeitet man mit allen am Glück aller.
  • Zuletzt nennt Freud noch die Methode, den eigenen Organismus zu beeinflussen, denn: „Endlich ist alles Leid nur Empfindung, es besteht nur, insofern wir es verspüren, und wir verspüren es nur infolge gewisser Einrichtungen unseres Organismus.“[2] Diese kann man „von außen“ durch chemische Substanzen beeinflussen – solche kann man aber auch autogen als „körpereigene Drogen“[3]

Gerade diese letzte Möglichkeit hat im neuen Jahrtausend gegenüber den beiden anderen infolge massiver psychologisch fundierter Werbung für Fitnesstrainings, kosmetische Operationen inklusive intimstem Körper-Design, fernöstliche Therapien und psychologische Dienstleistungen zunehmend Anhängerschaft und damit Gewicht bekommen. Es werden so genannte „testimonials“ vorgeführt und damit Begehrlichkeit nach den Empfindungen geweckt, die diese zu verkörpern scheinen. Aber: man kann auf die Praktik dieser Methoden ebenso süchtig werden wie auf die jeder Kultur vertrauten Alltagsdrogen und damit ebenso den Lebensschwerpunkt auf – in diesem Fall nicht Substanzen sondern – Prozesse mit steigender Toleranz einschränken.

Freud bezeichnete als wirksamste Methode solcher Beeinflussung des eigenen Organismus noch die chemische, die Intoxikation: „Die Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück und zur Fernhaltung des Elends wird so sehr als Wohltat geschätzt, daß Individuen wie Völker ihnen eine feste Stellung in ihrer Libidoökonomie eingeräumt haben. Man dankt ihnen nicht nur den unmittelbaren Lustgewinn, sondern auch ein heiß ersehntes Stück Unabhängigkeit von der Außenwelt.“[4]

Michael Musalek, Psychiatrieprofessor der Medizinischen Universität Wien und Primararzt des auf Suchterkrankungen spezialisierten Anton-Proksch-Instituts in der Hinterbrühl (bei Baden bei Wien), betont immer wieder, dass mit Substanzmissbrauch Depressionen bekämpft werden. Geht man diesen auf den (ursächlichen) Grund, findet man Mangel an Zuwendung, Anerkennung, Erfolgserlebnissen, auch überstarkes, unzulängliches und daher auch  vergebliches Bemühen um solchen Energiezuwachs und in der Folge chronischen Energiemangel[5]. Bei Freud heißt es: „Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt, muss er seine Aufgaben durch zweckmäßige Verteilung der Libido erledigen.“[6] Das muss aber erst „gelernt“ werden und dazu braucht es Vorbilder (oder kreative Wut im Nicht-hinnehmen-Wollen).

Da die lebenden Modelle der Nah-Umgebung als Vorbilder eines ausbalancierten Lebens selten in Frage kommen, bieten sich alternativ die laufenden Bilder aus Film, Fernsehen und Internet an. Die zeigen zwar auch kein Leben im Gleichgewicht, dafür aber Kraftgewinn durch Dominanzverhalten und das noch dazu mit emotionalisierender Bildgestaltung und Musikuntermalung.

 

Vorbildlernen

Man könne sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Menschen mit falschen Maßstäben messen und Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, kritisiert Sigmund Freud zu Beginn seiner Abhandlung über das Unbehagen in der Kultur, die wahren Werte des Lebens – die er allerdings nicht benennt – aber unterschätzten sie.

Was aber sind die wahren Werte des Lebens? Was als das Wahre, Schöne, Gute benannt wird, um Platon zu zitieren, beruht letztlich doch immer nur auf subjektiven Lustempfindungen und allenfalls gesellschaftlicher Vereinbarung einer Mehrheit Gleichgesinnter. Dieses Lustempfinden ist erlernt wie jedes Wahrnehmen und Reagieren – Lernen als Bildung neuer Neurosignaturen verstanden – und meist durch Manipulation von Bezugspersonen oder Einwirkung von audiovisuellen Medien geprägt.

Ein Neugeborenes sieht etwas – jemand – riecht, hört … tastet mit seinem Saugemund und schnappt zu; von dem Augenblick an, an dem es greifen kann, wird es mittels Zugriff versuchen herauszufinden, ob dieses Etwas schmackhaft und verzehrbar ist, und sobald es Zähne besitzt, wird es diese einsetzen und so seine Kaumuskulatur üben. Und es wird durch Saugen und Kauen die so genannten „pleasure rhythms“ auslösen: „Diese Freudenrhythmen treten bei allem lustbetonten Tun auf: bei oraler Stimulation wie Nuckeln an Babyflaschen, wie Lutschen von Bonbons, wie Zigarettenrauchen – dies ist auch einer der Gründe, warum Rauchen ,beruhigt‘ ebenso wie der Schnuller.“, schreibt die Psychologin und Neurophysiologin Annette Bolz, und erklärt: „Denn die ,pleasure rhythms‘ mit ihrer niedrigen Frequenz und ihrer deutlichen Synchronisation (,hedonistische Hypersynchronisation‘) zeigen an, daß alle Neuronen dieser Region relativ gleichförmig und regelmäßig langsam aktiviert werden.“[7]

Nicht alle Menschen  ertragen den Anblick eines verzweifelt nach Nahrung gierenden oder selig-satt entschlummernden Säuglings sondern reagieren aggressiv – so wie sie es seinerzeit von ihren Vorbildern abgeschaut haben. Solche Modelle können ältere und durchsetzungstärkere Geschwister geliefert haben oder ein eifersüchtiger Vater oder Lebensgefährte der Mutter, der sich unbewusst oder bewusst benachteiligt fühlt, wenn jemand Bedürftigerer die Zuwendung bekommt, die er selbst so dringend nötig (gehabt) hätte.

