Rotraud A. Perner
29-04-2015
PREDIGT
zu Hes 34, 1 – 2(3 – 9), 10 – 16.31
Liebe Gemeinde!
Sie haben die Worte des Propheten Hesekiel gehört: Der HERR sagt: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Die sich selbst an allem wohl tun, was die Schafe hergeben, Fett, Wolle, Fleisch – nur den Schafen tun sie nicht wohl, ganz im Gegenteil! Wer nicht liefert, wird mit Gewalt niedergetreten.
Hirten – sie stehen hier für all diejenigen, die dafür sorgen sollen, dass es den ihnen Anvertrauten gut geht, vor allem wenn diese besonderer Fürsorge bedürfen: Schwache und Kranke, Gebrochene – wir können noch viele Schwächen ergänzen: Arbeitslose, Arme, vor allem aber die, die aus der Herde ausbrechen um ihres Überlebens willen. Flüchtlinge. Bei Hesekiel heißt es: meine Schafe irrten auf allen Bergen umher und auf allen hohen Hügeln. Und über das ganze Land – und wieder können wir ergänzen: und über das ganze Mittelmeer – sind meine Schafe zerstreut worden, und es ist niemand , der nach ihnen fragt, und niemand, der sie sucht.
Hesekiel lebte in der Zeit des Untergangs Jerusalems. Er gehörte zu den Deportierten, die in die babylonische Gefangenschaft mussten. Was geht uns das heute an? Er ist ein Warner vor Fehlverhalten – Vergangenem aber auch Künftigen. Da könnte schon die Frage auftauchen: was geht uns das heute an?
Aber erleben wir nicht gerade jetzt wieder solch ein Umherirren, solch ein zerstreut-Werden und Opfer wilder Tiere werden – diesmal eben im Wasser, und Entscheidungsträger, die nicht wagen, schlechten Hirten entgegen zu treten. Wir brauchen aber gar nicht Richtung Mittelmeer zu schauen – auch im österreichischen Süden entdecken wir Hirten, die sich selber geweidet haben – und täglich lesen wir in der Tageschronik von Eltern, die ihren Kindern keine guten Hirten sind sondern deren Knochen zerbrochen und danach nicht gewagt haben, Hilfe zu suchen – aus Angst, aus Unwissenheit, aber auch aus mangelndem Vertrauen. Und manchmal auch aus Lähmung, Nichtverstehen – oder weil die Zeit zu kurz war, um zu begreifen, was Not-wendig wäre.
Aber wie geht es uns selbst, wenn wir mit Notlagen anderer konfrontiert sind?
Mich hat vor einigen Tagen eine ehemalige Studentin kurz vor Mitternacht angerufen und aus dem Schlaf gerissen: ein Klient von ihr hatte ihr soeben telefonisch seine Selbsttötungsabsicht mitgeteilt, und sie war ratlos, verwirrt, wusste nicht, was jetzt die richtige Reaktion wäre: sie wisse ja nicht, wo er sei – er sprach von einer Almhütte – ihr Versuch, ihn im Gespräch „zurück zu holen“ schien ihr nicht gelungen – sollte sie vielleicht seine Ehefrau verständigen – aber da würde sie ja die Schweigepflicht verletzen?
Zuerst spürte ich Verärgerung – der späte Anruf war ja schon lästig – und dann über die Zumutung, jemand beistehen zu sollen, mit der ich seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Und dann plötzlich die Erkenntnis: hatte ich nicht selbst vor noch viel längerer Zeit eine fast gleiche Herausforderung? Ging es nicht wieder darum, nach jemand zu fragen bzw. die Frage dorthin zu leiten, wo jemand sie beantworten konnte? Die Frage: Wo bist Du? Wo finde ich Dich und kann Dir beistehen, weil ich will, dass Du lebst? Plötzlich war mir klar, dass der Anruf wirklich zu mir gehörte!
Ich hatte mich damals für den Bruch der Schweigepflicht entschieden und den Ehemann meiner Klientin von der Suizidabsicht verständigt und die Vorwürfe deswegen aushalten müssen. Aber ich konnte nur bei dem bleiben, was ich in meinem Herzen gespürt hatte: Ich will, dass Du am Leben bleibst.
Liebe Gemeinde!
Siehe, ich selbst will nach meinen Schafen fragen und sie suchen, spricht der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Zerbrochene verbinden und das Schwache stärken.
Ist es nicht die Stimme des HERREN, die uns selbst zurück bringen will, wenn wir den Zwiespalt spüren zwischen unserer idealen Menschlichkeit und unserer bequemen? Liegt es nicht daran, dass wir uns oft erst daran gewöhnen müssen, dass wir uns freuen dürfen, wenn der HERR uns Fingerzeige gibt, wie wir aus Wirrnissen herausfinden können? Zuerst die Stimme des HERREN ins uns – nennen wir es Gewissen oder Gewissheit. Als „innerer Hirte“ „führet“ es uns „zu frischem Wasser“ – zur inneren Klarheit. Und es erquickt unsere Seele. Und ich werde ihnen einen einzigen Hirten erstehen lassen, der sie weiden soll, spricht der HERR, nämlich meinen Knecht David. Das bedeutet Ende des Zwiespalts, Ende der Verzweiflung.
Wenn Geschehnisse eintreten, bei denen sofort der Gedanke auftritt, „Wie wäre das, wenn es mich beträfe?“, neigen manche dazu, gleich von der Strafe Gottes zu sprechen. Aber geht es nicht eher darum, dass wir uns das zum Vorbild nehmen, was der HERR vorgibt, wenn er spricht: Wie ein Hirte sich seiner Herde annimmt, wenn er seine Schafe zerstreut antrifft, will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit der Düsternis und des Dunkels. will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten.
Wir sind nach seinem Ebenbild geschaffen und so können wir uns auch nach seinem Ebenbild verhalten und das heißt auch: die erretten, welche die Herde verloren haben aus welchen Gründen auch immer und zu welchen Zeiten – denn in Zeiten der Düsternis und des Dunkels, wir könnten auch sagen: der Depression und des Verlust des Lebensmutes brauchen wir Hirtenkompetenz, aktive wie passive, und die muss man erst lernen und einüben, und um etwas zu erlernen braucht man rechtschaffene Vorbilder.
Zwischen dem fetten und dem mageren Schaf zu richten ist Aufgabe derer, die dazu berufen sind. Eine schwere Aufgabe, die auch Anleitung und spirituelle Leitung braucht. Wer das aber nicht ist, gesellt sich denen zu – und verfehlt damit wohl auch die Hirtenaufgabe. Wir können nur bitten, unsere Aufgabe zu erkennen und die Kraft zu erhalten, sie dann halbwegs gut zu bewältigen.