Rotraud A. Perner
09-04-2012

RITUS  UND  GEMEINSCHAFT

Tiefenpsychologische Überlegungen zu Erleben und Verhalten der ersten Christen
(in Gerd Theißen)

 

 Der einfacheren Lesbarkeit wegen wurden durchgängig die männlichen Sprachformen gewählt – sie sind geschlechtsneutral zu verstehen.

 

Inhalt

  1. Kommunikation und Symbolisierung
  2. Rituale
  3. Tranceinduktionen und erweiterte Wahrnehmung
  4. Kraftübertragungen  
  5. Taufe als „Stirb und Werde“
  6. Abendmahl als Opfer oder Mahnung
  7. Sekten
  8. Literatur

 

  1. Kommunikation und Symbolisierung

Alle sozialen Beziehungen sind auf wahrnehmbare Zeichen angewiesen, die nach berechenbaren Mustern ablaufen, erinnert Gerd Theißen; dabei sind bei gemeinschaftsbildenden Ritualen (es gibt ja auch autosuggestive!) „syntaktisch“ Zeichenverknüpfungen nach gleich bleibenden Mustern erkennbar, die mit ihrer dadurch festgelegten Wiederholbarkeit ermöglichen, „aus der Zeit auszusteigen“. Deswegen benötigen sie feste, unveränderliche Regeln und suggerieren damit „Ewigkeitsgeltung“. Riten lösten euphorische Gefühle aus, schreibt Theißen, und aktivierten ein biopsychisches Erbe, das Menschen gegen den „Terror von Vergänglichkeit und Tod“ schütze, denn: „Sie  ermöglichen den Eintritt in einen ,anderen Zustand’, der von gehobener Stimmung über Trance bis hin zur Ekstase führen kann.“[1]

Geht man nun davon aus, dass Wahrnehmen ein „in hohem Maß konstruktivistischer Prozess“ ist, der „auf Vorwissen beruht“, wie der  Hirnforscher Wolf Singer formuliert[2], setzen auch Reaktionen in „anderen Zuständen“ neuronale Verschaltungen als Grundlagen voraus. Verfolgt man einschlägige Überlegungen, so wird in der „ funktionellen Architektur“[3] des Gehirns gesucht. Verständlich, wenn man dank der bildgebenden Verfahren die Möglichkeit erlangt hat, das lebende Gehirn in Aktion zu beobachten. Woher stammt aber das Vorwissen für die zitierten „anderen Zustände“, in die man durch den Vollzug von Ritualen gelangen kann?

Auf Grund der Beobachtung der Auslösung von Spiegelnervenzellen mittels der computergestützten Gehirnforschung[4] läge nahe, unbewusste Gleichschaltung mit Bezugspersonen, etwa einer ein Ritual leitenden Person, anzunehmen. Woher aber stammt deren Zugang dazu? Ich beantworte diese Frage mit zwei Gedanken: primär, vermute ich, dass das „Vorwissen“ aus der vorgeburtlichen Zeit stammt, und sekundär, dass es durch zufälliges Eingleiten in eine „Alltagstrance“ wieder belebt werden kann. Wird der Entstehungsweg reflektiert und mit sprachlichem Ausdruck verbunden, kann es der Zufälligkeit enthoben und damit bewusst „vorgemacht“ werden.

Denkprozesse seien kein Ergebnis der natürlichen Evolution oder der Entwicklung des inneren geistigen Lebens, so der französische Gesellschaftswissenschafter Émile Durkheim (1858 – 1917), sondern gesellschaftlich bedingt, schreibt der als Begründer der Neuropsychologie anerkannte Neurochirurg Alexander Lurija (1902 – 1977); Lurija distanziert sich damit von der Ansicht des französischen Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl (1857 – 1939), der das „primitive“ Denken  als „vorlogisch“ und „unorganisiert“ annahm, das keine logischen Widersprüche kenne und natürliche Erscheinungen auf mythische Kräfte zurück führe, und schloss sich der Erkenntnis  des britischen Sinnesphilologen William H. Rivers (1864 – 1922) an, der Hauptunterschied bestehe allein darin, dass Tatsachen der äußeren Welt anderen als den uns vertrauten Kategorien zugeordnet würden[5].  Als sich nach der Oktoberrevolution die alte Klassenstruktur in Russland auflöste und in vielen Dörfern Schulen eröffnet wurden, bot dies Lurija die Möglichkeit, die praktischen Tätigkeiten, Umgangsformen und Weltanschauungen von Analphabeten und Analphabetinnen, aktiven Kolchosemitgliedern, die nur kurze Schulungen absolviert hatten und Frauen, die Lehrgänge für Kindergärtnerinnen besucht hatten sowie Studentinnen, die nach zwei- bis dreijähriger Ausbildung ins Lehrerseminar aufgenommen wurden, zu vergleichen.[6] Er konnte dabei seine Haupthypothese von der sozialen und kulturellen Abhängigkeit der Erkenntnisprozesse überprüfen; er studierte, wie diese Menschen Grundkategorien ihrer visuellen Erfahrung, etwa Farbe und Form, sprachlich kodierten und wie sie Klassifikationen und Abstraktionen entwickelten.[7] Nur Versuchspersonen mit elementaren Lese- und Schreibkenntnissen gaben den gezeigten geometrischen Figuren auch geometrische Bezeichnungen, alle anderen benannten diese mit Alltagsgegenständen und benutzten auch keine Farbbezeichnungen sondern Namen für ähnlich gefärbte Gegenstände aus ihrer Umgebung.[8]  Kategoriales Denken, so Lurija,  spiegle die gesellschaftliche Erfahrung wider, die im System der Sprache ihren Ausdruck finde: „So werden allmählich die funktional-bildhaften Operationen im Denken durch semantische und logische ersetzt, in denen Wörter die wichtigsten Mittel der Abstraktion und Verallgemeinerung darstellen.“[9]

Wenn nun aber Menschen derart „schulisch“ zu logischen Denkprozessen herangebildet werden,  was den Zugang zu „anderen Zuständen“ eher verhindert – wie wird ihnen dann dieser Zugang wieder ermöglicht?