Auch wenn ein Säugling die Grammatik der Worte nicht versteht – er versteht den Sinn. Das haben die Erfahrungen der französischen Kinderpsychoanalytikerin Caroline Eliacheff bewiesen: wenn man sogar Kleinstkindern ruhig und liebevoll ihre Lebenssituation erklärt – anstatt wie häufig neben ihnen abfällige Kommentare oder ärgere Unmutsäußerungen zu tätigen –, verschwinden Symptome in überraschend kurzer Zeit.[8]

Das, was prägt, ist die „Ausstrahlung“, welche bedeutet: die zumindest über den elektrischen Hautwiderstand spürbare Neurotransmitterausschüttung der jeweiligen Bezugsperson: liebevolle Zuwendung oder zornerfüllte Attacke, verbal oder gar mit Körpergewalt. Diese bioenergetische Einwirkung wird durch Sprache – d. h. geformten Atemausstoß – verstärkt; sie überdeckt die Semantik der Worte, führt im Widerspruchsfall zu Verwirrung und kann langfristig zum selektiven Verlust von Wahrnehmung –  als authentisch „wahr“-nehmen-können im wörtlichen Sinn! – führen und dann mit dem Etikett „neurotisch“ (was nichts anderes bedeutet als „neuronal verursacht“) gekennzeichnet werden.

„Aufgrund seiner individuell und im Zusammenhang mit anderen Menschen gemachten und im Hirn in Form bestimmter Nervenzell-Verschaltungen entsprechend verankerten Erfahrungen gelangt jeder einzelne Mensch im Lauf seines Lebens zu bestimmten Annahmen und entwickelt bestimmte Vorstellungen über die (soziale) Welt, über die Art seiner Beziehungen zur äußeren (sozialen) Welt und seine Möglichkeiten zur Mitgestaltung dieser Welt. Diese Vorstellungen werden als innere Orientierungen, als Selbstwirksamkeitskonzept und eigene Leitbilder im Hirn verankert. Sie bieten einem Menschen Halt und Sicherheit, bestimmen seine Entscheidungen, lenken seine Aufmerksamkeit in bestimmte Richtungen und sind daher ganz entscheidend dafür, wie und wofür der Mensch sein Gehirn benutzt und deshalb auch strukturiert.“, schreibt Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, und: „Die konkrete Form dieser inneren Bilder und Orientierungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens für seine weitere Lebensgestaltung herausbildet, hängt in hohem Maß von den jeweils vorgefundenen und als besonders „erfolgreich“ bewerteten Vorbildern ab, die er als Heranwachsender innerhalb seines Kulturkreises und der dort herrschenden sozialen (familiären und gesellschaftlichen) Beziehungen vorfindet.“[9]

Diese Vorbilder entstammen überwiegend den Medien und erweisen sich voll von Dominanzbestrebungen, Unterwerfungsgelüsten, Strafwut und sadistischer Demütigungslust.

Da Gewalt, sofern sie nicht sichtbare Verletzungen hervorgerufen hat, nicht nur in der Alltagskommunikation sondern auch vor Polizei und Gericht verharmlost, abgestritten oder überhaupt der Wahrnehmung entzogen wird, sind viele Menschen unfähig, ihre vielen Gestalten zu erkennen und zu benennen. Es wurden dann keine Wahrnehmungsneurone entwickelt und es fehlen auch adäquate Bezeichnungen. Stattdessen werden die Wirkungen auf das leibseelischgeistige Erleben und Verarbeiten mittels Pseudonamensgebungen einer Bewertung zugeführt, die die Hörenden mundtot machen (sollen): so wird etwa elterlicher Zorn zur Sorge um das Kind umgedeutet und als dessen Schuld gerechtfertigt. Unabhängig von der Züchtung einer selbsteinschränkenden Geisteshaltung voll permanenter Schuldgefühle werden aber auch die organischen Gehirnstrukturen negativ beeinflusst.

 

Schmerzgrenzen

„Wenn Aggression – aus welchen Gründen auch immer – nicht kommuniziert werden kann oder darf, dann bleiben die Komponenten des Aggressionsapparats, insbesondere die Angstzentren, neurobiologisch ,geladen‘.“[10], mahnt Joachim Bauer, Psychiater, Psychotherapeut und Internist, der an der Universität Freiburg Neurobiologie lehrt. Die Genese des von ihm als „Gesetz der Schmerzgrenze“ bezeichneten Verhaltensprogramms der Aggression wurzle daher in der Notwendigkeit, Schmerz abzuwehren, körperliche Unversehrtheit zu erhalten und lebenswichtige Ressourcen zu verteidigen. „Wenn die Schmerzgrenze eines Lebewesens tangiert wird, kommt es zur Aktivierung des Aggressionsapparates und zu aggressivem Verhalten.“, und: „Bei sozial lebenden Lebewesen wie dem Menschen zählen Zugehörigkeit und Akzeptanz zu den lebenswichtigen Ressourcen. Demütigung und Ausgrenzung werden vom menschlichen Gehirn wie körperlicher Schmerz erlebt, sie tangieren die Schmerzgrenze.“[11] Eigentlich müsste der solcherart zu aggressivem Verhalten angestachelte Mensch seine Peiniger attackieren um seine seelische und damit auch neuronale Harmonie wieder herzustellen. Herbert Marcuse erinnert diesbezüglich in seinem „philosophischen Beitrag“ zu Sigmund Freud an das so genannte Nirwana-Prinzip.[12] Nun betont Freud aber wiederholt, dass eine der Hauptbestrebungen der Kultur in der Zusammenballung der Menschen zu großen Einheiten bestünde[13].  Diesem Zweck dienen die gesellschaftlich bewährten Repressionen, die er in der ödipalen Phase verortet[14], in der das um die Liebe des gegengeschlechtlichen Elternteils buhlende (männliche) Kind aggressive Gefühle gegen den die angestrebte Dyade störenden gleichgeschlechtlichen Elternteil  entwickelt, und die als geglückt überwunden gilt, wenn die – resignierende – Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil erfolgt und dessen Dominanz – „Herrschaft“ – anerkannt wird.

