Rotraud A. Perner
18-06-2012

Der Kirchenbau der Gegenwart

Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart

 

  1. Postmoderne Pluralität

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen immenser Vernichtung von Ressourcen – nicht nur Bausubstanz sondern auch Baumaterialien – kam es infolge der durch den Wiederaufbau bedingten Bündelung aller Kräfte auf materielle Wiederherstellung des Zustandes vor der Katastrophe ebenso zu einer geistigen Rückkoppelung; erst durch die kritische Stellungsnahme der so genannten 68er Bewegung und der Gedanken der Frankfurter Schule entwickelte sich ein progressives Selbstverständnis, das Zeichenhaftigkeit und architektonische Hervorhebung der Kirche ablehnte und sich in einem interdisziplinären Trend zur Entsakralisierung beobachten lässt.

Im Zuge der Erweiterung des Kirchen-Raumes auf multifunktionale Gemeindezentren ergibt sich eine Grundspannung zwischen öffentlichem Raum und Gemeinde-Raum (der oft auch mit Wohnzimmer-Atmosphäre ausgestattet wird)[1].

Im Hinblick auf den Platz im öffentlichen Raum besitzen Kirchen wie auch Gemeindezentren Orientierungscharakter aber auch Anspruch auf städtebauliche Präsenz („Wahrzeichen“[2]). Daraus ergibt sich die Debatte, wo im örtlichen Umkreis der Standort eines Kirchenneubaus sein soll. Weil Glaube vom Ansatz und Anspruch her nicht nur Privatsache sei, sei es sinnvoll, wenn es nicht nur private „Glaubenshäuser“ gäbe, betont Superintendent Paul Weiland, sondern dass diese Zentren und Orte des Glaubens öffentlich und sichtbar sind; es sei daher wichtig, dass Kirchen wieder im Zentrum bzw. Bereich des Lebensmittelpunkts der Menschen errichtet werden und nicht in den Randbereichen. Dies vor allem, weil sie im Gegensatz zu den Raum prägenden Bank-, Versicherungs- und Shoppingbauten auf die immaterielle Seite verweisen.[3] Kirchen dokumentieren, dass alle materiellen Dimensionen noch nicht das ganze Leben darstellen[4].

 

  1. Die Frage nach Zweck und Kosten

Materielle Dimensionen beeinflussen aber auch immer mehr die Möglichkeiten der Errichtung von Kirchen. Einerseits die abnehmende Zahl der Kirchenmitglieder führt zu Schließungen von Kirchen bzw. deren Freigabe zu anderen Nutzungen. Andererseits stellt sich die Frage, wie knapper werdende Ressourcen möglichst effizient eingesetzt werden können[5].

Schon die zunehmende Entsakralisierung bzw. Profanierung führte neben dem Verzicht auf unnötige Ausschmückungen und – nicht ganz freiwilliger – ökonomischer Kostenbewusstheit auch zu einer verstärkten Neudefinition als „dienende Kirche“ etwa im Engagement für Entwicklungshilfe.

Helmut Braun sieht nach 1945 ein „ernüchternd“ weites Auseinanderklaffen von Quantität und Qualität künstlerischer Gestaltung und sieht die Gründe oft im finanziellen Bereich, weil vor allem bei der künstlerischen Ausgestaltung gespart wird[6].

 

  1. Hierarchie der Werte

Diese soziologisch-psychologisch kritische Haltung gegenüber Machtdemonstrationsformen der Vergangenheit – „das Hierarchische und Hyperhierarchische, das den Laien ausschließt“[7] – betrifft auch den Kirchenbau und führt zu spannungsgeladenen Diskussionen, einerseits überhaupt auf Kirchen (und auch sinnliche Äußerungsformen und Symbole) zu verzichten und durch schlichte Versammlungsräume zu ersetzen (Darmstädter Kirchenbautagung 1969),  später dazu noch Multifunktionalität anzupeilen, andererseits ergab eine „evaluierende“ Studie, dass sich Gemeindemitglieder für den Gottesdienst „echte Kirchen“ und „mehr sakrale Atmosphäre“ wünschten[8].