 

  1. Rituale

Durch die Zeichenverknüpfungen nach stetig gleich bleibenden Mustern (Syntax) bei gleichzeitiger Vermittlung einer bedeutsamen Botschaft wie etwa der Beziehung zu Gott  (Semantik) schaffen Rituale „Bindungen“ bzw. Ab- und Ausgrenzungen zu bzw. von Uneingeweihten (Pragmatik), entschlüsselt Gerd Theißen deren Wirksamkeit.[10]

Arnold van Gennep unterscheidet in seiner Zusammenstellung zeremonieller Sequenzen, „die den Übergang von einem Zustand in einen anderen oder von einer kosmischen bzw. sozialen Welt in eine andere begleiten“ die besondere Kategorie der „Übergangsriten“, die er in Trennungsriten, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten und Angliederungsriten differenziert.[11] Zustand bedeutet bei ihm psychosozialer Status in der Gemeinschaft. Ich möchte mein Augenmerk aber auf die begleitende innerseelische Wahrnehmung richten, die meiner Ansicht nach durch Rituale hervorgerufen bzw. verstärkt werden soll; denn auch wenn im Sinne van Genneps Erwachsenentaufe als Trennungs- und Angliederungsritus[12] und Totengedenkmahl (als Pendant zum Abendmahl) primär als Angliederungsritus[13] zu verstehen wäre und man daher davon ausgehen kann, dass bei erstmaligem Erleben solch eines Rituals andere als Alltagsbefindlichkeiten erlebt werden, kann angenommen werden, dass damit nicht das „episodale“ Gedächtnis[14] mit seinen intensiveren Gefühlen gespeist wird, sondern nur das „semantische“ oder auch nur das „prozedurale“. Deswegen unterscheidet Theißen bei religiösen Riten auch moderatreligiöse und extremreligiöse Ritualformen[15].

Um aus einem Gemeinschaftserleben nachhaltige Bindung entstehen und sich zu einem „episodalen“ Gedächtnisinhalt vertiefen zu lassen, genügt die Abfolge von Handlungen und insbesondere Worten nicht; van Gennep schreibt: „Während der meisten der hier behandelten Zeremonien und vor allem während der Umwandlungsphase werden Spezial- bzw. Geheimsprachen gesprochen, die manchmal ein den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft völlig unbekanntes oder zumindest ungebräuchliches Vokabular umfassen, manchmal auch lediglich in dem Verbot bestehen, bestimmte Wörter der Alltagssprache zu benutzen.“ Als ähnliche „normale“ Differenzierungsvorgänge nennt er auch Kleiderwechsel, Mutilationen (rituelle Körperverletzungen) oder Nahrungstabus.[16]

 

  1. Tranceinduktionen und erweiterte Wahrnehmung

Theißen verweist auf  Plutarch, nach dem Riten Deutungsworte, Handlungen und Gegenstände umfassen. Durch die Deutungsworte gewinnen die Handlungen „symbolischen Mehrwert“ und werden als Zeichen auf die „andere Wirklichkeit“ bezogen; ebenso verlieren Gegenstände, aber auch Orte und Gebäude ihren alltäglichen Gebrauchsstatus.[17] Theißen betont auch, dass nicht allein die Handlungen bei Taufe und Abendmahl , sondern vor allem die Verbindung mit dem Mythos – der „Grunderzählung“ – funktionell wirken.[18]

Sondersprachen bestehen aber nicht nur in besonderen Worten, sondern auch in einer Sondergrammatik und in besonderen Sprechweisen. So erwähnen Grinder und Bandler die Effizienz von Monotonie und Wiederholungen[19], verlangsamten Sprechtempo und damit auch tieferer Stimmlage.[20] Sie schreiben: „Man kann Trancezustände auch so beschreiben, dass man sagt, jemand ist unabhängig von seinen gegenwärtigen Raum/ Zeit- Koordinaten. … Die einzige Verbindung zwischen der Person und ihren gegenwärtigen Raum/ Zeit – Koordinaten ist Ihre Stimme, hinsichtlich aller anderen Dimensionen ist sie ganz woanders.“, und sie erklären: „mittlerweile starren in der ganzen Welt Leute auf einen leeren Stuhl und sehen dort ihre Mutter oder ihren Vater, sprechen mit ihnen und hören die Antworten. Das sind positive Halluzinationen, visuelle und auditive. Sie sind Begleiterscheinungen tiefer Trance, sind aber nicht als solche gekennzeichnet, so dass auch gar kein Widerstand aufkommt.“[21] Ergänzend dazu kennt die Hypnotherapie nach Milton H. Erickson (1901 – 1980) die so genannte Konfusions- oder Verwirrtechnik Der Ericksonschüler Stephen Wolinsky erklärt die „Verwirrung“ als einen Übergangszustand, in den ein Mensch aus seinem wirklichen selbst heraus und hinein in die Schaffung defensiver oder kompensatorischer Identitäten wechselt.[22]  „Verwirrung“, so schreibt er, „liefert den Bewusstseinwechsel, aus dem heraus die verarbeitenden Mechanismen der neuen Identität ausgewählt werden.“[23] Theißen zeigt: das Entscheidende geschieht durch innere Imagination, durch Glauben[24].