Entkleidet man diese Thesenbildung Freuds seiner sexuellen Komponente, zeigt die heutige alltägliche psychotherapeutische Erfahrung, dass die meisten, mit psychoanalytischem  Fachwissen unvertrauten, Eltern das Buhlen des noch auf Mutter und Vater (und nicht die Gruppe der Gleichaltrigen) ausgerichteten Vorschulkindes nicht amüsant sondern nervig finden. Ihre meist unpädagogischen Bemühungen, das Kind ihren Wünschen – meist nach Ruhe bzw. Zeit für ihre eigenen Vorlieben – zu unterwerfen, führen eher zu Schuldgefühlen beim Kind, das sich als nicht akzeptiert und ausgegrenzt fühlt, als zu eigenen Schuldgefühlen wegen der erlebten pädagogischen Hilflosigkeit.

Bei Marcuse liest sich die folgende Entwicklung  von Unterwerfung folgendermaßen: „Nach Freuds Darstellung wurde die erste menschliche Gruppe durch die Zwangsherrschaft eines Einzelnen über alle anderen errichtet und aufrecht erhalten. Zu einem Zeitpunkt im Leben der Spezies Mensch wurde das Leben durch Herrschaft organisiert. Und der Mensch, dem es gelang, die anderen zu beherrschen, war der Vater – das heißt der Mann, der die ersehnten Frauen besaß und der mit ihnen die Söhne und Töchter hervorgebracht und am Leben erhalten hatte. Der Vater beanspruchte das Monopol auf die Frauen (die höchste Lust) und unterwarf die anderen Hordenmitglieder seiner Macht.“[15] Wer sich ihm widersetzte,  wurde erschlagen, kastriert oder ausgetrieben. Schuldgefühl entsteht daher aus der Angst vor den Folgen des verübten, geplanten oder fantasierten Vatermords.[16], und Marcuse vermutet: „Manche Formulierungen Freuds scheinen dies zu besagen: das Schuldgefühl ist die Folge unbegangener Aggression, ,das Gewissen ist die Folge des Triebverzichts‘ …“.[17] Allerdings formuliert Freud auch: „Nur die Schwächlinge haben sich einem so weiten Einbruch in ihre Sexualfreiheit gefügt, stärkere Naturen nur unter einer kompensatorischen Bedingung, von der später die Rede sein kann.“, nämlich von Sicherheit.[18]

Der Begriff Sicherheit, so möchte ich betonen, ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Angstfreiheit. Man kann sich an Angst gewöhnen und in dieser Gewohnheit Sicherheit finden. So sieht auch Marcuse die Angst vor den Folgen der Aggression gegen den repressiven Vater: „Die Folgen aber sind zwiespältig: sie drohen einmal, das Leben der Gruppe durch das Fehlen der Autorität zu zerstören, die (wenn auch durch Terror) die Gruppe aufrecht erhalten hatte; zur gleichen Zeit aber verspricht dieses Fehlen eine vaterlose Gesellschaft – d. h. eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und Beherrschung. Muß man nicht annehmen, daß das Schuldgefühl diese zwiespältige Struktur und ihre Ambivalenz widerspiegelt?  Die aufrührerischen Vatermörder handeln nur, um der ersten Konsequenz, der Drohung zuvorzukommen; sie richten die Herrschaft wieder auf, in dem sie viele Väter für einen setzen und diesen einen dann vergöttlichen und internalisieren. Aber damit verraten sie nun das Versprechen ihrer eigenen Tat – das Versprechen der Freiheit.“[19]

 

Vermeidungsstrategien und Kompensationsversuche

Lernen geschieht immer in Beziehung: es wird beim Empfänger der jeweiligen Botschaft eine neue Neurosignatur gebildet und durch wiederholtes Erleben verdichtet. In der so genannten ödipalen Phase, in der aus psychoanalytischer Sicht nicht nur die psychosexuelle  Geschlechtsidentität gegründet wird sondern auch das wesentliche Beziehungsverhalten, liegen viele Urszenen für die späteren sozialen Annäherungsmuster verankert. Je nachdem, was indoktriniert, vorgemacht oder sanktioniert wurde, liegen diese dann auf einer Bandbreite von vorsichtig selbsteinschränkendem bis draufgängerisch dominantem Zugang zu anderen.

Joachim Bauer formuliert: „Unsere neurobiologischen Potenziale entfalten sich nur in unterstützenden sozialen Kontexten.“ Dieser „unterstützende soziale Kontext“, so ergänze ich, kann ein prosozialer oder asozialer sein, denn „unterstützend“ besagt nur, dass ein Vorgang verstärkt wird, aber nicht, dass das Ergebnis positiv bewertet wird. Diese Differenz spricht Bauer nicht an;  der Unterschied liegt aber primär in den Werthaltungen – und: er kann auch ein virtueller sein! Bauer fährt fort: „Menschen, die ohne solche Kontexte aufwachsen, haben später ein erhöhtes Risiko, gewalttätiges Verhalten zu entwickeln.“, er schreibt aber auch: „Allerdings wird die Aggression auch dort, wo eine Gesellschaft ihren Kindern und Jugendlichen gute Bedingungen bietet, nicht verschwinden.“[20]

Solch ein unterstützender – nicht im Sinn von fördernd sondern prägend zu verstehender –Kontext kann auch in den räumlich-zeitlichen Rahmenbedingungen liegen, in dem lebensgeschichtliche Ereignisse zu verarbeiten sind.

Joachim Bauer weist darauf hin, dass der Begriff eines „Aggressionstriebs“ das Potenzial einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung im Sinne des „Thomas-Theorem“[21] besitzt. Er erinnert an die Tatsache, dass Sigmund Freud im Ersten Weltkrieg zwei Söhne verloren hatte: „Sigmund Freud ging es, nachdem zwei seiner Kinder als Soldaten gefallen waren, nicht anders als vielen Zeitgenossen: er war traumatisiert und versuchte, die Schrecken dieses Krieges zu verarbeiten. Diese Situation bildete 1920, zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, den Hintergrund für seine Postulierung eines ,Aggressionstriebes‘.“[22] Man könnte also in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Entstehung destruktiver Herrschaftsbestrebungen die rationalisierende  Sublimierung eigenen Leids erblicken.

