Rotraud A. Perner
22-03-2012
Schweigerecht und Anzeigepflicht
1. Vorerst soll zwischen den „absoluten“ Verschwiegenheitspflichten von Geistlichen im seelsorgerlichen Kontext („Beichtgeheimnis“) und PsychotherapeutInnen / PsychiaterInnen in der therapeutischen Behandlung und den „relativen“ Pflichten zur Amtsverschwiegenheit bzw. den Schweigepflichten von Lebens- und SozialberaterInnen, MediatorInnen und anderer Sozial-, Gesundheits- und pädagogischer Berufe, von denen im Einzelfall „entbunden“ werden kann, sowie von Anzeigepflichten unterschieden werden.
Dass „alles in Ausübung eines Amtes“ Bekanntgewordene nicht an Dritte weitergegeben werden darf, wird (bzw. sollte) bei Amtsantritt (z. B. Mitarbeit in einer Beratungsstelle) schriftlich festgehalten (werden).
2. In welchen Situationen kann es zu Problemen mit der Verschwiegenheitspflicht kommen?
Abgesehen von trivialen Konfliktsituationen, in denen man „von außen“ bedrängt wird, die Interessen der bedrängenden Person oder Institution mit Auskünften zu unterstützen oder in denen Wissen „von innen“ so belastet, dass man sich bedrängt fühlt, es „sub rosa“ weiterzugeben (was eine Supervisionsindikation wäre), treten derartige innerseelische Konflikte auf, wenn es darum geht, drohende Eigen- oder Fremdschädigungen zu verhüten.
So ist nach § 286 StGB strafbar, wer eine unmittelbar bevorstehende oder schon begonnene Ausführung einer Vorsatztat nicht verhindert oder dem Bedrohten oder der Behörde nicht mitteilt, und die nicht verhinderte Tat zumindest versucht wurde und mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist.
Gemäß § 286 Abs. 2 Z. 2 StGB ist die Unterlassung der Verhinderung gerechtfertigt (nach aM entschuldigt), wenn ein Seelsorger von der bevorstehenden oder schon begonnenen Tat nur durch eine Mitteilung Kenntnis erlangt hat, die ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist. (Potz / Schinkele: 91) In diesem Fall ist das „schützenswerte Gut“ das Vertrauensverhältnis der Person, die an ihrer „Beziehung zu Gott“ arbeitet.
Hinzuweisen ist auch auf § 74 StGB, worin klargestellt wird, dass Seelsorger als solche nicht unter den Beamtenbegriff des StGB fallen. Sie können aber von Strafrechtsnormen, die sich speziell auf Beamte beziehen, dann erfasst sein, wenn sie zugleich in einem Beamtenverhältnis zu einer öffentlichen Körperschaft stehen (zB Lehrer an einer öffentlichen Schule). (Kalb / Potz / Schinkele: 263)
Von derartigen Kenntnissen aus der seelsorgerlichen Arbeit zu unterscheiden sind Informationen oder auch Vermutungen von Straftaten, die aus dem schulischen Unterricht oder der Pfarrverwaltung stammen. Erfahrungsgemäß handelt es sich dabei meist um Verdacht von sexuellen Miss-Handlungen oder Ankündigung von massiver Schadenszufügung an eigenem oder fremden Leib und Leben.
In der schulischen Berufsausübung bekannt gewordene oder vermutete Sexualdelikte an Jugendlichen sind nach derzeitiger Rechtslage jedenfalls dem Jugendamt zu melden, das über eine allfällige Anzeige bei der Polizei bzw. Gericht oder andere Schutzmaßnahmen für die bedrohte Person entscheidet.
Ist es eine geistliche Person, gegen die ein gerichtliches Strafverfahren eingeleitet bzw. rechtskräftig beendet wurde oder die in Haft genommen wurde, ist nach § 12 ProtestantenG 1961 die Evangelische Kirchenleitung, das zuständige Bundesministerium sowie der Landeshaupotmann des jeweiligen Bundeslandes ohne unnötigen Aufschub zu verständigen. (Kalb / Potz / Schinkele: 556)
Das Problem der Drittanzeigepflicht = Offenbarungsbefugnis bzw. –pflicht, wenn eine Straftat verhindert werden könnte, erweist sich aber vor allem als ethisches Problem, da auch wenn derartige traditionelle Schutzbestimmungen für Geistliche die seelsorgerliche Betreuung einer delinquenten Person höherwertig bestimmen als die Anforderungen der staatlichen Strafjustiz bzw. Gesellschaft, keiner Person der Prozeß dieser Rechtsgüterabwägung abgenommen werden kann.