Die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, fühlt und handelt, ist ausschlaggebend dafür, welche Nervenzellenverschaltungen – und damit inneren Bilder (Repräsentationen) – in seinem Gehirn gefestigt und ausgebaut bzw. gelockert und aufgelöst wird, weiß der Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim / Heidelberg, Gerald Hüther (* 1951).[25] „Wohl am deutlichsten offenbart sich die Macht der inneren Bilder am Beispiel der großen Religionsstifter“, schreibt der Hirnforscher. „Vor über zweitausend Jahren in den Köpfen einiger besonders begabter Visionäre entstanden, erwuchsen daraus die mächtigen Ströme der heutigen Weltreligionen.“, und er fragt, ob nicht die ganze Menschheitsgeschichte nur aus dem Umstand resultierte, dass bestimmte Visionen Einzelner in die Hirne unzählbar vieler Menschen übersprangen und zu handlungsleitenden, individuellen wie auch kollektiven inneren Orientierungen und Leitbildern ganzer Epochen und Kulturen wurden.[26] Der Jesuit Hans Goller (* 1942), langjähriger Professor  für christliche Philosophie an der Universität Innsbruck, zitiert Andrew Newberg, der als Begründer der Neurotheologie gilt,  mit den Sätzen: „Indem wir die mystische Erfahrung als neurologische Funktion erklären, wollen wir aber nicht zu verstehen geben, dass sie nicht auch etwas anderes sein könnte.“ Und: „Wer spirituelle Erfahrung als ,bloße’ neurologische Aktivität abtun wollte, müsste auch all den Wahrnehmungen der materiellen Welt durch das eigene Gehirn misstrauen.  Wenn wir aber unseren Wahrnehmungen der dinglichen Welt trauen, haben wir keinen triftigen Grund, spirituelle Erfahrungen zu einer Fiktion zu erklären, die ,nur’ im Kopf existiert.“[27]

 

  1. Kraftübertragungen

Hypnoide Zustände zeichnen sich fast immer durch Tiefentspannung aus; man ist dann offener, was bedeutet, Muskeltonus wie auch innerseelische Zensur sind herabgesetzt, die Durchblutung verstärkt (was zB in unpassenden Situationen wie dem Gottesdienst oder der therapeutischen Arbeit sexuelle Phantasien auslösen kann – oder auch soll: van Gennep beschreibt mythische Vorstellungen von „Übertragung der männlichen Kraft des starken Kriegers auf den Epheben, der ihm zur militärischen und staatsbürgerlichen Erziehung zugeteilt ist“ durch homosexuelle Praktiken[28]), man kann Botschaften – verbale aber auch nonverbale – leichter  aufnehmen aber auch abgeben.

Auch der hungaro-britische Psychoanalytiker Michael Balint (1896 – 1970), von dem der Ausdruck von der „Droge Arzt“ stammt, beschäftigte sich damit, wie sehr unbewusst quasi ritualisiertes Verhalten des Analytikers den Veränderungsprozess der Patienten beeinflusst[29]; er setzte dies aber auch in Beziehung zu der Tatsache, dass es – jenseits von Fetischisierungen – eine Übertragung auf unbelebte Gegenstände gibt und dass sich dies auch ohne Beihilfe einer zweiten Person vollziehen kann[30]. Mit Theißen könnte man formulieren, der Analytiker als wichtige Bezugsperson erhält semantische Qualität, und daraus schließen, auch ein Priester oder anderer „religiöser Experte“ bewirke den gleichen Effekt.

Das Urchristentum habe einen Begriff für die ihm eigenen religiösen Erfahrungen geprägt, schreibt Theißen, nämlich „Pneuma“; dieses sei einerseits die „ständige Ausstattung aller Christen“ und andererseits als normal- und grenzreligiöses Phänomen der „Einbruch einer irrationalen Macht in das Leben“. Dieser Begriff besitze drei Dimensionen: Kontaktaufnahme mit Gott, Kraft der Gemeinschaft und Motivation zu einem neuen, ethischen Leben.[31] Aus psychotherapeutischer Sicht lässt sich dieses Erleben mit dem verbinden, was der austro-amerikanische Philosoph und Psychologe Eugene Gendlin (* 1926 als Eugen Gendelin in Wien, 1938 Emigration in die USA, 2007 Großer Preis des Viktor-Frankl-Fonds der Stadt Wien für sein Gesamtwerk einer sinnorientierten humanistischen Psychotherapie) den „felt sense“[32] nennt; der Felt Sense ist keine Emotion und er ist auch viel mehr als das, was in der Lernpsychologie „Aha-Erlebnis“ bezeichnet wird. Gendlin schreibt, ein Felt Sense sei die physische Wahrnehmung einer „Idee“.[33] Er versucht eine Erklärung für die Leserschaft mit den Worten: „Ihr physisch fühlbarer Körper ist im Grunde Teil eines unermesslichen Systems, das Raum und Zeit, Sie selbst und andere Menschen, kurz, das ganze Universum umfasst. Diesem umfassenden Ganzen fühlt sich Ihr Körper zugehörig.“[34] Der Focusing- Prozeß basiert auf einem sechsschrittigen Frage-Ritual, den Selbstgewahrsam weg vom kognitiven Denken auf vertiefte Körperwahrnehmung zu lenken. In dem dadurch ausgelösten leichten Hypnoid kann der „Sinn“ von plötzlich bewusst spürbaren physischen „Zeichen“ erkannt und genutzt werden. Fremd angeleitet erinnern die dazu eingesetzten Suggestivworte an numinose Aufforderungen zur Selbsterkenntnis und Umkehr; Focusing kann aber bei einiger Routine auch autosuggestiv eingesetzt werden.

Die Sinngebung, die sich aus diesem Wort-Ritual hervorschält, weist einen Weg, das, was bisher als bedrückend – „nicht stimmig“ – erlebt wurde, durch das Zeichen, das am Ende des Prozesses erkennbar wird, „umzustimmen“. Es liegt am jeweiligen Therapeuten, ob er die spirituelle Dimension, die sich in diesem Vorgehen auftut, selbst wahrnimmt und auch anzusprechen wagt. Parallelen zur Erwachsenentaufe und dem Liebesgebot in der Abschiedsrede Jesu sind auffällig – vor allem, wenn mit „ganzem Herzen“ – also mit Körper, Seele und Geist – reagiert wird.