Aber nicht jeder Mensch kann Leidenszustände zu Kunstwerken oder Wissenschaftsleistungen „kultivieren“. Die meisten Menschen wählen den umgekehrten weil einfacheren Weg in die Richtung einer Regression in depressive Apathie oder Zerstörungswut. Im einen Fall erfolgt Rückzug aus einer unerträglich gewordenen Umwelt (gleichsam „totstellen“), im anderen eine Art destruktiver Rundumschlag gegen alle und alles, was anscheinend heiler ist als man selbst. In Friedrich Nietzsches Biografie findet sich beides und spiegelt sich in seinen späteren Werken inhaltlich wie formal wieder. So beschreibt Hans Joachim Störig Nietzsche wohlwollend als einen „beißenden Kritiker und Pamphletist“[23], sinniert aber mit vorsichtigen Formulierungen wie „Übersteigerungen seiner letzten Schriften“ in die Richtung, „ob ein früheres Einsetzen der äußeren Anerkennung“ Nietzsche vor diesen bewahrt hätte; die Vergleichbarkeit des „verworrenen und phantastischen Inhalts“ von Nietzsches brieflichen Äußerungen mit anderer Publizistik als Symptome seiner luetischen Erkrankung zu werten[24], unterlässt er diskret (oder bar der medizinischen bzw. psychotherapeutischen Erfahrung). Der britische Philosophieprofessor Simon Blackburn hingegen formuliert fast liebevoll: „Das Problem der Interpretation seiner Werke wird dadurch erschwert, dass er gänzlich mit den Konventionen nüchternen philosophischen Schreibens bricht.“, und er präzisiert: „Ihn zu lesen ist manchmal so, wie einem trunkenen Gebrüll zuzuhören, einem gewaltigen Windstoß, der versucht, uralte Wälder niederzureißen, einschließlich derjenigen, die alle anderen Menschen zu ihrem Schutz aufgepflanzt haben.“[25] Nun stammt von Nietzsche selbst der Satz „Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen“.[26] Wir alle interpretieren daher Nietzsche auch nach unseren jeweiligen Blickwinkeln – Nietzsche selbst wird ja auch zu den Relativisten gezählt[27] – daher sollte auch diese Interpretation Raum finden: vielleicht wollte Nietzsche mit seiner gelegentlichen Radikalsprache so wie pubertierende Rebellen auch nur gegen die Vatersprache Kants und Schopenhauers revoltieren? Wollte mit seinen deklarierten Sympathien für die Herrenmenschen, die sich an keinerlei Gesetz und Sitte halten und die Schutzbedürfnisse der Schwächeren ignorieren, wenigstens sprachlich ihnen Gefolgschaft leisten, wo er sich doch physisch nicht zu ihnen zählen konnte?

Sozial inkompetentes Verhalten erweist sich situationsbedingt meist als Überlebenstechnik oder, perpetuiert, als Selbstheilungsversuch, oder aber, zum Charakter verfestigt, als Strategie für Machtgewinn und Machterhalt.[28] Zur Überlebenstechnik kann auch das Ringen um soziale Anerkennung, um Inklusion gezählt werden; man kann es in Frühstadien von Demenzen beobachten, wenn die Patienten um Gehör und Respekt kämpfen und oft als lästig abgewehrt werden. Diesen Kampf um Erhalt der Selbstachtung führen aber auch Menschen ohne dass sie durch eine psychiatrische Diagnose entschuldbar wären, wenn sie von der Gemeinschaft an den Rand gedrängt werden. Joachim Bauer erinnert, „mit übersteigert aggressiven Reaktionen und gelegentlichen Ausbrüchen überkompensieren sie ihre Angst, nicht ernst genommen oder nicht respektiert zu werden.“[29]

Mit Hilfe der bildgebenden Methoden in der Gehirnforschung kann nunmehr sichtbar gemacht werden, in welchen Gehirnregionen die hinter solchem Auftrumpfen verborgenen Angstreaktionen lokalisiert werden können – und wie diese auch durch Zusehen von realen wie ebenso audiovisuellen Vor-Bildern aktiviert werden. Psychotherapeuten kennen diesen Zusammenhang schon lange, konnten ja oft genug mit den dazu geeigneten psychotherapeutischen Techniken die Urszenen aufdecken und die fundierenden Neurosignaturen verändern, nun aber kann der naturwissenschaftliche, weil sichtbar und messbar gemachte Beweis geliefert werden. Joachim Bauer als einem, der diese Forschungsergebnisse als erster einer breiten Bevölkerung im deutschsprachigen Raum zur Kenntnis gebracht hat, ist daher zu danken, wenn er schreibt: „Zahlreiche Studien weisen darauf hin, das Psychopathen in der Regel massive traumatisierende biografischer Erfahrungen hinter sich haben, die sie meist bereits in jungen Jahren durchlebten. Dies zu betonen ist in keiner Weise ein Plädoyer dafür, sich gegenüber Psychopathen, die Gewalttaten begangen haben, nachsichtig zu verhalten. Jede Gesellschaft hat ein Recht darauf, vor gewalttätigen Psychopathen geschützt zu sein.“[30]

 

Ideologien

Was aber tun, wenn eine Gesellschaft als ganze solche psychopathischen Züge aufweist wie etwa die Führungsschicht und ihre Gefolgschaft des Dritten Reichs – das bekanntlich überwiegend von Menschen mit traumatisierenden biografischen Erfahrungen (z. B. Hitler, Heydrich, Himmler) „inszeniert“ wurde, und in dem vor allem auch die Idee Nietzsches vom Übermenschen das ideologische Drehbuch lieferte. So kritisiert Nigel Warburton an Nietzsches Werk neben dem „genetischen Fehlschluss“[31] und dem Mangel an Beweisführung die „falschen Freunde“: Die vielleicht häufigste Kritik an Nietzsches Philosophie insgesamt sieht er darin, dass sie den Beifall von Antisemiten und Faschisten gefunden hat. „Zum Beispiel glaubten einige Nazis, dass seine Ideen mit ihren eigenen durchaus übereinstimmten. Einige Kommentare in Zur Genealogie der Moral könnten, aus dem Zusammenhang gerissen, als antisemitisch aufgefasst werden: Obgleich Nietzsche eine widerwillige Anerkennung für die jüdische Umwertung der Werte zeigt, betont er, dass sie die letzte Zuflucht der Schwachen war. Er kann seine Sympathie für die adlige Moral der Mächtigen nicht verhehlen. In allen seinen philosophischen Schriften rühmt er immer wieder die Macht selbst auf Kosten der Schwachen.“[32]