Atmosphäre ist im Zuge der der Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Ästhetisierung ein zentraler Diskussionsgegenstand geworden, schreibt Kerstin Wittmann-Englert, war es aber nicht in den 1950er bis 70er Jahren[9]. Durch die Profanierung als Konsequenz nichtliturgischer Nutzungen vermindert sich das Numinose, mit dem ja eine gewisse „Transzendenzerwartung“ verbunden sei, die auch durch die Abgeschlossenheit des kirchlichen gegenüber dem weltlichen Bereich unterstützt wird. Gegenüber dieser „geschlossenen Zeichensysteme“ mit vorgegebener Interpretation stehen multifunktionale Räume ohne sakralarchitektonische Besonderheit als zeichenbasierte, subjektzentrierte Assoziationsträger, die Befindlichkeiten und Stimmungen wecken UND mitten in der Welt stehen.[10]

Die Frage nach der Atmosphäre reicht auch an die Frage der „Hierarchie der Werte“[11]; sie betrifft die Mitwirkung von weiteren bildenden Künstlern im Kirchenraum. In den 1920er Jahren wurde Kunst als „Fundament einer Kultur“ (und nicht bloßes Anhängsel) verteidigt[12]. Nach dem Zweiten Weltkrieg  sei eine Tendenz zur Beschränkung auf das Wesentliche festzustellen, schreibt Burkart, weil Kunst kein notwendiges Element zur Feier des eucharistischen Opfers darstellt. Man schüttle daher das „äußerlich Gewordene“ und „aus dem menschlichen Dazugewachsene“ ab. Das selbständige Bildwerk als Kultbild finde sich nur mehr als Hängekreuz (oder Vortragekreuz), allerdings in Hinblick auf die Aufgabe, die Lage des Altars im Raum zu fixieren.

Auch die Malerei habe andere Aufgaben erhalten: sie führe entweder zum Altar hin oder unterstütze im Zentralbau das Umschlossenwerden der Gemeinde durch die Architektur. Burkart deutet dabei auf die Gefahr hin, dass so ein „verkapptes Altarbild“ den Altar überdecken und vom liturgischen geschehen ablenken kann. Aber, „Anders ist es, wenn die Malerei auf der Altarrückwand von oben hereinbricht als Zeichen des Reiches Gottes …“ [13]

 

  1. Gefahren

„Liegt es daran, dass die Werke eines Künstlers, weil sie sich nicht mehr durch ihre Begegnung mit der Umwelt oder durch ihr Thema unterscheiden, leicht der Gefahr erliegen, immer Variante eines Themas, nämlich des eigenen Ich des Künstlers zu sein?“ fragt Albert Burkart. „Ist es die Angst, sich zu wiederholen, die den Künstler heute von Formexperiment zu Formexperiment springen lässt?“, und er antwortet: Er hat die Anregung des optischen Erlebnisses der Natur aufgegeben und verfällt nun der Vergötzung des Materials und der Mache.“[14]

 

  1. Memorandum zum Verhältnis der Kirche zur bildenden Kunst der Gegenwart

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat 1993 das beigefügte Memorandum zustimmend zur Kenntnis genommen und gibt diesen Impuls aus dem Kuratorium des Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an die Gliedkirchen weiter. Er bittet diese, nach Maßgabe der eigenen Verhältnisse und Möglichkeiten der Förderung bildender Kunst der Gegenwart in der Kirche weiter und verstärkt Beachtung zu schenken.

Vorgelegt vom Kuratorium des EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart:

Stärker als vor einigen Jahren ist die bildende Kunst in den Blickpunkt des zeitgenössischen Bewusstseins gerückt. Grossaustellungen wie die documenta in Kassel melden Rekordbestellungen. Insbesondere die zahlreichen Museumsbauten der achtziger und neunziger Jahre in Westdeutschland erfreuen sich eines regen Publikumsverkehrs.

Der Grund für das wachsende Interesse an der Kunst der Gegenwart liegt u. a. darin, dass man in den Kunstwerken einem unverbrauchten Angebot hinsichtlich der Fragen nach Sinn, Symbol, Mythos, Lebens- und Weltdeutung zu begegnen hofft. In Kreisen einer neuen Bildungsschicht wird der Umgang mit Kunst bereits zu einer Art Ersatzreligion[15].

Aktuell fühlt die künstlerische Leiterin der documenta, Carol Christov-Bakargiev, von der 2 m hohen Skulptur eines Mannes mit ausgebreiteten Armen in weißem Hemd und schwarzer Hose auf einer goldenen Kugel stehend in der Freifläche des benachbarten Glockenturms, geschaffen von Stephan Balkenhof, sich und ihr Ausstellungskonzept „bedroht“. Demgegenüber verteidigt Thomas Erne, Direktor des evangelischen Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, diese Initiative der katholischen Kirche: das documenta-Konzept sähe ja vor, aus allen möglichen Perspektiven auf die Gegenwartskunst zu blicken – warum also nicht aus der Sicht der Religion?[16].

 

  1. Inspirierter Kirchenbau in Niederösterreich: Waidhofen / Thaya und Hainburg / Donau

Überblickt man die Kirchenbauten der 1980er und späteren jahre, findet man kaum etwas Innovatives. Es zeigt sich im Außen vor allem das Zeltmotiv; im Innen hat sich die Zentrierung von Kanzel, Altar und Taufstein stabil gehalten.