Es wäre falsch, die neue rituelle Zeichensprache von Taufe und Abendmahl auf diese beiden Riten zu begrenzen,  warnt auch Gerd Theißen, vielmehr fänden sich daneben noch viele non-verbale Gesten und Handlungen, die rituellen Charakter besäßen, und durch die wichtige Teile des Körpers semantische Qualität erlangten; wie der Kopf bei der Salbung erhielten die die Hände in der Handauflegung besondere Bedeutung, die Füße stünden im Zentrum der Fußwaschung, der Mund beim „heiligen Kuss“ und die Zunge zeigt in der Glossolalie Ausdruck ekstatischer Zustände, fernab der alltäglichen Zweckbindung.[35]

Küssen hat seinen Ursprung in einem mütterlichen Verhalten, bei dem die Mutter während des Entwöhnungsprozesses vorgekaute Nahrung an ihr Kleinkind weitergibt, erklärt der Verhaltensforscher Desmond Morris (* 1928); es schafft eine frühe Verbindung zwischen der Lippenberührung und der Belohnung, von der Mutter gefüttert zu werden.[36] Was Morris aber zur Zeit der Abfassung seines Grundsatzbuches nicht zu wissen schien (und auch damals der naturwissenschaftliche Beweis noch nicht vorlag wie er heute mittels Biofeedback-Geräten und computergestützter Gehirnforschung, aber auch durch simple Blutanalysen erbracht werden kann), ist die gleichzeitige Energieübertragung von sendender an empfangende Person, heute ein Forschungsgebiet in der Ethnomedizin bzw. auch Ganzheitsmedizin (beispielsweise in der Überprüfung schamanistischer Heilweisen oder bei „Touch of Health“). Wenn daher Desmond Morris schreibt, dass sich Menschen beim Gähnen die Hand vor den Mund halten, liege daran,  dass man vormals fürchtete, bei weit geöffneten Mund könne die Seele entweichen bzw. umgekehrt könnten böse Geister eindringen, so muss man heute zwischen messbaren neuronalen Übertragungsphänomenen und blankem Aberglauben differenzieren: „Einige religiöse Sekten glaubten, das Gähnen sei eine List des Teufels, und statt ihren Mund mit der Hand zu bedecken, schnippten sie so laut sie konnten, mit den Fingern, um das böse Wesen zu verscheuchen.“ In manchen Teilen Südeuropas bekreuzigten sich Christen noch heute, wenn sie gähnen[37].

Das Öffnen des Mundes kann also – materiell wie virtuell – Eintrittspforte für Wohlbekömmliches wie Toxisches sein. Nur im Singen kann der Mund offen sein und Töne heraus lassen – aber nichts herein!

Es hängt daher vom „Geist“ – d. h. von dem in den Neurotransmittern transportierten Sinn – ab, welche Energie vom Sender an die Empfänger vermittelt wird, wenn jemand andere „nährt“. Auch Ingeborg Clarus verweist auf die Kraftübertragung im letzten Abendmahl: „Das Brot und der Wein werden in diesem Augenblick zum Symbol für die Lebenssubstanz Jesu, die er den Seinen in größter Verdichtung weitergibt: Nehmet diese Substanz, ,esset’ und ,trinket’ sie; verinnerlicht das, was ich euch ein Leben lang in Bildern und Gleichnissen gegeben habe, als mein Vermächtnis.“, und: „Das ,Blut’ also meint den Lebenskern, das ,Herzblut’, das ,Innerste’. Und dieses ,Innerste’, wertvollste eines Menschenlebens, das wissen wir, ist die vergebende Liebe, Das ,Brot’ aber ist unser lebendiger Leib, aber bereits in verwandelter Gestalt, denn das Korn wird nach der Ernte gemahlen, zu Teig verarbeitet und dann gebacken. Das sind lauter Verwandlungen, die im Bild des Brotes das Wesentliche ausmachen.“[38]

Gerd Theißen schränkt ein, dass Rituale nur einen Teil der religiösen Zeichensprache bilden, man daher nach ihrem Proprium gegenüber Lehre und Ethos fragen müsse. Seine Antwort lautet, es sei die „Inkarnation“ in leiblichen Vollzügen.[39] Ich ergänze in Hinblick auf meine Erfahrungen als u. a. auch Focusing-Therapeutin: in „ganzheitlichen“ leiblichen Vollzügen. Denn egal ob man kognitiv oder emotional, physisch oder intuitiv wahrnimmt, alles wird vom Zentralnervensystem bewirkt, und auch wenn manche Neurotheologen nachweisen wollen, dass religiöses Erleben nur Aktivität des linken Schläfenlappens sei[40], übersehen sie, dass immer der ganze Mensch mit seinem ganzen (verfügbaren) Gehirn erlebt – und zwar das, wofür er Wahrnehmungsneurone besitzt (oder aktuell neue bildet, denn, wie Gerald Hüther formuliert:  für die wesentlich tiefer reichende  Einbettung eines erlebten Bildes in die innere Gefühls- und Körperwelt müssen immer schon ältere, früher entstandene innere Muster da sei, an die das neue Muster gewissermaßen angehängt werden kann.[41] Ich ergänze dazu: es kann aber ein Mensch mittels gezielter Energieübertragung – klassisches Beispiel: die liebende Mutter mit dem „Glanz ihrer Augen“ – die  Bildung analoger Spiegelnervenzellen auslösen; wenn dazu erklärende Worte ausbleiben, kann das Erlebte zwar imitiert, aber nur rudimentär kommuniziert werden. Das ist vielfach bei religiösen Erfahrungen der Fall.).

 

  1. Taufe als „Stirb und Werde“

Gerd Theißen bezeichnet die Taufe als „geniale Ritenschöpfung“ eines Einzelnen, und zwar Johannes des Täufers: Reinigungsriten dienten überall dazu, Menschen kultfähig zu machen, nämlich für die Kontaktaufnahme mit Gott. Sie bewirken Angstabwehr. Angst vor Unreinheit taucht immer dort auf, wo die „Grenzen des Lebens“ berührt werden (Geburt und Tod, Spermata und Menstruationsblut). Jede Geburt findet in der Nähe des Todes statt, erinnert Theißen – was jede Frau weiß, die schon einmal geboren hat – und ist mit Blut verbunden, bedeutet daher im Geiste des Judentums Unreinheit.[42] Die Hinweise Theißens auf psychoanalytische Entschlüsselungen der Reinigungsriten als kollektive Waschzwänge, mit denen die Angst vor Unreinheit (oder unaufgearbeitete Schuld[43]) bearbeitet werden konnte und auf die gleichsam therapeutische Beziehung zum Täufer als kompetenter charismatischer Bezugsperson, machen die darin nebst dem öffentlichen Sündenbekenntnis wichtigsten  Bedingungen für Verhaltens- und Erlebensänderungen offenbar. Die Taufe beendet demnach quasi als Therapeutikum den Wiederholungszwang.[44]