Nietzsches Denksystem vom „Willen zur Macht“ besitzt das Potenzial, als Ideologie genau die Schwachen anzuziehen, die eine Denkschiene und damit auch Erlaubnis brauchen, sich eigennützig anderen gegenüber erhaben und damit gut zu fühlen. Gewohnheitsmäßig als gut gelobt würden ja nur uneigennützige Handlungen von denen, denen sie zu gute kommen – von denen sie also als gut empfunden werden – „wie als ob sie an sich etwas Gutes wären“.[33]

Demgegenüber sieht Nietzsche die „die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.“, und denen Bewertung nach Nützlichkeit fremd ist.[34] Infolge ihrer Vorrangigkeit beanspruchen sie auch das Recht der Namensgebung. Nietzsche spricht vom „Pathos der Distanz“, aus dem heraus sie das Recht hätten, Werte zu schaffen und als solche zu benennen.[35]

Genau diese Distanzierung – das Ablehnen von Sichtweisen auf Gemeinsamkeiten – fördert die Spaltung in „die WIR“ und „die ANDEREN“, erläutert der Linzer Wirtschaftsprofessor Walter Ötsch in seinem „Handbuch für Demagogie“.[36]

Den von Nietzsche als „Sklavenaufstand der Moral“ bezeichnete Versuch, andere Werte aufzustellen, sehe ich als berechtigten Selbstheilungsversuch gegen die durch Diskriminierung und Ausgrenzung durch die Vertreter der Raubvogelideologie zugefügten Schmerzen. Es ist nur eine Frage der Dauer und Intensität, einen Menschen so lange zu demütigen und ihm dadurch seine Selbstachtung zu zerstören bis er „wild“ wird – das beweisen die gerichtlichen Analysen von Beziehungstaten; allerdings wird von  zumindest während der Begutachtung als zurechnungsfähig eingeschätzten Menschen vorausgesetzt, dass sie auch in Hochstresssituationen vernünftig handeln können – unabhängig davon, welche vergangenen Traumatisierungen ihre Schmerzgrenzen beeinträchtigt haben. Das würde nämlich eine andere Form der Begutachtung, nämlich eine spezifizierte psychotherapeutische, als die übliche psychiatrische erfordern und auch das Rollenverständnis der im Strafverfahren beteiligten Juristen tangieren.

Aber Nietzsche betont: „Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere, dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere.“[37] Und er kommt fast ins Schwärmen, wenn er schreibt: „Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen Verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildnis zurück …“[38] und fast prophetisch: „Das tiefe, eisige Misstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder – ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem Jahrhunderte lang Europa dem Wüthen der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweigedenn eine Blutsverwandtschaft besteht).“[39]

Auch die fatalen Folgen dieser Begeisterung für die „blonde germanische Bestie“ fünfzig Jahre später sind schon in diesem Text von 1887 fest gelegt: „Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit – sie stellen den Rückgang der Menschheit dar! Diese „Werkzeuge der Cultur“ sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen „Cultur“ überhaupt! Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grund aller vornehmen Rassen die Furch nicht los wird und auf der Hut ist: aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr los werden können?“ bekennt Nietzsche, und noch deutlicher: „Nicht die Furcht; eher, dass wir Nichts mehr am Menschen zu fürchten haben; dass das Gewürm „Mensch“ im Vordergrunde ist und wimmelt; dass der „zahme Mensch“, der Heillos-Mittelmässige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als „höheren Menschen“ zu fühlen gelernt hat; – ja dass er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle der Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Gerathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes …“[40]

An die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ durch die Nazis braucht an dieser Stelle nicht erinnert werden – wohl aber an die immer wieder vorkommenden Überfälle von Neonazis aber auch anderen, die Stärke demonstrieren wollen – selbstverständlich nicht an Stärkeren und nicht nach Regeln wie es im Sport möglich wäre – auf Halbwüchsige, Obdachlose, Behinderte und all diejenigen, die von ihnen als minderwertig klassifiziert werden. Je näher man selbst dem sozialen Abstieg steht, desto mehr will man die weg haben, die einem als Gleiche nahe kommen könnten.

Die gegenwärtig wachsende Präsenz von Vandalen, Stupid Slappern[41], Hooligans, so genannten Chaoten und Neonazis im Demonstrieren von Einigkeit und Stärke gemahnt an die Anfänge des Nazi-Terrors; aber unbesehen der sozialen Nachteile, die diese jungen Menschen die „größeren Einheiten“ – nach Freud ja eine der Hauptbestrebungen der Kultur[42] – in diesen Subkulturen suchen lassen und die der Kompensation des Hasses auf die Satten und Etablierten dienen, werden ihre geistigen Scripts von medialen Vorbildern bereichert und bestärkt.

 

Medienwirksamkeiten

Neben die traditionelle Erziehung durch Bezugspersonen aus Familie, Kindergarten und Schule haben sich gegenwärtig die „heimlichen Erzieher“[43] in den Medien primäre Beeinflussungsmacht erwirkt. Dies basiert auf der verführerischen Wirkung der narrativen Form von Botschaftsvermittlungen. Das, was Eltern, Arbeitgeber, Gesellschaft als geheimes Lernziel der Menschenformung durchsetzen wollen, geschieht nicht nur unter Berufung auf Gesetz, Wissenschaft und Tradition, sondern auch „neutral“, d. h. ohne erklärtes Erziehungsziel, in der Unterhaltungspublizistik.

