Rotraud A. Perner
03-05-2012
Im Fokus: Der “öffentliche Raum”
Zur Kultur von Reue, Beichte/ Schuldbekenntnis und Vergebung in Kirche, Gesellschaft und im privaten Bereich
Jörn Rüsen schreibt „Über den Umgang mit Orten des Schreckens“, es böten sich für die Bearbeitung der Frage kollektiver Schuld – er wählt als heftigstes Beispiel den Holocaust – drei traditionelle Präsentationsstrategien für „Überreste“ an:
- als Museum,
- als Denkmal oder
- als Friedhof.
In jedem Fall ersetzt die nachträgliche Deutung die Präsenz des zu Deutenden (hier: des Traumas).
Daraus erhebt sich die Frage, welche Sinnbildung durch Ausgestaltung der konkreten Schreckensorte erzielt werden soll.
Rüsen schreibt, Überreste enthielten meist keine Deutungsangebote, daher müssten sie durch besondere kulturelle Tätigkeit für Erinnerung gegenwärtig gehalten werden.
Allerdings ändert jeder Eingriff den Gesamteindruck, je nachdem, ob kognitive, politische oder ästhetische Dimensionen (Denken – Willen – Fühlen + Schauen) dominieren. Daher gestalten politische, moralische, didaktische, religiöse und weltanschauliche Imperative ebenso mit wie es auch historische Forschung bzw. wissenschaftliche Interessen könn(t)en.
Daraus ergibt sich der Streit um die Macht zur Symbolisierung: wer hat die besseren Argumente für welche Wahrheit – wer ist legitimiert – wer bietet die richtige Orientierung – und wer darf den Glauben an Heilsgewissheit vermitteln …
Je nach Funktion unterscheiden sich Gedenkstätten als Orte der
- authentischen Dokumentation; zur kognitiven Aneignung tritt die „auratische Erfahrung“ hinzu. Rüsen meint, dies setze jedenfalls einen Sinn-Input voraus. Denn kognitiv seien Relikte immer nur Informationsträger, ästhetisch könne ihnen bereits ein Element der Bedeutung (und damit auch von Propaganda, ja sogar Fiktionalem) anhängen.
- Interpretation und Erklärung (Verdinglichung und Vermarktung am Beispiel abgeschnittener Haare – damit auch die Verdeutlichung der Polarität von Tätern und Opfern; dabei entsteht die Gefahr, durch ausschließliche Sicht auf die Leidensperspektive der Opfer die Sicht auf die strukturellen zB bürokratischen und gruppendynamischen Bedingungen des Massenmordes zu verfehlen.) und
- damit die Herausforderung, den eigenen Standort (Verantwortung, Scham,…) zu erkennen, auf den die politischen und moralischen Appelle hinlenken wollen.
- Lernchancen, die eine „überzeugende“ Botschaft vermitteln wollen, und
- ästhetischen Repräsentation. Bei ihr erhebt sich auch die Frage von Restaurierungen.
Diese Vielgestalt von Herausforderungen birgt aber auch vielfältige Interessenskonflikte (und Gefahr weiterer Verletzungen von Menschenwürde) – vor allem den Streit um die Legitimation der Bezugnahme und Identifikation.
Ich sehe darin eine Wiederholung des Grundkonflikts von Spaltung, Entmenschlichung und Vernichtung („Wiederholungszwang“, „Parallelprozess“).
Rüsen sieht die Lösung in Trauerarbeit, die er als nicht „rein emotionale Angelegenheit“ verteidigt, sondern der er auch kognitive und politische Elemente und Funktionen aufweist.
Betrauern zielt ja nicht nur auf die Bewältigung von persönlich-privaten Verlusterlebnissen, sondern kann sich auch auf Überindividuelles beziehen – eben zB auf den Verlust der Qualität der Humanität.
Rüsen plädiert daher, den Holocaust-Gedenkstätten den Charakter eines Friedhofs zu geben, um den Opfern im Gedenken ihre Würde zurück zu geben; gleichzeitig müsste aber deren üblicher Eindruck von Versöhnung und Frieden vermieden werden um das Mordgeschehen nicht als „normal“ zu verfälschen. Deshalb wären die gegenwärtige Erfahrung von Leere und Einsamkeit, auch Verfall geeignet, einen individuellen Zugang zu respektvoller Trauerarbeit zu ermöglichen.
Dokumentations- und Interpretationsarbeit hingegen sollte getrennt in eigenen Räumlichkeiten stattfinden. Sie kann auch Zeugnis von Menschlichkeit, Solidarität wie auch Widerstand und Märtyrertum thematisieren ohne die historische Last zu schmälern, sondern die Vielfalt der Zusammenhänge offenbaren, die verhindern, sich mit Berufung auf Kontingenzen von Betroffenheitserfahrungen zu distanzieren.
Die Frage Rüsens, wie die psychische Kraft des Trauerns so aktualisiert und kanalisiert werden könne, dass sie auch Geschichtsbewusstsein im Sinne des „Nie wieder!“ bewegt, eröffnet m. A,. einen Parallelprozess von Manipulation, den ich ablehne.
Ich befürworte daher Projektarbeit von Nachgeborenen, die ihre eigenen Zugänge konzipieren und dann anderen präsentieren.