Dazu eine Anmerkung aus über 40 Jahren beratender und psychotherapeutischer Praxis: in der konkreten Arbeit mit Personen mit Waschzwängen habe ich nie Angst vor (geistiger) Unreinheit gefunden, sondern immer nur konkrete Verletzungen der leibseelischen Integrität, die aus Selbstschutz vor ungläubigen oder verdammenden Nächsten nicht „bekannt“ (im Doppelsinn des Wortes!) werden durften. Sehr wohl kenne ich hingegen präventive Angstmache mit Drohungen; diese lösten aber keine Zwangshandlungen aus sondern Rückzug, Isolation und sogar Panikattacken

Rituelle Waschungen verlieren auf Grund ihrer Wiederholbarkeit eine mögliche Verankerung im episodalen Gedächtnis und damit ihre erlebnisintensive Kraft. Demgegenüber lag die eigentliche Aussage bei der Taufe nicht in der Taufhandlung, sondern in der Sündenvergebung und Umkehr[45] bzw. im  neu Lebendigwerden[46].  Theißen erinnert an dieser Stelle an Analogien in den antiken Mysterienkulten, in denen symbolisch Todeserfahrungen simuliert werden (aber nicht nur symbolisch wenn man an ägyptische Einweihungsriten wie das Durchschwimmen eines unterirdischen Krokodilbeckens denkt[47]).

Van Gennep hingegen zieht eine Parallele zum Attis-Kult, in dessen Initiationsriten das künftige Kultmitglied nach Reinigungsfasten und Nahrungsaufnahme aus einem heiligen Gefäß in eine Grube hinabstieg und über ihm ein Stier geopfert wurde, von dessen Blut  überströmt es wieder herauf kam; mehrere Tage wurde es – wie ein neugeborenes Kind – ausschließlich mit Milch genährt. Van Gennep schreibt: „Den Blutritus interpretiert man gewöhnlich als Taufe im christlichen Sinne, d. h. als Vergebung der Sünden. Diese Interpretation beruht jedoch auf der Aussage neuzeitlicher Informanten (Clemens von Alexandria, Firmicus Maternus usw.). Mir scheint dagegen der Ritus ursprünglich eine unmittelbare, stofflich-konkrete Bedeutung gehabt zu haben: der Neophyt stieg blutüberströmt aus der Grube heraus, wie das Neugeborene blutüberströmt aus dem Körper seiner Mutter hervorkommt.“[48]

Theißen sieht im Gefolge von Röm 6 in der Taufe eine dreifache, nämlich rituelle (Unreinheit durch Todesnähe), soziale (Bruch mit väterlichen Autoritäten) und ethische (Taufe als symbolische Selbsttötung) Tabuverletzung. Versuche, die Taufe im Sinne von nur einer Waschung zur Vorbereitung für etwas anderes durch Geistverleihung, Glossolalie, Beschneidung oder visionäre Schau zu überbieten, waren nicht erfolgreich, berichtet Theißen. Sie wurde als Todestaufe zu einem endgültigen Übergang (weswegen viele sie bis kurz vor den Tod aufschoben).[49]

 

  1. Abendmahl als Opfer oder Mahnung

Wenn Theißen drei Gruppen von Opfer-Theorien zitiert, nämlich Gabentheorien, in denen das Opfer ein  Geschenk an die Gottheit darstellt, Kommunionstheorien, in denen es ein Bindungsakt der Opfergemeinschaft ist, und  Aggressionstheorien, in denen der Vernichtungsakt der Opfermaterie dominiert, fügt er an: „Um göttliche Macht für sich aktivieren zu können, muss der Opfernde die Grenze zwischen Profanem und Heiligen überschreiten und zwischen beiden Sphären vermitteln.“ Opfer stünden immer an der Stelle der opfernden Person, jede Gabe sei daher ein Stück Selbsthingabe.[50] In den Kommunionstheorien erhielten die Götter die Gaben nur in fiktiver Weise,  möglicherweise weil sich die Menschen mit der Gottheit und dem Tier verwandt wussten da die Götter wie auch das Totemtier als Ahnen der Stämme angesehen wurden, „so dass man in Gestalt des Tieres letztlich die Kraft der Gottheit zu sich nahm“.[51]

Sigmund Freuds Interpretation des Abendmahls als zwanghaft inszenierte Sühnehandlung der Urhorde wegen des Mordes am übermächtigen Vater, sieht Theißen als Verwandlung von unsozialen in kooperative Menschen[52]. In seiner immer wieder angeführten „Grundtatsache des Lebens“, dass Leben auf Kosten anderer lebt, betont Theißen, dass das eine Leben geopfert werden muss, damit das andere davon Lebensgewinn hat: „Es eignet sich in irgendeiner Weise die Lebenskraft des anderen an.“[53] Sich die Lebenskraft anderer einzuverleiben, kann oral geschehen, durch Blutbäder aber auch durch Tragen von Haut, Haar und Zähnen und anderen „Reliquien“.