„Zunächst erzählen diese populären Geschichten selbst, was man positive oder negative Bildungen nennen könnte, das heißt die Erfolge oder Mißerfolge, die die Wagnisse der Helden krönen, und diese Erfolge oder Mißerfolge geben entweder gesellschaftlichen Institutionen ihre Legitimität (Funktion der Mythen) oder repräsentieren positive oder negative Integrationsmodelle (glückliche oder unglückliche Helden) in etablierten Institutionen (Legenden, Märchen). Diese Erzählungen erlauben also einerseits, die Kriterien der Kompetenz der Gesellschaft, in der sie erzählt werden, zu definieren, sowie andererseits, mit diesen die Leistungen zu bewerten, die in ihre vollbracht werden oder werden können.“, schreibt Francois Lyotard.[44] In der großen Zahl der in Film, Fernsehen oder Computerspielen angebotenen „Erfolgsmodelle“ dominieren asoziale Verhaltensmuster; man braucht nur die wöchentlichen Fernsehprogramme zu lesen und die angekündigten Kriminalfilme zusammen zu zählen, dann besitzt man bereits einen groben Überblick über diese Nachhilfestunden in Verbrechenskreation. Aber auch wenn man so genannte Komödien darauf hin überprüft, wie oft die Beziehungsdynamik des Machtspiels mit Siegern und Verlierern dargestellt wird, findet man die Verlockung des Publikums, mit sich emotional mit einer Person gegen die andere zu verbünden.

Die narrative Form gestatte eine Pluralität von Sprachspielen, betont Lyotard: „In die Erzählung fügen sich zwanglos sowohl denotative Aussagen, etwa über den Himmel, die Jahreszeiten, die Flora und Fauna, als auch deontische, die vorschreiben, was bezüglich derselben Referenten oder der Verwandtschaft, des Unterschieds der Geschlechter, der Kinder, der Nachbarn oder Fremden usw. zu geschehen hat, als auch interrogative Aussagen, die zum Beispiel in den Episoden der Herausforderung impliziert sind (eine Frage beantworten, ein Element aus einer Menge auswählen), sowie evaluierende Aussagen und viele andere mehr. Die Kompetenzen, deren Kriterien die Erzählung liefert oder anwendet, sind dort also miteinander in einem dichten Geflecht – jenem der Erzählung – vermischt und zu einer Gesamtperspektive geordnet, die diese Art des Wissens charakterisiert.“[45] Die Gefahr bei audiovisuellen Narrationen besteht darin, dass die denotative Story deontischen Charakter annimmt: man sieht so oft, mit welchen Methoden sich jemand durchsetzt und denkt: So also macht man das!

„Kinder lernen am Modell, gerade auch dann, wenn es um die Gewalt geht.“, weiß der Neurobiologe Joachim Bauer. „Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Aggressivität von Kindern und Gewaltbereitschaft von Jugendlichen leisten auch die von Kindern und Jugendlichen genutzten Medienangebote. Über 25 Prozent der 12- bis 19jährigen Jugendlichen in Deutschland haben in Medien Darstellungen von schwerwiegender Gewalt einschließlich Folterqualen, Kannibalismus und Hinrichtungen beobachtet.“, und mahnt unter Zitierung der Quellennachweise, „Kinder, die Gewaltakte sehen, reagieren nicht nur mit einer Aktivierung des neurobiologischen Angst- und Aggressionsapparats, sondern werden – wie eine überwältigende wissenschaftliche Datenlage eindeutig belegt – infolge des Konsums solcher Medienangebote auch selbst vermehr aggressiv.“[46]

Kinder ahmen nach, wenn sie etwas nicht verstehen um heraus zu finden, was es ist. Jugendliche und Erwachsene ahmen nach, wenn ihnen vorgemacht wird, dass etwas angenehme Gefühle vermitteln wird. Darauf basiert Werbung, nicht nur die für Produkte oder Dienstleistungen, darauf basieren aber auch die Strategien, die Aufmerksamkeit binden und Konkurrenzen abweisen wollen – beispielsweise die Konkurrenz anderer audiovisueller Inhalte.

Bei Szenen der Gewalt – wenn also eine Person eine andere demütigt, bedroht, verletzt, vernichtet – stellt sich die Frage, mit welcher der handelnden Personen sich die beobachtende identifiziert. Ich habe in den Jahren, in denen ich Führungskraft im Verein Jugendzentren der Stadt Wien war, oft registrieren können, wie Vorschulkinder mutig ihre Mütter gegen verbale Angriffe, die sie oft nur atmosphärisch erkannt haben konnten, verteidigen wollten. Und ich habe in meiner psychotherapeutischen Praxis immer wieder erfahren, wie stark traumatisierend Streit zwischen Eltern noch im Erwachsenenalter nachwirkt: das Kind steht dann im Dilemma, dem eigenen Gefühl zu folgen oder, was meist der Fall ist, sich mit dem Aggressor zu identifizieren: es hat die Unschuld verloren – das meint, es weiß bereits, was ihm selbst geschehen wird, wenn es in Opposition zu der jeweiligen gewalttätigen Person gerät.

Diese Identifikation mit dem Aggressor kann unbewusst auch beim Zusehen von Gewaltszenen eintreten, wenn das Erlebte nicht kritisch besprochen wird (was eine besondere pädagogische „Technik“[47] erfordert um nicht als moralisierend abgewehrt zu werden); dann wird meist bei Vorliegen von entsprechenden – visuellen, auditiven, olfaktorischen oder taktilen – Triggern unbewusst das neuronal eingespeicherte Verhaltensmuster wiederholt.

Findet  jedoch keine Identifikation statt, werden also die „Vor-Bilder“ nur emotional unbeteiligt konsumiert, wird auch dieses „distanzierte“ Verhalten wiederholt und erklärt den häufigen Bystander-Effekt bei Unfällen oder anderen Krisensituationen.