Im Gegensatz dazu wird von PsychotherapeutInnen erwartet, dass sie mit allen Regeln ihrer Kunst auf die gefährdende bzw. auch gefährdete Person einwirken, die zur Verhütung von Fremd- oder Selbstschädigung vorgesehenen Institutionen aufzusuchen.
3. Verfahrensrechtlich steht der Verschwiegenheitspflicht das Zeugnisentschlagungsrecht gegenüber.
Geistliche – ungeachtet des rechtlichen Status der Religionsgemeinschaft – dürfen in Straf-, Zivil-, Verwaltungs- und Abgabeverfahren sowie in Verfahren vor dem VfGH und dem VwGH nicht als Zeugen vernommen werden bezüglich dessen, was ihnen in der Beichte oder sonst unter dem Siegel der geistlichen Amtsverschwiegenheit anvertraut wurde. Eine Verletzung dieser Bestimmung stellt im Strafprozess einen Nichtigkeitsgrund dar, in den anderen Verfahren einen Berufungsgrund.
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- 144 Abs. 1 StPO idf StrafprozessreformG 2004 enthält eine Verbot für die Umgehung dieser Bestimmung durch den Einsatz von besonderen Ermittlungsmaßnahmen. Insbesondere ist eine optische oder akustische Überwachung von Geistlichen unter der Verwendung technischer Mittel in Beichtstühlen und in zur geistlichen Aussprache bestimmten Räumen unzulässig. (Potz / Schinkele: 91)
Der Schutz der geistlichen Amtsverschwiegenheit muss auch in Hinblick auf den „großen Lauschangriff“ gemäß § 149 d StPO gewahrt werden. (Kalb / Potz / Schinkele: 264)
Entscheidend ist das Anvertrauen im Hinblick auf die Tätigkeit als Geistlicher. Hinsichtlich der darüber hinausgehenden Kenntnisse sind auch Geistliche zur Zeugenaussage verpflichtet. Unzulässig ist die Ablegung des Zeugnisses auch dann, wenn sich der Geistliche zur Aussage bereit erklärt. Zulässig ist jedoch die Ladung des Geistlichen vor Gericht sowie die Beeidigung darüber, dass das, worüber er die Aussage verweigert, unter die geistliche Amtsverschwiegenheit fällt.
Ob der Gegenstand der Vernehmung in das Beichtgeheimnis oder sonst unter die geistliche Amtsverschwiegenheit fällt, hängt in der Regel von der glaubhaften Versicherung des Geistlichen ab. Denn es muss grundsätzlich demjenigen, dem das Gesetz die Zeugnisablegung verbietet, ein Urteil darüber zustehen, ob die gestellte Frage seine Amtspflicht berührt oder nicht. (Kalb / Potz / Schinkele: 263)
Als Geistliche im Sinn dieser Bestimmung sind jene Personen zu verstehen, die gemäß der eigenen Ordnung ihrer Religionsgemeinschaft – unabhängig von deren Rechtsstatus – in besonderer Weise zu religiösen Vollzügen oder seelsorgerlichen Betreuung befähigt sind. (Kalb / Potz / Schinkele: 264). Gemäß § 19 OdGA (Ordnung des geistlichen Amtes der Evangelischen Kirche A u HB in Österreich) sind das in der Evangelischen Kirche alle Ordinierten. Abgrenzungen zu zB Pastoralassistenten können dabei schwierig sein.
4. Vergangenheit und Gegenwart
Das „signum confessionis“ (Beichtsiegel) findet als eine der ältesten Rechtsvorschriften seinen Ursprung in einem Beschluss des IV. Laterankonzils 1215 und ist in Canon 983 § 1 CIC festgehalten; seine Verletzung wird mit Exkommunikation bestraft. (Zum Umgang der Römisch-Katholischen Kirche mit Missbrauchsverdacht vgl. Perner R. A. (Hg.) 2010).
In weiterer Folge wurden analog dazu Verschwiegenheitspflichten gemäß dem Stufebau der Rechtsordnung für andere Berufe in minderrangigen „Medizinalordnungen“, „Pfarrdienstgesetzen“ festgeschrieben und finden sich heute durchgängig in Berufsgesetzen und Dienstordnungen. Dort werden sie auch auf Beschäftigte bzw. Zivildiener oder Dolmetscher von Verschwiegenheitspflichtigen ausgedehnt (u. U. auch auf Computertechniker, die bei Wartung und Reparatur Zugang zu geheimen Informationen erlangen könnten. Wehinger: 8).