Ich  selbst sehe aber auf Grund meiner psychotherapeutischen Erfahrung weniger die Parallele zur Anthropophagie, wie sie auch Theißen mit Hinweis auf Joh 6, 52 – 54 zitiert[54], sondern zur Nährung des Säuglings durch die Mutter bzw. Amme, wie auch Piero Camporesi weiß, wenn er das „Geheimnis zur Verlängerung des Lebens“ in Erinnerung ruft, in der „der Tod eine Metamorphose des Organischen und des Fleisches, der Übergang von einer Qualität in die andere“ und damit „notwendiges Instrument der Kontinuität, der  Erneuerung und des unaufhörlichen Neu-geboren-Werdens des Lebens“ darstellt[55] und weiterführend  berichtet: „Der menschliche Samen (der Überschuss, der geheime Überfluss des Ernährungsprozesses) wurde jenem exkrementalen Bereich zugerechnet, in dessen höheren Sphären sich auch die Muttermilch befand: ,cum lac nihil aliud sit, nisis sanguis optime concocrus’ …“[56]. Ähnliche Sichtweisen berichtet der französische Ethnologe Maurice Godelier über die als Geheimnis tabuisierte Initiation zehnjähriger Knaben bei den Baruya in  Papua-Neuguinea, die, sobald sie das Männerhaus betreten haben, mit dem Sperma der Älteren ernährt werden, weil „das Sperma der Männer die Fähigkeit verleiht, die Knaben außerhalb des Bauches ihrer Mutter, außerhalb der weiblichen Welt, noch einmal zu gebären, diesmal in der Welt der Männer und durch sie allein.“[57]

Der Vater-Gott habe das Blut und das grausame Opfer der Kreuzigung seines Menschen-Sohnes gefordert, damit die Sünden der Menschen „losgekauft“ und durch diesen „Kaufhandel“ getilgt würden, wäre gegenwärtig die häufige Interpretation, meint die Mythologieforscherin Ingeborg Clarus (1917 – 2003) und setzt die Jesusworte dagegen, dass es unvermeidbar wäre, ohne Ärger zu erregen, durchs Leben zu kommen (Lk 9, 20 – 24). Sie schreibt: „In solchen. Situationen, in denen wir ausgelacht, totgeschwiegen, oder um unserer Überzeugung willen durch die in unserer Zeit geltende Lebensanschauung und Kultur geschädigt werden, macht Jesus (die menschliche Inkarnation Gottes und deshalb ,Gottes Sohn’) deutlich, dass es unausweichlich notwendig ist, diese Leiden und den symbolischen Tod auf vielen Stufen unseres Lebens anzunehmen, wenn es je gelingen kann, dass der endgültige Tod ,überwunden’, also transzendiert wird. Denn nur im Durchgang durch den Tod ist die ,Auferstehung’ möglich, und das ist die Wandlung in eine neue Lebensform.“[58] (Clarus weist dabei auch darauf hin, dass dieser Durchgang zum „Reich Gottes“ einem „Nadelöhr“ gleicht, das durch allzu großen materiellen Reichtum versperrt wird (Lk 18,18 – 17), wenn dieser zum Lebensinhalt wird.[59])

Im Vergleich mit den traditionellen Opfern enthielt das Abendmahl zwei Regelwidrigkeiten, schreibt Gerd Theißen: einerseits wurde es, obwohl es ein Sühnopfer war (bei solchem das Sühnopfer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, nur der Priester davon  essen darf und der Rest außerhalb der Gemeinschaft verbrannt wird) , wie ein Gemeinschaftsopfer verzehrt (bei dem alle gemeinsam essen) – andererseits wurde dabei symbolisch Blut genossen.[60]

Auch wenn im Judentum Blut als Träger der Lebenskraft einem Speisetabu unterlag, im antiken Griechenland hingegen als Heilmittel (gegen Epilepsie!) eingesetzt wurde, und andere Völker, wie Theißen schreibt, das Tabu des Blutgenusses nicht kannten[61], lohnt es sich, Parallelen im Frühmittelalter zu beachten. „Der  Geschmack am Blut durchdrang die Gesellschaft früherer Tage in ihrer Gewalt, ihrer Grausamkeit, ihrem Exzess: von der Geburt bis zum Tode gehörten Anblick und Geruch des Blutes fest zum persönlichen und gesellschaftlichen Leben eines jeden.“, betont der italienische Literaturprofessor und Anthropologe Piero Camporesi (1926 – 1997), und erinnert, dass die Leute Aderlässe an sich durchführen ließen, „um Veränderungen in sich zu bewirken oder um sich am Ende des Jahreszeitenzyklus rituell zu reinigen“.[62]  Was aus heutiger Sicht vielen nur als Kraftverlust denkbar scheint, hat immer auch im Gegensatz Krafterneuerung bedeuten können. „Nach dem Erlöschen der hämatischen Kultur erinnert sich die postindustrielle, aseptische, anämische und hämaphobe Gesellschaft nur mehr dann an das Blut (an jenes der anderen eher als an das eigene), wenn diese warme, vitale, ständig in Bewegung befindliche Flüssigkeit – ein perfekter Zeitmesser, der jede Minute aufs Neue seinen rhythmischen, zyklischen Lauf zu Ende führt – zu einem Träger neuer, unbekannter Gefahren wird, zum Verbreiter unkontrollierter Leiden, zum Gegenstand untergründiger und dunkler Ängste.“, klagt Camporesi, und setzt fort: „So weist auch die moderne Welt von heute eine fast sakrale (oder magische) Beziehung zum Blut auf. Die Abscheu vor dem Blut entspricht einem latenten Verlangen nach Blutvergießen, einem gewaltsamen Drang nach Blutfluss.“ [63] Denn, „Die versunkene Kultur des Blutes (das Wissen um seine Vorzüge und Geheimnisse, seine Qualitäten, sein integratives Maß oder seine abstoßende Unmäßigkeit) sah im Aderlass eine evacuatio universalis, eine große und notwendige Spülung oder Reinigung des Blut-Lebens, eine Erneuerung des Lebenssaftes, eine ,universalis medicina omni passionis ex plenitudine’, durch welche nicht nur die verdorbenen Säfte, sondern auch die passiones, die Verursacher von Leiden und von physio-psychologischem Ungleichgewicht beseitigten.“ [64]