Da die Atmosphäre eines Raumes wesentlich durch den Energiefluss sprich  Lichteinfall bestimmt wird, zeigt sich neuerdings ein Abgehen von den Lichtbändern der Zeltkirchen zu Lichtkuppeln. Dies schient mit den verkleinerten Grundflächen – auch einem Kostenfaktor – der  Kirchenareale zusammen zu hängen.

Besonders die von COOP Himmelblau gebaute Martin-Luther-Kirche in Hainburg an der Donau mit ihren drei UFO-artigen metallischen Lichtkuppeln lässt das Licht direkt von oben auf die Kirchenbesucher herabströmen, während die Glasfront zur Strasse durch eine Holzwand mit  einem ausgesparten Kreuz und kreisrunden Öffnungen Sicht- und Lichtverbindung zur Alltagswelt schafft. In dieser Kirche befindet sich mit dem integrativen dunklen Kanzel- und Altarblock-Tisch ein bildhauerisches Kunstwerk mit hohem Assoziationswirken[17]. Sie könnte mit ihren vielfältigen Werkstoffen und ihrem zeigefingerartig in den Himmel ragenden Metall- Campanile den Zelt-, Schiff- und Wohnung-Typen des 20. Jahrhunderts[18] einen neuen Prototyp anbieten.

 

  1. Verwendete Literatur:

Albert Burkart: Die Kirche. Der Ort für den Künstler von heute. In: Kirchenbau heute. Haus Gottes – Haus der Gemeinde. S. u.

Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des religiösen.  Insel Verlag, Frankfurt/ M.  Leipzig 1998.

Constantin Gegenhuber: Gebaute Gebete. Christliche sakrale Architektur – Neubauten in Österreich 1990 – 2011. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2011.

Hans-Peter Hübner/ Helmut Braun (Hg.): Evangelischer Kirchenbau in Bayern seit 1945. Deutscher Kunstverlag, Berlin München 2010.

Angelika Nollert/ Matthias Volkenandt/ Rut-Maria Gollan / Eckhard Frick (Hg.): Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2011.

Klaus Raschzok: Orte der „Begegnung der Gemeinde mit dem lebendigen Gott“. In: H.-P. Hübner / H. Braun (Hg.) s. o.

Hugo Schnell: Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Dokumentation. Darstellung. Deutung. Verlag Schnell & Steiner, München Zürich 1973.

Gunther Seibold: Evangelischer Kirchenbau zwischen Sakralgebäude und Mehrzweckraum. http://www.kirchenbau.de/5/gsarbeit/5_gsboli.htm, abgerufen am 10. 6. 2011.

Paul Weiland: Kirchengebäude – eine Bereicherung des Alltags. Bislang unveröffentlichter Beitrag für die vor seinem Tod geplant gewesene Festschrift zum 65. Geburtstag von Metropolit Staikos.

Kerstin Wittmann-Englert: Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne. Kunstverlag Josef Fink,  Lindenberg/ Allgäu 2006.

Kirchenbau heute. Haus Gottes – Haus der Gemeinde. Lizenzausgabe mit Genehmigung der Zeitschrift „Das Münster“ (kirchliche Druckerlaubnis Würzburg 19. 5. 1962). Arena-Bild-Taschenbuch 1962.

 

Fußnoten

[1] K. Raschzok. In: H.-P. Hübner / H. Braun (Hg.) 2010, S. 62 f.

[2] H. Schnell  1973, S. 75

[3] P. Weiland, unveröffentl. Manuskript, S. 3

[4] P. Weiland, s. o., S. 8

[5] P. Weiland, s. o., S. 1

[6] H. Braun. In: H.-P- Hübner / H. Braun (Hg.) 2010, S. 83

[7] H. Schnell  1973, S. 183.

[8]  Diese Befragung von Gemeindemitgliedern zur Eignung von Mehrzweckräumen für den Gemeindegottesdienst wurde seit 1971 vom Institut für Kirchenbau in Marburg  durchgeführt (Seibold 1996, S. 15 von 33).

[9] K. Witmann-Englert 2006, S.  178.

[10] K. Witmann-Englert 2006, S. 180

[11] A. Burkart  1962, S. 62.

[12] H. Schnell  1973, S. 38.

[13] A. Burkart 1962, S. 63.

[14] A. Burkart 1962, S. 50.

[15] http://www.kirchenbautag.de/recherche/vortraege-und-texte/text-archiv-des-instituts/andere-texte/verhaeltnis-der-kirche-zur-kunst.html, abgerufen am 7. 6. 2012

[16] http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=3412572, abgerufen am 3. 6. 2012

[17] C. Gegenhuber 2011, S. 132 ff.

[18] K. Wittmann-Englert 2006, S. 11