 

Verliebtheiten

„Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden“, schreibt Sigmund Freud, „wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“[48]

Dass Außenfeinde von internen Konflikten ablenken, wissen Lehrkräfte, wissen Ehepartner, wissen Sporttrainer, wissen Staatslenker. Dies ist aber nur eine Möglichkeit, liebesähnliche Bindungen herzustellen – denn auch mittels Ritualen, Gesetzen und Medienvorbildern wird versucht, haltbare „Konjugationen“ herzustellen.

Freud sah noch in der „Erfahrung, dass die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die stärkste Befriedigungserlebnisse gewähre“[49] das eigentliche Vorbild für alles Glück. Allerdings räumte er auch ein, dass eine Minderzahl von Menschen sich von der Zustimmung ihres Objekts unabhängig machen könnte, „indem sie den Hauptwert vom Geliebtwerden auf das eigene Lieben verschieben.“[50] Freud erklärt dies weiter, „sie schützen sich gegen dessen Verlust, indem sie ihre Liebe nicht auf einzelne Objekte, sondern in gleichem Maße auf alle Menschen richten …“ und vermutet solch eine seelische Haltung bei Franz von Assisi.[51] Dem füge ich bei, dass es auch möglich ist, eine einzelne Person ohne deren Zustimmung zu lieben (und ohne sie zu stalken), indem man erkennt, dass man die Neurosignatur der Liebe auch ohne die reale Anwesenheit dieses Menschen aktivieren kann.[52]

Ob nämlich auf diese Weise Angst vor Liebesverlust vermieden werden kann oder die Resignation über den immer noch nagenden Liebesmangel aus Kindheit und Jugend kompensiert wird, ist letztlich egal, wenn man erkennt, dass die Neurophysiologie der Liebe eigenbestimmt ausgelöst werden kann und gleichzeitig die Libido auf das Objekt der Augenblickswahl gerichtet. Auch das ist Kultur: die Weiterentwicklung der Liebeskräfte über den biologischen Zeugezwang oder seine medial vorgeführten Imitationsaktionen hinaus.

„Die Kultur fordert fortgesetzte Sublimierung;  dadurch schwächt sie den Eros, den Errichter der Kultur.“, schreibt Herbert Marcuse, „Und die Desexualisierung entfesselt durch die Schwächung des Eros die destruktiven Kräfte.“[53]

Aus meiner sowohl psycho- als auch sozialtherapeutischen Erfahrung ist diesen Sichtweisen nur bedingt zuzustimmen. Verliebtheit findet nämlich nicht nur zwischen zwei Menschen statt, sondern die Libido kann sich auch auf eine Gemeinschaft – das würde psychoanalytisch als Fixierung in einem prägenitalen, beispielsweise pubertären Stadium gedeutet werden – oder auch auf alles Mögliche richten wie etwa narzisstische Erweiterung der Selbst durch ein Fortbewegungsmittel (früher Pferde, heute etwa Kraftfahrzeuge). Oder auch auf Arbeit und Arbeitsähnliches.

„Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen.“, konstatiert Sigmund Freud.[54] Ein analoges Phänomen zeigt sich im „workers high“, mit dem oft eine spätere Arbeitssucht beginnt. Workaholismus zählt zu den Süchten ohne Drogen[55], korrekt müsste formuliert werden: ohne von außen zugefügten Drogen, denn es werden ja oft – nicht immer – körpereigene Drogen frei gesetzt. Man berauscht sich quasi an der eigenen Kreativität oder Disziplin, kurz Leistungsfähigkeit (und schlittert oft unbemerkt ins Burnout).

Eine ähnliche Wirkung kann aber auch über die hypnoide Verschmelzung innerhalb einer hoch emotionalisierten Gruppe erzielt werden; darauf basieren gezielte „Aufführungen“ wie beispielsweise bei religiösen oder pseudoreligiösen, nämlich politischen Inszenierungen oder ungeplante wie bei Sportevents. Aber auch durch unbewusste Identifikation mit Medienhelden wie Terminator, Rambo oder J. R. Ewing[56] und Gordon Gekko[57] kann solch ein Hochgefühl[58] – ein hypomanischer Zustand, mit dem depressive Verstimmungen kompensiert werden – ausgelöst werden, und wenn dazu noch eine akklamierende Peer Group tritt, bekommt die Unkultur eine kaum zu stoppende Eigendynamik.

In beängstigender Voraussicht sah Freud allerdings ähnlich neurotische Entwicklungen wie bei Einzelpersonen für  „manche Kulturen“ oder „Kulturepochen“. Wenn auch heute gesellschaftlich kaum noch sexueller Triebverzicht, den er ja als Verursacher von Neurosen ansah[59],  gefordert wird, sondern Neurosen auf Mikro- und Makrotraumen zurückgeführt werden (inklusive der allgegenwärtige Bewertungen und Sexualisierungen), scheint die von Freud angesprochene Sinnhaftigkeit der „Übertragung der Psychoanalyse auf die Kulturgemeinschaft“ [60] noch immer an der Abwehr der „Diagnose der Gemeinschaftsneurosen“[61] zu scheitern.

Als die Tabus, die in der Ätiologie solch einer Diagnose berührt würden, wären wohl die  wachsende Überforderung der zur Erziehung von Kindern berufenen Personen, die sich in Vernachlässigung – um nicht zu sagen Flucht vor der Verantwortung – ausdrückt und damit Vorbildwirkung erreicht, und die ausufernde Kommerzialisierung menschlicher Beziehungen zu nennen.

Freud resigniert: „Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von seiner als ,normal‘ angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher entfällt bei einer gleichartig affizierten Masse, er müßte anderswoher geholt werden. Und was die therapeutische Verwendung der Einsicht betrifft, was hülfe die zutreffende Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen?“[62]

Bleibt also nur abzuwarten,  ob es vielleicht einem ebenso radikal formulierenden Kulturkritiker wie Nietzsche mit kommerziell-medialer Verstärkung gelingt, hier eine neue „Umwertung der Werte“ auszulösen.

 

 Literaturangaben

Bauer Joachim, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Blessing Verlag, München 2011.