Blutgenuss war deswegen verboten, weil das Blut zur Sühne bestimmt war (Lev 17,11 f). Tabubrüche sind jedoch konstitutiv für Riten: „Im virtuellen Raum des Ritus können die vertrauten Normen der Alltagswelt aufgehoben werden.“[65] Die Frage stellt sich: von wem? Jede Gemeinschaft enthält Herrschaftselemente, meist ausgehend von einem charismatischen Gründer, der durch Offenbarungen und Wunder, innovative Ideen und Gedanken, abweichende Lebensformen und Rituale außeralltägliche Macht ausübt.[66] Dabei ergibt sich als Grenzfall aus dem Wesen charismatischer Einflussnahme auf andere die Stigmatisierung: „Wer  für etwas in den Tod geht, demonstriert, dass er von seiner Wahrheit überzeugt ist und moralisch stärker als die, die ihn vernichten. Martyrium ist aber nur eine extreme Form von Selbststigmatisierung.“[67]

„Blut dient der Inklusion und der Exklusion von Menschen“, zeigt Christoph Wulff auf, „sei es bei Blutsverwandten oder beim blauen Blut, beim Blut der Beschneidung oder dem Menstruationsblut.“ Welche Bedeutung dem Blut zukomme, hänge vom imaginären Charakter des Blutes ab und dies sei eine Frage der Kontingenz.[68] Dazu zähle ich auch  die von Theißen zitierte „Aura von Geheimnis und Gefahr“ zu, von denen die urchristlichen Sakramente umgeben waren, und die dazu führten, dass das Charisma des Gründers auf das Ritual selbst übergingen, und nur Personen mit besonderer „Heiligkeit“ – mit besonderem „Amts-Charisma“ – diese Rituale leiten sollten.[69] Ergänzend stelle ich dem ein Zitat der Oxforder Anthropologieprofessorin Mary Douglas (1921 – 2007) gegenüber, die schreibt: „Die sakramentale Religiosität setzt eine geistige Einstellung voraus, die äußeren Formen einen hohen Wert beimisst und ihnen eine besondere Wirksamkeit zuschreibt.“[70]

 

  1. Sekten

Wie innere Bilder im Hirn eines einzelnen Menschen können auch kollektive Vorstellungen in einer Gemeinschaft entstehen und somit neu eindringende Erkenntnisse nutzbar machen – oder aber auch rigide werden und Neues abschotten, betont Gerald Hüther.[71]  Pluralität nach innen und ein entspanntes Verhältnis nach außen seien aus soziologischer Sicht das Kriterium von Kirchen, habe also eine inklusive Sozialstruktur.[72] Unterschiede in Glaubensüberzeugungen könnten leicht ertragen werden, aber Unterschiede im Rituellen spalten.[73] Ich sehe darin den Unterschied zwischen zu Hörendem und zu Sehendem. Mary Douglas betont: „Die Wirksamkeit der Sakramente ist … eine innere, die Wirksamkeit magischer Riten dagegen etwas Äußerliches.“[74]

Formalität sieht Mary Douglas als Index für soziale Distanz; formale Verhaltensweisen würden umso höher bewertet, je stärker die Rollenstruktur der betreffenden Gesellschaft ausgeprägt ist. (Dazu zählt sie vor allem die Kontrolle des Körpers und seiner Bedürfnisse.)[75] Sogar die Freiheit, sich vollkommen ungezwungen und formlos zu geben, unterliege gesellschaftlicher Kontrollen. Sie bezieht sich dabei auch auf so genannte Erweckungsbewegungen, bei denen beobachtet werden kann, dass dort Emotionen als Trancen, Glossolalien, Ganzleibszittern und andere Ausdrucksformen von Inkohärenz und Dissoziation aufs höchste gesteigert seien,  jede Art formaler Reglementierung aber heftig bekämpft werde; im allgemeinen ginge diese Begeisterungsphase in eine Phase von Sektenbildung über und könne sich sogar als Standardform religiöser Aktivität erhalten, vorausgesetzt, „dass das Niveau der sozialen Organisation hinreichend niedrig und das Rollenmuster der Gesellschaft hinreichend unstrukturiert ist“.[76] Zum Ritual geworden geben sich derartige wiederholte Enthusiasmen den Anschein, sie seien „natürlich“, mahnt Christoph Wulff, und daher schon immer so vollzogen worden, und verdeckten damit ihren historisch-kulturellen Charakter und damit prinzipielle Veränderbarkeit und die darin inszenierten sozialen Hierarchien und Machtverhältnisse.[77]

In ihrem Buch über Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg bezieht sich Barbara Ehrenreich auf „das relativ unblutige Geschäft der ,Imagination’, um die Konstruktion gemeinsamer Sprachen und ,Traditionen’ usw.“,  mit denen man sich gegen andere differenziert. Sie schreibt: „Der einzelne Soldat in diesen Armeen weiß, dass er von Mächten aus der Ferne bedroht wird, von Ausländern, die ihm den Tod wünschen. Er weiß auch, dass er als Einzelner dieser Bedrohung hilflos gegenübersteht. Er ist aber nicht einfach ein Einzelner, er ist – wie ihm vor allem das ständige Exerzieren beigebracht hat – Teil von etwas Größerem und Mächtigerem. Er empfindet infolgedessen etwas ganz anderes als das in Massengesellschaften verbreitete Gefühl, nur ,einer von vielen’ zu sein, weil in diesem Fall die vielen insgesamt etwas Größeres bilden als die Summe der Teile. Er spürt das Selbstvertrauen, das sich auf kollektive Stärke stützt und auch noch angesichts der Todesgefahr zu einer Art Freude werden kann.“[78] Diese Mentalität gilt meiner Ansicht nach auch für „Soldaten Gottes“. Denn: durch Ritualisierungen werden Größenverhältnisse sichtbar, und deshalb wird der außen sichtbaren Sekte strategisch begegnet.

  

  1. Literatur:

Balint Michael, Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse.  München 1988

Bauer Joachim, Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone.  Hamburg 2005/ 06

Braun Christina von / Wulf Christoph (Hg.), Mythen des Blutes.  Frankfurt/ M. 2007

Camporesi Piero, Das Blut.  Symbolik und Magie.  Wien 2004

Clarus Ingeborg, Das Opfer. Archaische Riten modern gedeutet.  Düsseldorf 2005

Douglas Mary, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industrie und Stammeskultur. Frankfurt / M.  1974/ 98

Ehrenreich Barbara, Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg. München 1997

Gendlin Eugene, Focusing. Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Salzburg 1981

Goller Hans, Religiöses Erleben und Hirntätigkeit. Eine Auseinandersetzung mit der Neurotheologie. In: Müller T. / Schmidt T. (Hg.), s. u.