5. Wozu überhaupt Verschwiegenheitspflichten?
Wehinger zitiert (mit Hinweis, die maskuline Sprachform als geschlechtsneutral zu verstehen): Unter Verschwiegenheitspflicht versteht man die Pflicht des Geheimnisträgers, alles von Geheimnisherrn (in weiterer Folge Klient) Anvertraute oder dem Geheimnisträger sonst im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit bekannt Gewordene dann nicht an Dritte mitzuteilen, wenn erkennbar ist, dass die Weitergabe die Interessen des Geheimnisträgers[1] verletzen würde. (Wehinger: 6), und:
Die Verpflichtung zur Verschwiegenheit beinhaltet überdies die Pflicht zu technischen und organisatorischen Vorkehrungen, die verhindern, dass vertrauliche Inhalte auch nur zufällig Außenstehenden bekannt werden. So sind – um einfache Beispiele zu nennen – Beratungs- und Warteräume zu trennen, um eine Wahrnehmung des Gesprächs außerhalb des Beratungsraums zu verhindern. (Wehinger: 7) Vor allem auch das Datenschutzgesetz 2000 bewirkt einen Anspruch auf Geheimhaltung personenbezogener Daten; Beschränkungen des Anspruch auf Geheimhaltung sind hingegen zur Wahrung überwiegend berechtigter Interessen anderer – vor allem staatlicher Behörden – zulässig. (Wehinger: 14 f)
Die Geltungsdauer der Verschwiegenheitspflicht unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung und umfasst sogar so genannte Drittgeheimnisse, also solche, die in den Intimbereich dritter Personen fallen.
Geheimnisse können als gute (zB künftige Beschenkungen) oder schlechte (Schweigepflicht als Bedrohung von Deliktsopfern) definiert werden.
Betrachtet man Geheimnisse unter dem Gesichtspunkt des Tabu, sollen sie ein hoch bewertetes Gut schützen (Perner 1998/ 2008). Dabei ist das „natürliche“ Tabu, dem man mit spontaner Ehrfurcht begegnet, vom „oktroyierten“ Tabu zu unterscheiden, das von Autoritäten strategisch errichtet wird. Bei Personen mit latentem Autoritätskonflikt findet man oft die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, zwischen beiden Sichtweisen zu unterscheiden.
So verlangt Jesus im Markusevangelium von seinen Jüngern Verschwiegenheit über seine Heilkraft, nur einer – Judas – hält diese Verpflichtung nicht ein.
6. Gefahren
Es besteht immer auch die Gefahr, dass Klienten beginnen, Verschwiegenheitspflichtige für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. (Wehinger: 12). Dies frühzeitig zu erkennen und Methoden der Gegenwirksamkeit zu kreieren, ist Aufgabe von psychosozialer Aus- bzw. Fort- und Weiterbildung und Supervision.
Vor allem auch in Hinblick auf behördliche Vernehmungen empfiehlt sich daher auch eine psycholinguistische Schulung zum Umgang mit Sprache (vgl. Perner 2007). Leider wird eine solche in Österreich nicht angeboten außer von der Autorin.
Aber auch die Schweigepflichtigen laufen Gefahr, in ihrer Güterabwägung – im „rechtfertigenden Notstand“ – allein ich-bezogen zu agieren und die berechtigten Schutzbedürfnisse der Klienten bewusst oder unbewusst nachrangig zu behandeln. Auch hier zeigt die Praxis, dass nur fachkundige, bevorzugt tiefenpsychologische, Supervision hilft, diese Tiefendimension eigenen Verhaltens aufzudecken und zu transformieren.
7. Literatur
Kalb H. / Potz R. / Schinkele B., Religionsrecht, Wien 2003
Perner R. A., Darüber spricht man nicht – Tabus in der Familie. Das Schweigen durchbrechen.
München 1998 / 2008
Perner R. A., Die Wahrheit wird euch frei machen – Sexuelle Gewalt im kirchlichen Bereich …
und anderswo. Prävention – Behandlung – Heilung. Wien 2006
Perner R. A. (Hg.), Missbrauch: Kirche – Täter – Opfer. Berlin 20101
Perner R. A., Wort auf Rezept. Matzen 2007
Potz R. / Schinkele B., Religionsrecht im Überblick. Wien 2007
Wehinger S., Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit Verschwiegenheit in sozialen Berufen.
(Hg. Vorarlberger Berufsverband Diplomierter Sozialarbeiter. Stand 2008. www.vorarlberg-sozialarbeit.at)
Wienand M. W., Psychotherapie, Recht und Ethik. Weinheim / Basel 1982
Fußnoten
[1] Wörtlich zitiert. M. A. nach sollte es hier aber „Geheimnisherr“ heißen. (RAP)