Blackburn Simon, Wahrheit. Ein Wegweiser für Skeptiker.  Primus Verlag,  Darmstadt 2005.

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Eliacheff Caroline, Das Kind, das eine Katze sein wollte. Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern.  Verlag Antje Kunstmann, München 1994.

Freud Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud Studienausgabe Bd. IX Fragen der Gesellschaft / Ursprünge der Religion, S. Fischer  Verlag, Frankfurt/ Main 1974 (10. Korrigierte Auflage), S. 191 – 270.

Gross Werner, Sucht ohne Drogen. Arbeiten, Spielen, Essen , Lieben … Fischer Taschenbuch Verlag,  Frankfurt/ M.  1990.

Hüther Gerald, Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher. S. Fischer Verlag, Frankfurt/ M. 2011 (4. Auflage).

Lewin Bertram D., Das Hochgefühl. Zur Psychoanalyse der gehobenen, hypomanischen und manischen Stimmung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.  1982.

Lyotard Jean-Francois, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Passagen Verlag, Wien 1999.

Marcuse Herbert, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Suhrkamp Verlag, Frankfurt / M. 1987 ( 74. Und 75. Tausend).

Nietzsche Friedrich, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse / Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999/ 2012 (12. Auflage), S. 245 – 412.

Ötsch Walter, Haider light. Handbuch für Demagogie.  Czernin Verlag, Wien 2000.

Perner Rotraud A., Der erschöpfte Mensch. Residenzverlag, St. Pölten 2012.

Perner Rotraud A., Die Überwindung der Ich-Sucht. Sozialkompetenz und Salutogenese. Studienverlag, Innsbruck 2009.

Perner Rotraud A., Heute schon geliebt? Salutogenese & Sexualität. Aaptos Verlag, Wien 2007, Taschenbuchausgabe Edition Rösner, Mödling 2012.

Richter Dieter / Vogt Jochen (Hg.), Die heimlichen Erzieher. Kinderbücher und politisches Lernen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1974.

Roy Oliver, Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Siedler Verlag, München 2010.

Störig Hans Joachim, Kleine Weltgeschichte der Philosophie 2, Fischer Bücherei, Frankfurt/ M. und Hamburg 1969.

Warburton Nigel, Philosophie: Die Klassiker. Von Platon bis Wittgenstein. Rowohlt Taschenbuch Verlag,  Reinbek 2000.

Zehentbauer Josef, Körpereigene Drogen. Due ungenutzten Fähigkeiten unseres Gehirns. Artemis & Winkler Verlag, München und Zürich, 1992 (2. Auflage).

 

Fußnoten

[1] O. Roy, S. 32

[2] S. Freud, S. 208 f.

[3] Vgl. J. Zehentbauer, Körpereigene Drogen.

[4] A. a. O., S. 210.

[5] Vgl. R. A. Perner, Der erschöpfte Mensch.

[6] S. Freud, S. 233.

[7] A. Bolz, S. 75.

[8] Vgl. C. Eliacheff, Das Kind, das eine Katze sein wollte.

[9] G. Hüther, S. 67.

[10] J. Bauer, S. 64.

[11] A. a. O., S. 65.

[12] H. Marcuse, S. 30 ff.

[13] S. Freud, S. 232.

[14] H. Marcuse, S. 59.

[15] A. a. O., S. 64.

[16] A. a. O., S. 69.

[17] A. a. O., S. 71.

[18] S. Freud, S. 234.

[19] H. Marcuse, S. 69.

[20] J. Bauer, S. 109.

[21] Das Theorem „Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich“ geht auf den amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas (1863 – 1947) zurück.

[22] J. Bauer, S. 14.

[23] H. J. Störig, S. 208.

[24] A. a. O., S. 198.

[25] S. Blackburn, S. 90 f.

[26] Zitiert nach S. Blackburn, S. 13.

[27] A. a. O., S. 17.

[28] Vgl. R. A. Perner, Die Überwindung der Ich-Sucht.

[29] J. Bauer, S. 93.

[30] A. a. O., S. 97.

[31] Dieser besteht darin, von dem, was etwas auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung war, linear auf das zu schließen, was gegenwärtig ist ohne die allfälligen Abweichungsmöglichkeiten mit ins Auge zu fassen. (N. Warburton, S. 200)

[32] N. Warburton, S. 202.

[33] F. Nietzsche, S. 259.

[34] Ds.

[35] Ds.

[36] W. Ötsch, S. 15 ff.

[37] F. Nietzsche, S. 279.

[38] A. a. O., S. 275.

[39] A. a. O. S. 275 f.

[40] A. a. O., S. 276 f.

[41] Wortschöpfung eines meiner Studenten, der damit die Formulierung „happy slapping“ – gewalttätige Überfälle, die filmisch dokumentiert und quasi als Heldentat  ins Internet gestellt werden – ad  absurdum führen will.

[42] S. Freud, S. 232.

[43] Vgl. D. Richter/ J. Vogt (Hg.), Die heimlichen Erzieher.

[44] F. Lyotard, S. 68.

[45] F. Lyotard, S. 68 f.

[46] J. Bauer, S. 85.

[47] Damit beziehe ich mich auf die von dem Wiener Psychoanalytiker Harald Picker erfundene „regressive Kommunikation“, die auch erweitert in der von mir erfundenen Methode PROvokativpädagogik zur Anwendung gelangt.

[48] S. Freud, S. 243.

[49] A. a. O., S. 231.

[50] Ds.

[51] Ds.

[52] Vgl. R. A. Perner, Heute schon geliebt?

[53] H. Marcuse, S. 85.

[54] S. Freud, S. 199.

[55] Vgl. W. Gross, Sucht ohne Drogen.

[56] Der Bösewicht aus der Fernsehserie „Dallas“ gespielt von Larry Hagman.

[57] Der Bösewicht aus dem Film „Wall Street“, gespielt von Michael Douglas.

[58] Vgl.  B. D. Lewin, Das Hochgefühl.

[59] S. Freud, S. 218.

[60] A. a. O., S. 269.

[61] Ds.

[62] Ds.