Grinder J. / Bandler R., Therapie in Trance. Hypnose: Kommunikation mit dem Unbewussten. Stuttgart 1984

Hüther Gerald, Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen 2004/ 11

Lurija Alexander R., Romantische Wissenschaft. Forschungen im Grenzbezirk von Seele und Gehirn. Reinbek 1993

Melchizedek Drunvalo, Die Blume des Lebens, Band II,  Burgrain 2005

Morris Desmond, Körpersignale – Bodywatching. München 1986

Müller Tobias / Schmidt Thomas M. (Hg.), Ich denke, als bin ICH? Das Selbst zwischen Neurobiologie, Philosophie und Religion.  Göttingen 2011

Perner Rotraud A. (Hg.), Zuliebe zu Leide. Über die Möglichkeit und Unmöglichkeit kindlicher Erotik.  Bad Sauerbrunn 1991

Ptak-Wiesauer Eva, Das geheime Treiben der „Wilden“. Zur Anthropologie sexueller Erziehung. In: Perner R. A. (Hg.), s. o.

Singer Wolf, Ich denke, also bin Ich? In: Müller T. / Schmidt T. (Hg.), s. o.

Theißen Gerd, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums.  Gütersloh  2000/ 2008

Theißen Gerd, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums. Gütersloh 2007

Van Gennep Arnold, Übergangsriten – Les rites de passage.  Frankfurt / M. 1986

Wolinsky Stephen, Die alltägliche Trance. Heilungsansätze in der Quantenpsychologie.  Freiburg / B. 1993/ 96

Wulff Christoph, Blut, Ritual und Imagination. In: Braun C. v. / Wulff C. (Hg.), s. o.

 

Fußnoten

[1] G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, S. 343

[2] W. Singer, Ich denke, also bin ICH? S. 19

[3] W. Singer, s. o., S. 16

[4] J. Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst, S. 26 ff

[5] A. Lurija, Romantische Wissenschaft, S. 70 f

[6] A. Lurija, s. o., S. 75 f

[7] A. Lurija, s. o., S. 79

[8] A. Lurija, s. o., S.80 ff

[9] A: Lurija, s. o., S. 82

[10] G. Theißen, s. o., S. 344 f

[11] A. van Gennep, Übergangsriten, S.  21

[12] A. van Gennep, s. o., S. 60

[13] A. van Gennep, s. o., S. 157

[14] G. Theißen, s. o., S.  347

[15] G. Theißen, s. o., S. 348

[16] A. van Gennep, s. o., S. 163

[17] G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, S. 23

[18] G. Theißen, s. o., S. 218

[19] J. Grinder / R. Bandler, Therapie in Trance, S. 75

[20] J. Grinder / R. Bandler, s. o.,  S. 211

[21] J. Grinder / R. Bandler, s. o., S. 77

[22] S. Wolinsky, Die alltägliche Trance, S. 202

[23] S. Wolinsky, s. o., S. 203

[24] G. Theißen, s. o., S. 219

[25] G. Hüther, Die Macht der inneren Bilder, S. 9

[26] G. Hüther, s. o., S. 11

[27] H. Goller,  Religiöses Erleben und Hirntätigkeit, S. 191

[28] A. van Gennep, s. o., S. 165

[29] M. Balint, Die Urformen der Liebe, S. 216

[30] M. Balint, s. o., S.  214

[31] G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, S. 541

[32] E. Gendlin, Focusing, S. 21

[33] E. Gendlin, s. o., S. 71

[34] E. Gendlin, s. o., S. 77

[35] G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, S. 174 f

[36] D. Morris, Körpersignale, S. 104

[37] D. Morris, s. o., S. 103

[38] I. Clarus, s. o., S. 159

[39] G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, S. 347

[40] H. Goller, s. o., S. 193

[41] G. Hüther, s. o., S. 25

[42] G. Theißen, s. o., S. 353

[43] G. Theißen, s. o., S. 356

[44] G. Theißen, s. o., S. 354 f

[45] G. Theißen, s. o., S. 357

[46] G. Theißen, s. o., S. 360

[47] D. Melchizedek, Die Blume des Lebens II, S.  267 ff

[48] A. van Gennep, s. o., S. 94

[49] G. Theißen, s. o., S. 364 f

[50] G. Theißen, s. o.,  S. 214

[51] G. Theißen, s. o., S. 215

[52] G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, S. 375

[53] G. Theißen, s. o., S. 373

[54] G. Theißen, s. o., S. 372

[55] P. Camporesi, s. o., S. 134 ff

[56] P. Camporesi, s. o., S. 136

[57] E. Ptak-Wiesauer, Das geheime Treiben der „Wilden“, S.  82

[58] I. Clarus, Das Opfer, S. 154 f

[59] I. Clarus, s. o., S. 157

[60] G. Theißen, s. o., S. 367

[61] G. Theißen, s. o., S. 369

[62] P. Camporesi, Das Blut, S. 49

[63] P. Camporesi, s.o, S. 21

[64] P. Camporesi, s. o., S. 49 f  (Kursivsetzungen im Original)

[65] G. Theißen, s. o., S. 369

[66] G. Theißen, s. o., S. 385

[67] G. Theißen, s. o., S. 386

[68] C. Wulff, Blut, Ritual und Imagination, S. 17

[69] G. Theißen, s. o., S. 389

[70] M. Douglas,  Ritual, Tabu und Körpersymbolik, S. 21

[71] G. Hüther, s. o., S. 80 f

[72] G. Theißen, s. o., S. 402

[73] G. Theißen, s. o., S. 397

[74] M. Douglas, s. o., S. 22

[75] M. Douglas, s. o., S. 107

[76] M. Douglas, s. o., S. 111

[77] C. Wulff, s. o., S. 19

[78] B. Ehrenreich, Blutrituale, S. 239